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Frank Decker: Bundestagswahl 2017
Info aktuell 31 / 2017 Informationen zur politischen Bildung
Rechtliche Grundlagen der Bundestagswahl
Die Bundestagswahlen seit 1949: Parteiensystem und Koalitionen
Die Bundestagswahl 2013 und ihre Folgen
Was hatte zum Wahlsieg der Union 2013 geführt?
Koalitionsvertrag und Regierungspolitik der Großen Koalition 2013-2017
Die Wahl 2017 –Was ist zu erwarten?
Politische Stimmung und die Entwicklung des Parteiensystems
Koalitionspolitische Ausgangslage vor der Bundestagswahl 2017
Am 24. September 2017 wird zum 19. Mal der Deutsche Bundestag gewählt. 61,5 Millionen Wahlberechtigte, darunter rund drei Millionen Erstwählerinnen und Erstwähler, sind nach vier Jahren dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben, den Deutschen Bundestag zu wählen und damit die zukünftige Bundesregierung zu bestimmen. Aber wie läuft die Bundestagswahl eigentlich genau ab? Was war gleich nochmal ein Überhangmandat? Welche Themenwerden den Wahlkampf bestimmen?
Und warum ist Wählen in der Demokratie überhaupt so wichtig? Diese Ausgabe vermittelt Grundwissen zur anstehenden Bundestagswahl, erläutert ihre Grundprinzipien und beantwortet die wichtigsten Fragen zum Ablauf. Der Autor blickt zudem auf die vergangene Legislaturperiode zurück und analysiert die Ausgangslage vor der Wahl 2017. So trägt diese Infoaktuell dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig vor der Wahl mitreden und spätestens am Wahltag mitbestimmen können, wer die nächsten vier Jahre in Deutschland regieren soll.
picture alliance / Michael Kappeler/dpa
Am 24. September 2017 wird der Deutsche Bundestag zum 19. Mal gewählt. Die Wahl verspricht aus mindestens drei Gründen so spannend wie kaum je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik zu werden.
Erstens gibt es ein offenes Rennen um die Kanzlerschaft. Sah es bis zu Beginn des Jahres noch danach aus, als könne die Union, bestehend aus CDU und CSU, unter der Amtsinhaberin Angela Merkel ihre Rolle als stärkste politische Kraft sicher verteidigen, haben die Sozialdemokraten seit der Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten anders als 2009 und 2013 eine realistische Chance, wieder selbst die Regierung anzuführen.
Zweitens ist momentan nicht absehbar, welcher Koalition Merkel oder Schulz vorstehen werden. In einer Koalitionsdemokratie muss nicht automatisch die stärkste Partei oder Fraktion den Regierungschef stellen. Welche Parteien nach der Wahl zusammengehen, ließ sich in der Bundesrepublik zu früheren Zeiten immer verlässlich eingrenzen, weil die Parteien ihre Koalitionspräferenzen vor der Wahl deutlich machten. Unter den Bedingungen eines Fünf oder Sechsparteiensystems tun sie besser daran, solche Festlegungen zu vermeiden – so wünschenswert diese aus der Sicht der Wählerschaft sein mögen. Auch 2013 war keineswegs sicher, dass es erneut zu einer Großen Koalition kommen würde. Die Bildung einer schwarzgrünen Koalition scheiterte damals an den Grünen, die – auch wegen ihres schwachen Wahlergebnisses – letztlich nicht bereit waren, das Bündnis mit der Union zu wagen.
Was die Wahl zu einer außergewöhnlichen macht, sind drittens die Umstände, unter denen sie stattfindet. Eine neue Ära der Unsicherheit und Instabilität scheint in Europa und der westlichen Welt angebrochen zu sein, die bisherige Gewissheiten in Frage stellt. Dass rechtspopulistische Parteien in Kernländern der Europäischen Union wie Frankreich oder Österreich in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit gelangen könnten, hätte vor zwei oder drei Jahren kaum jemand für möglich gehalten – ebenso wenig wie einen Sieg des „Nichtpolitikers“ Donald Trump bei der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl oder den von populistischen EU-Gegnern befeuerten „Brexit“ in Großbritannien. Unterstützt von einem strukturellen Wandel der Öffentlichkeit und der Medien, fordern diese Kräfte das politische und gesellschaftliche Establishment in einer bis dato nicht gekannten Weise heraus. Auf die Globalisierung antworten sie mit Forderungen nach einer „Schließung“ unserer offenen Gesellschaften und einer Rückkehr zur vertrauten Nationalstaatlichkeit.
Eine Mauer in einem Park, auf die mit Graffiti „Say No 2 EU“ gesprüht wurde.
Auch in der Bundesrepublik ist der Rechtspopulismus inzwischen angekommen. Die Etablierung der erst 2013 gegründeten „Alternative für Deutschland“ (AfD) stellt möglicherweise eine Zäsur in der Entwicklung des Parteiensystems dar. Was die SPD in ihrer Regierungszeit in den 1970er- und 2000er-Jahren zweimal erfahren musste – dass mit den Grünen und der Linkspartei innerhalb des eigenen Lagers neue Konkurrenten entstehen, wiederholt sich jetzt bei der Union. Nachdem die AfD bei der Bundestagswahl 2013 noch knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert war, ist es ihr bei den darauf folgenden Landtagswahlen gelungen, in die Parlamente einzuziehen. Die massive Kritik an der Bundesregierung in der im September 2015 einsetzenden sogenannten Flüchtlingskrise bescherte ihr überall zweistellige Ergebnisse, in den ostdeutschen Ländern Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern erreichte sie sogar jeweils über 20 Prozent. Auch wenn die Zustimmungswerte mit Beginn des Wahljahres 2017 etwas nachgelassen haben, sehen die bisherigen Umfragen die AfD sicher im kommenden Bundestag.
Selbst ohne eine starke AfD ist davon auszugehen, dass die Themen Flucht und Asyl sowie Innere Sicherheit in der Wahlauseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen werden. Treten die in den Wahlkämpfen normalerweise dominierenden sozial und steuerpolitischen Themen durch sie in den Hintergrund, wäre das vor allem für die Sozialdemokraten ungünstig, die sich gerade auf diesen Gebieten als Alternative zur Union profilieren wollen. Auch die Außen und Europapolitik könnte bedeutsamer werden als bei früheren Wahlen.
Nachdem die SPD zu Beginn der Legislaturperiode registrieren musste, dass die von ihr in der Koalition durchgesetzten sozialpolitischen Maßnahmen kaum zu erhöhten Umfragewerten beitrugen, ruhen ihre Hoffnungen jetzt auf Martin Schulz. Als Herausforderer der Bundeskanzlerin und neuer Parteivorsitzender erfährt er eine hohe Zustimmung sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Gesamtwählerschaft.
Vor der Bundestagswahl finden noch zwei Landtagswahlen statt – in Schleswig-Holstein am 7. Mai und in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai. Eine wichtige Signalfunktion dürfte insbesondere von der Wahl in Nordrhein-Westfalen ausgehen, wo sich die rotgrüne Landesregierung unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft um eine dritte Amtszeit bewirbt.
Eröffnet wurde das Wahljahr am 12. Februar mit der Wahl des Bundespräsidenten. Nachdem Joachim Gauck erklärt hatte, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten, konnte die SPD Außenminister Frank Walter Steinmeier als neues Staatsoberhaupt durchsetzen. Da Angela Merkels Bemühungen scheiterten, einen Kandidaten aus den Reihen der Union oder einen gemeinsamen schwarzgrünen Kandidaten zu finden, wurde Steinmeier in der Bundesversammlung auch von der CDU, der CSU, den Grünen und der FDP unterstützt.
Der deutschen Bundestagswahl gingen bzw. gehen zudem wichtige Wahlen in anderen europäischen Ländern voraus. In den Niederlanden ist im März ein neues Parlament gewählt worden, in Frankreich finden im April/Mai Präsidentschaftswahlen und im Juni die Wahlen zur Nationalversammlung statt. Insbesondere diese Wahlen entscheiden darüber, welchen Einfluss populistische und EU-feindliche Kräfte zukünftig haben werden und welche Richtung die künftige europäische Politik einschlagen wird. Damit dürften sie auch den anschließenden Bundestagswahlkampf beeinflussen.
In einer Demokratie geht „[a]lle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt“, wie es im Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) heißt. Wahlen und Abstimmungen haben dabei nicht den gleichen Rang. Wahlen sind in einer Demokratie unabdingbar, während es sich bei den als Abstimmungen bezeichneten direktdemokratischen Verfahren um ein „optionales“ Element der Verfassungen handelt. In den deutschen Ländern und Kommunen sind diese Verfahren, mit denen die Bürgerinnen und Bürger selbst bestimmte Fragen verbindlich entscheiden können, heute überall vorgesehen. Auf der Bundesebene beschränken sie sich auf den in der Praxis wenig bedeutsamen Fall einer Neugliederung der Länder (Art. 29 GG).
Legitimationsfunktion: Wahlen leisten die für eine Demokratie unverzichtbare Rückführung politischer Herrschaft auf den Willen derjenigen, die der Herrschaft unterworfen sind. Sie sichern die Kontrolle der Herrschaftsunterworfenen über die Herrschenden und gewährleisten durch ihre regelmäßige Wiederkehr die Zeitbegrenzung politischer Herrschaft, die für die Demokratie wesentlich ist.
Kreationsfunktion: Aus Wahlen gehen die politischen Leitungsorgane hervor, in einer parlamentarischen Demokratie also eine funktionsfähige Volksvertretung. Diese ist ihrerseits in der Lage, eine funktionsfähige Regierung einzusetzen und die für das Gemeinwesen wesentlichen Entscheidungen zu treffen.
Selbst undemokratische Systeme verzichten nur ungern auf Wahlen. Denn sie wollen und können damit zumindest den Anschein erwecken, dass ihre Macht auf der Zustimmung der Bevölkerung beruht. Demokratische Wahlen setzen allerdings voraus, dass sich Präferenzen innerhalb der Gesellschaft frei entfalten können, dass Parteien sie zu unterschiedlichen programmatischen und personellen Angeboten bündeln und dass diese Angebote in der Wahlauseinandersetzung fair miteinander konkurrieren. Der Wettbewerb ist dabei an das Mehrheitsprinzip als demokratische Spielregel gebunden. Seine Funktionsfähigkeit beweist sich daran, dass Regierungswechsel möglich sind.
Auch in den etablierten Demokratien gibt es Zweifel, ob und wie gut die Wahlen die genannten Funktionen und Prinzipien weiterhin erfüllen. Rückläufige Wahlbeteiligungen, sinkende Mitgliederzahlen der Parteien und der wachsende Zuspruch für rechte und linke Protestparteien belegen den Ansehensverlust der repräsentativen Institutionen. Autoren wie der Sozialwissenschaftler Colin Crouch führen die Krise der Demokratie auf eine Aushöhlung ihrer zentralen Prinzipien zurück. Wahlen, Parteienwettbewerb und die Gewaltenteilung blieben zwar nach außen hin weiter intakt. Sie hätten aber immer weniger Einfluss auf die Entscheidungen, welche vielmehr die Regierungen und mächtige Interessenvertreter weitgehend autonom untereinander aushandelten.
Eine mildere Version der Kritik beklagt das Fehlen echter Entscheidungsalternativen. Die Parteien würden sich in ihren grundlegenden Zielen und Angeboten, Probleme zu lösen, kaum noch unterscheiden. Gleichzeitig bildeten sie dort, wo es um ihre eigenen Interessen gehe, zum Beispiel bei der Parteienfinanzierung, ein Machtkartell. Der Populismus stelle eine Reaktion auf diese Tendenzen dar.
Empirische Untersuchungen weisen zudem auf eine wachsende soziale Ungleichheit der Wahlbeteiligung hin. So lag beispielsweise der Anteil der Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2013 in der untersten Einkommensgruppe mehr als fünfmal so hoch wie in der obersten (39 gegenüber 7 Prozent). Auch die jüngeren Altersklassen beteiligen sich nur unterdurchschnittlich. Unter Demokratiegesichtspunkten ist das prekär, weil damit auch die Interessen dieser Gruppen im politischen Prozessweniger beachtet werden: Wer nicht wählen geht, läuft Gefahr, dass seine Interessen nicht repräsentiert werden. Manche Autoren, wie der Politikwissenschaftler Armin Schäfer, befürworten aus diesem Grund die Einführung einer Wahlpflicht.
Grafik: Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen nach Altersklassen
Die Grafik zeigt die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen von 2002 bis 2013 nach Altersklassen.
Die rechtlichen Grundlagen der Bundestagswahl sind im Grundgesetz, im Parteiengesetz (PartG), im Bundeswahlgesetz (BWahlG) und in der Bundeswahlordnung (BWO) festgelegt. Auch bestimmte Aspekte der Regierungsform wie die Dauer der Legislaturperiode werden vom Wahlrecht umfasst. Der Begriff wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig mit dem „Wahlsystem“ gleichgesetzt, das aber nur einen Teilaspekt des Wahlrechts umschreibt. Das Grundgesetz begnügt sich damit, allgemeine „Wahlrechtsgrundsätze“ festzulegen, die den demokratischen Charakter der Wahl gewährleisten sollen. Gemäß Art. 38 Abs. 1 sind dies die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit der Wahl, zu denen sich als weiterer, aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2009 abgeleiteter Grundsatz die Öffentlichkeit der Wahl gesellt. Zu unterscheiden ist zwischen dem Recht, an der Wahl teilzunehmen (aktives Wahlrecht), und dem Recht, sich als Kandidat aufstellen und wählen zu lassen (passives Wahlrecht).
Die Allgemeinheit der Wahl verlangt, dass das Wahlrecht allen Bürgern offensteht. Ausnahmen sind nur mit Blick auf Alter, Sesshaftigkeit, Mündigkeit und – durch richterlichen Beschluss – schwere Straftaten zulässig. Strafgefangene dürfen ansonsten zwar wählen, können das Recht aber de facto kaum ausüben. Das Wahlalter liegt seit 1970 bei 18 Jahren. Dies gilt sowohl für das aktive wie das passive Wahlrecht. Einige Bundesländer haben das aktive Wahlalter bei Kommunal- und/ oder Landtagswahlen inzwischen auf 16 abgesenkt.
Im Jahre 2013 wurde das Wahlrecht der im Ausland lebenden Deutschen neu geregelt. Deutsche, die im Ausland leben, dürfen seit 2013 wählen, sofern ihr Wegzug nicht mehr als 25 Jahre zurückliegt und sie seit dem 14. Lebensjahr mindestens drei Monate in Deutschland verbracht haben.
Das Wahlrecht ist an die Staatsangehörigkeit gebunden. Ausnahmen gibt es bei den Kommunal- und Europawahlen, bei denen auch in Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten wahlberechtigt sind. Der Einführung eines allgemeinen Kommunalwahlrechts für dauerhaft im Lande lebende Menschen aus Nicht-EU-Staaten hat das Bundesverfassungsgericht 1990 einen Riegel vorgeschoben. Dies hat zugleich Folgen für die im Parteiengesetz geregelte Kandidatenaufstellung zu den Bundestags- und Landtagswahlen, an denen im Unterschied zu den sonstigen Parteiwahlen ebenfalls nur deutsche Staatsangehörige teilnehmen dürfen.
Die Allgemeinheit der Wahl verpflichtet den Gesetzgeber des Weiteren, für eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu sorgen. Dies wird durch ein dichtes Netz von Wahllokalen und ausreichend lange Öffnungszeiten bei der Urnenwahl (am Wahltag von 8–18 Uhr) sowie durch die Möglichkeit der (vorzeitigen) Briefwahl für alle, die nicht persönlich im Wahllokal ihre Stimme abgeben können, gewährleistet. Da die Freiheit und Geheimheit der Wahl bei der Briefwahl nicht hundertprozentig gewährleistet werden kann, hatte das Bundesverfassungsgericht an ihre Zulassung anfangs strenge Anforderungen geknüpft, die später gelockert wurden. Eine Briefwahl kann seit 2008 auch ohne die Angabe von Gründen beantragt werden. Der Anteil der Briefwähler ist entsprechend weiter gestiegen; bei der Bundestagswahl 2013 betrug er bereits 24,3 Prozent.
Die Grafik zeigt die Anzahl der Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme per Brief abgeben.
Picture-alliance / dpa Infografik, globus 11595
Auch Menschen mit Beeinträchtigungen muss die Teilnahme an der Wahl ermöglicht werden. Blinde und Sehgeschädigte können ihre Stimme mithilfe einer Stimmzettelschablone abgeben, die kostenlos vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) herausgegeben wird.
Unmittelbarkeit der Wahl bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger die Abgeordneten direkt wählen, es also kein zwischengeschaltetes Wahlgremium gibt (wie das Electoral College in den USA). Sowohl die Wahlkreis als auch die Listenkandidaten müssen vorab bekannt gemacht werden.
Die Freiheit der Wahl soll die Wählerinnen und Wähler vor Beeinträchtigungen ihrer Willensentscheidung schützen; sie müssen ihre Stimme ohne Druck oder Zwang von staatlicher wie nicht staatlicher Seite abgeben können. Zugleich verlangt der Grundsatz ein konkurrierendes Angebot von Parteien und Kandidierenden. In Parteien darf die Aufstellung nicht allein durch Entscheidung der Führungsgremien erfolgen. Bewerber, die unabhängig von einer Partei kandidieren möchten und das passive Wahlrecht besitzen, werden zur Wahl zugelassen, wenn sie die Unterstützung von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises nachweisen können.
Ob zur Freiheit der Wahl auch das Recht gehört, nicht zu wählen, ist umstritten. Eine gesetzliche Wahlpflicht, wie sie etwa in Belgien besteht, wäre zwar ein geeignetes Mittel gegen niedrige oder sinkende Wahlbeteiligungen; sie würde aber der deutschen Verfassungstradition widersprechen. Die Gleichheit der Wahl verlangt zum einen, dass jede Wählerstimme gleich viel wert ist und somit den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Bei Mehrheitswahlsystemen beschränkt sich diese Forderung auf den Zählwert der Stimme: Jede Stimme zählt genau gleich viel. Das Mandat gewinnt allerdings nur der Kandidat oder die Partei mit den meisten Stimmen.
Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten oder Parteien werden somit nicht in Form eines Mandats repräsentiert. In Verhältniswahlsystemen tritt ein sogenannter Erfolgswert hinzu, da auch die Stimme für eine nachrangig platzierte Partei bei der Mandatsverteilung berücksichtigt wird und nicht nur wie bei der Mehrheitswahl die Stimmen der erstplatzierten Partei zum Mandat führen.
Zum anderen muss zwischen denen, die sich dem politischen Wettbewerb stellen, Chancengleichheit herrschen. Sie dürfen bei den Wahlrechtsregelungen, bei der Parteienfinanzierung oder beim Zugang zu den Medien also nicht einseitig bevorzugt bzw. benachteiligt werden. Für die Regierung gilt ein striktes Neutralitätsgebot. Sie hat sich aus dem Wahlkampf herauszuhalten, der ausschließlich Sache der Parteien ist.
Geheimheit der Wahl bedeutet, dass niemand davon Kenntnis erhalten darf, wem eine Person ihre Stimme gibt. Bei der Urnenwahl wird das durch die geschützte Wahlkabine sichergestellt, bei der Briefwahl liegt es in der Verantwortung der Wählenden selbst. In die Bundeswahlordnung wurde zudem im März 2017 ein Passus aufgenommen, der das Filmen und Fotografieren, zum Beispiel mit dem Smartphone, in der Wahlkabine untersagt.
Das Prinzip der Öffentlichkeit soll gewährleisten, dass die Wahl ordnungsgemäß und nachvollziehbar verläuft – von den Wahlvorschlägen über die eigentliche Wahlhandlung (hier in Bezug auf die Stimmabgabe durchbrochen durch das Wahlgeheimnis) bis zur Ermittlung des Wahlergebnisses. Der Grundsatz beinhaltet auch, dass die Stimmabgabe im öffentlichen Raum stattfindet und dieWahl so als öffentliches Ereignis sichtbar wird. Eine vollständige Ersetzung der Urnen durch die Briefwahl wäre daher unzulässig.
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Bildunterschrift: Alle Stimmen zählen gleich viel: Stimmauszählung nach Schließung des Wahllokals
Bei Verletzungen dieser Grundsätze kann die Gültigkeit der Wahl angefochten werden. Die Wahlprüfung obliegt dem Bundestag, gegen dessen Entscheidung Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht möglich ist. Auch nachgewiesene Unregelmäßigkeiten (etwa bei der Stimmenauszählung oder der Aufstellung der Wahlbewerberinnen und -bewerber) machen eine Wahl nicht automatisch ungültig, sondern nur, wenn sie sich auf die Mandatsverteilung auswirken bzw. ausgewirkt haben. So musste – im bisher einzigen Fall – die Bürgerschaftswahl 1991 in Hamburg wiederholt werden, weil die Kandidatenaufstellung nicht ordnungsgemäß erfolgt war.
Das Bundesverfassungsgericht hat in die Wahlrechtsregelungen immer wieder korrigierend eingegriffen. Einschneidende Folgen hatte seine Rechtsprechung im Bereich des Wahlsystems, wo es beispielsweise die Fünfprozentklausel auf kommunaler Ebene und bei den Europawahlen aufhob. Im Anfang 2017 abgeschlossenen NPD-Verfahren folgte das Gericht zwar nicht dem Antrag des Bundesrats, die rechtsextreme Partei zu verbieten, hielt es aber – in einer Abkehr vom bisherigen Prinzip der strikten formalen Gleichbehandlung – für rechtlich möglich, ihr die staatliche Parteienfinanzierung zu entziehen. Und 2009 erklärte es die 2005 erstmals ermöglichte Stimmabgabe per Wahlcomputer für unzulässig, weil dieses Verfahren die Nachprüfbarkeit der Stimmzählung nicht sicher gewährleiste.
Das Wahlsystem ist Teil des umfassenderen Wahlrechts. Es regelt, wie die Wähler ihre Präferenzen für Kandidaten oder Parteien in Stimmen ausdrücken und wie diese Stimmen anschließend in Mandate, das heißt Parlamentssitze, übertragen werden. Drei Bereiche bzw. Aspekte sind hier vor allem bedeutsam: die Wahlkreiseinteilung, die Kandidatur und Stimmgebungsformen sowie die Stimmenverrechnung.
An Wahlsysteme werden unterschiedliche Funktionserwartungen herangetragen. Einerseits sollen sie im Sinne des Repräsentationsziels dafür Sorge tragen, dass die in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen und Interessen im Parlament annähernd spiegelbildlich (proportional) vertreten sind, andererseits die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit ermöglichen. Die Bundesrepublik hat sich auf Bundesebene wie in den Ländern für ein Verhältniswahlsystem entschieden, das dem erstgenannten Ziel Vorrang einräumt. Um eine übermäßige Zersplitterung der parlamentarischen Kräfteverhältnisse zu vermeiden, wird der Proporz allerdings durch eine Sperrklausel (Fünfprozenthürde) beschränkt. Damit soll die Mehrheitsbildung erleichtert werden. Für die Berechnung der Sitzzuteilung wird seit der Bundestagswahl 2009 das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren angewandt.
Grafik: Von der Wählerstimme zum Mandat: Sitzberechnung nach Sainte-Laguë / Schepers
Die Grafik erklärt die Sitzberechnung nach Sainte-Laguë/Schepers.
Bei Partei A ergeben sich abgerundet 5 Sitze, bei den Parteien B und C aufgerundet jeweils 3 Sitze.
Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbilder 086 131
Ein weiteres Ziel der Wahlsysteme besteht darin, den Bürgern die Möglichkeit zu geben, neben der parteipolitischen auch die personelle Zusammensetzung der Parlamente zu beeinflussen. Das Bundestagswahlsystem trägt dem Rechnung, indem es zwischen Wahlkreis und Listenkandidaten unterscheidet. 299 der (regulär) 598 Abgeordnetenwerden von den Bürgern in bevölkerungsmäßig etwa gleich großen Wahlkreisen direkt gewählt (Direktmandate). Das Mandat gewinnt, wer die meisten Stimmen erhält. Die restlichen Abgeordneten ziehen über die Landeslisten in den Bundestag ein. Die Reihenfolge der Kandidaten ist hier von den Parteien vorgegeben. Gewinnt eine Partei mindestens drei Direktmandate, wird ihr Zweitstimmenanteil auch dann in Parlamentssitze umgerechnet, wenn dieser unterhalb von fünf Prozent liegt.
Für die Wahl stehen den Wählerinnen und Wählern zwei Stimmen zur Verfügung. Mit der auf dem Wahlzettel links angeordneten Erststimme wählen sie den Wahlkreiskandidaten, mit der rechts angeordneten Zweitstimme die Partei. Dabei können sie die Stimmen „splitten“, indem sie zum Beispiel die Erststimme dem Kandidaten der Partei A geben, mit der Zweitstimme aber Partei B wählen. Der Anteil der Wähler, der von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, ist seit der Einführung des Zweistimmensystems im Jahre 1953 nahezu kontinuierlich gestiegen und lag bei der Bundestagswahl 2013 bei 24,5 Prozent.
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Die hälftige Aufteilung der Wahlkreis- und Listenmandate befördert das Missverständnis, das deutsche Wahlsystem sei eine Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahl. Tatsächlich richtet sich der Mandatsanteil der Parteien aber ausschließlich nach dem Ergebnis der Zweitstimmen. Das Wahlgesetz spricht daher zu Recht von einer „mit einer Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“. Nachdem feststeht, wie viele Mandate jede Partei insgesamt erhält, werden die direkt gewählten Abgeordneten auf diesen Anteil angerechnet. Dass die ausschlaggebende Bedeutung der Zweitstimme einem erheblichen Teil (rund 40 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger nicht geläufig ist, dürfte vor allem auf die irreführende Benennung „Erst- und Zweitstimme“ zurückzuführen sein. Dem Wahlsystemmangelt es insofern an Verständlichkeit.
Grafik: So funktioniert die Bundestagswahl
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Problematik der Überhangmandate: Die Verbindung von Wahlkreis- und Listenmandaten zieht noch eine andere gravierende Folge nach sich: die mögliche Entstehung von Überhangmandaten. Gewinnt eine Partei mit der Erststimme mehr Direktmandate, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen,
darf sie diese Mandate behalten. Der sich aus dem Zweitstimmenergebnis ergebende Proporz wird dadurch verzerrt. Kritiker sehen in den Überhangmandaten deshalb einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Eine Partei oder Parteienkoalition könne mit ihrer Hilfe eine Mehrheit der Sitze erlangen, ohne gleichzeitig über die Mehrheit der Wählerstimmen zu verfügen.
Waren die Überhangmandate bis zur deutschen Einheit nur sporadisch angefallen, hat sich ihre Zahl seither deutlich erhöht. Dies geschieht besonders dann, wenn der Zweitstimmenanteil der stärksten Partei durch die Konkurrenz der übrigen Parteien auf 30 Prozent oder weniger gedrückt wird, sie bei den Erststimmen aber einen Vorsprung von etwa fünf bis sieben Prozentpunkten vor der zweitstärksten Partei behält. Die hohe Zahl an Direktmandaten, die sie damit erlangen kann, wäre durch das Zweitstimmenergebnis dann vermutlich nicht mehr gedeckt.
Das Bundesverfassungsgericht, das sich mit dem Problem mehrfach befassen musste, hat die Überhangmandate in seinem jüngsten, vor der Bundestagswahl 2013 ergangenen Wahlrechtsurteil bis zu einer – auf 15 – festgelegten Grenze zwar weiterhin für zulässig erklärt. Die Parteien verzichteten aber auf eine Ausschöpfung dieses Spielraums und einigten sich stattdessen darauf, die Überhangmandate durch Zusatzmandate vollständig auszugleichen. Im Bemühen um eine perfekte Lösung schossen sie freilich über das Ziel hinaus: Die seit 2013 geltende Neuregelung führt dazu, dass für ein einzelnes Überhangmandat unter Umständen ein Vielfaches an Ausgleichsmandaten benötigt wird. (Bei der Bundestagswahl 2013 waren es 29 Zusatzmandate für lediglich vier Überhänge.) Simulationsrechnungen auf der Basis aktueller Wahlumfragen kamen Anfang 2017 zu dem Ergebnis, dass der kommende Bundestag so auf bis zu 700 Abgeordnete anwachsen könnte.
Wiederholte Mahnungen von Bundestagspräsident Norbert Lammert, die gegenwärtige Regelung der Überhangmandate zu ändern, fanden bei den Fraktionen wenig Gehör. Im April 2016 legte Lammert deshalb einen eigenen Vorschlag vor, der vorsah, die Mandate bei 630 zu deckeln und ab dieser Zahl keinen vollständigen Ausgleich mehr vorzunehmen. Dies stieß jedoch bei SPD, Grünen und Linken auf Ablehnung, weil es hinter den 2013 gefundenen Konsens zurückfiel. Umgekehrt war die Union nicht bereit, einer Verrechnung der Überhangmandate mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern zuzustimmen, weil einzelne Landesverbände dadurch stark benachteiligt worden wären. Außerdem hätte es in diesem Fall einer speziellen Lösung für die nur in Bayern wählbare CSU bedurft, deren Überhangmandate mit Listenmandaten der CDU nicht verrechnet werden können.
Eine nachhaltige Lösung, die das Problem der Überhangmandate bei der Wurzel packt, wäre ohnehin erst in der nächsten Legislaturperiode machbar, da sie einen kompletten Neuzuschnitt aller Wahlkreise erfordert. Zwei Varianten kommen nach Ansicht von Experten in Betracht. Entweder man reduziert den Anteil der Direktmandate auf 40 Prozent oder ein Drittel. Oder man bildet doppelt so große Wahlkreise, in denen statt einem zwei Direktmandate vergeben werden. Die Zahl der Wahlkreise würde sich dadurch halbieren, und in beiden Fällen könnten Überhangmandate praktisch nicht mehr entstehen, weil das Verhältnis direkt gewonnener Mandate zwischen den beiden großen Parteien ausgewogener wäre als derzeit. Die jeweils größere der beiden Parteien hätte dann – bei gleichem Wahlergebnis – weniger Direktmandate als im heutigen System mit Einerwahlkreisen, sodass diese durch das Zweitstimmenergebnis vollständig gedeckt wären.
Eine „große“ Wahlrechtsreform müsste außerdem das Zweistimmensystem auf den Prüfstand stellen. Denkbar wäre eine Rückkehr zum Einstimmensystem, bei dem Wahlkreis- und Parteienstimme zusammenfallen. Dieses System galt bei der ersten Bundestagswahl 1949. Kann darüber keine Einigung erzielt werden, empfehlen Kritiker, zumindest die missverständlichen Bezeichnungen „Erst- und Zweitstimme“ zu ersetzen.
Für die staatlichen Stellen beginnt die Wahl mit der Festsetzung des Wahltermins. Sie ist Aufgabe des Bundespräsidenten, der dabei einer Empfehlung der Bundesregierung folgt. Wahltag ist stets ein Sonntag. Das Grundgesetz bestimmt in Artikel 39, dass die Wahl frühestens 46 und spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahlperiode stattzufinden hat. Die Wahlperiode wird mit dem ersten Zusammentritt des neu gewählten Bundestags spätestens am 30. Tag nach der Wahl eröffnet. Als bevorzugter Wahlmonat hat sich der September etabliert.
Die oberste Zuständigkeit für die Vorbereitung und Durchführung der Wahl liegt beim Bundeswahlleiter, der vom Bundesinnenminister bestellt wird. In der Regel handelt es sich um den jeweiligen Präsidenten des Statistischen Bundesamtes. Der Bundeswahlleiter sitzt dem Bundeswahlausschuss vor. Dieser setzt sich zusammen aus acht wahlberechtigten Mitgliedern, die auf Vorschlag der Parteien ernannt werden, sowie zwei Richterinnen bzw. Richtern des Bundesverwaltungsgerichts. Der Ausschuss entscheidet unter anderem, welche Parteien zur Wahl zugelassen werden, und überprüft die Wahlvorschläge. Parteien, die im Bundestag oder einem Landesparlament mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, bekommen die Zulassung automatisch. Die anderen, sogenannten nicht etablierten Parteien müssen sie bis spätestens 97 Tage vor der Wahl beantragen und dabei zusätzlich eine bestimmte Zahl von Unterstützungsunterschriften hinterlegen.
Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuss arbeiten eng mit den 16 Landeswahlleitern und 299 Kreiswahlleitern zusammen, die für die Durchführung der Wahl in den Ländern und Wahlkreisen zuständig sind. Diese haben sich zum Beispiel um die Herstellung der Stimmzettel und Briefwahlunterlagen zu kümmern. Deren Bereitstellung bzw. Versand obliegt wiederum den Kommunen, die zugleich für die Ernennung der vor Ort – in den Wahllokalen – tätigen Wahlvorsteher und vorstände verantwortlich sind. Diese prüfen die Identität der Wählerinnen und Wähler anhand der Wählerverzeichnisse und tragen dafür Sorge, dass die formalen Vorschriften bei der Stimmabgabe eingehalten werden. Nach Schließung der Wahllokale zählen sie die Stimmen aus und übermitteln das Ergebnis der Gemeindebehörde, die es zusammen mit den Ergebnissen aus den anderen Stimmbezirken und dem Briefwahlergebnis an den Kreiswahlleiter weitermeldet.
Zur Aufgabe des Bundeswahlleiters gehört auch, die Wahl vor Einflussnahmen von außen zu schützen. Nach den CyberAttacken auf den Bundestag vor zwei Jahren könnten dieses Mal die Wahlrechenzentren und -computer ins Visier vor allem in Russland vermuteter Hacker geraten. Die Wahlämter versuchen sich dagegen mit einer Erhöhung ihrer Rechnerkapazitäten zu wappnen. Darüber hinaus werden Störungen des Wahlablaufs durch gezielte, über die sozialen Medien verbreitete Falschinformationen (Fake News) befürchtet. Um solchen Manipulationen schnell und öffentlichkeitswirksam entgegenzutreten, hat der Bundeswahlleiter bereits im Januar 2017 unter @wahlleiter_Bund einen eigenen Twitteraccount eingerichtet.
[…] Die Grundfunktion von Fake News ist so alt wie die Menschheit, es handelt sich um eine technisierte Form von Gerüchten. Daraus erwächst das erste Problem, denn in sozialen Medien wie Facebook ist die Darreichungsform für alle Medien gleich. Ein von 15 Factcheckern geprüfter Artikel der „New York Times“ kommt (zunächst) in der gleichen Anmutung daher wie ein von mazedonischen Teenagern ausgedachter Quatschtext. […] Fake News dienen zwei Hauptzwecken: Aufmerksamkeit, um mit Werbung Geld zu verdienen. Und politische Beeinflussung durch Falschmeldungen. Das entfaltet eine politische Wirkung, weil die Funktion von Nachrichten in sozialen Medien eine andere ist als häufig vermutet. Es geht weniger um Informationsverbreitung als um Gemeinschaftsbildung. Denn Nachrichten werden mit dem Ziel präsentiert, die eigene Persönlichkeit darzustellen, die Verbindung zu Gleichgesinnten zu stärken und sich abzugrenzen. Das gilt meist unabhängig von der politischen Überzeugung: Zeige mir, was du sharest, und ich sage dir, wer du sein willst. […] Das persönliche, digitale Umfeld wird wichtiger und kann sich mit Fake News in eine selbstverstärkende Meinungsspirale hineinsteigern – klassische Medien und damit journalistische Kriterien werden unwichtiger. Die Grundlage für die Wahlentscheidung, die persönliche Wahrnehmung der Welt, bekommt einen Einschlag in Richtung „gefühlte Wahrheit“. […]
SPIEGEL ONLINE, Sasha Lobo, 16.11.2016
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/fuenfartenwiesozialemedienwahlenbeeinflussenkolumnea1121577.html
Für die Parteien hat die Wahl ebenfalls einen langen Vorlauf. Weil die Vorschläge für die Listenkandidaten (Landeslisten) bei den zuständigen Landeswahlleitern und die Vorschläge für die Wahlkreiskandidaten bei den Wahlkreisleitern spätestens 69 Tage vor der Wahl einzureichen sind, müssen ihre Kandidierenden bis dahin feststehen. Die Bewerberinnen bzw. Bewerber in den Wahlkreisen werden von den Kreisverbänden häufig schon ein Jahr vor der Wahl aufgestellt. Über die Listenkandidaten entscheiden die jeweiligen Landesdelegiertenversammlungen später, weil sie bei deren Aufstellung berücksichtigen müssen, welche Kandidaten in welchen Wahlkreisen bereits nominiert wurden. Organisatorisch und zeitlich aufwendiger ist die Nominierung, wenn anstelle der Delegierten die Mitglieder einer Partei entscheiden. So haben die Grünen ihre Spitzenkandidaten 2017 zum zweiten Mal in einer Urwahl bestimmt, die sich vom Start der Bewerbungsphase bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses auf mehr als vier Monate erstreckte.
Parallel zur Kandidatenaufstellung setzt die Wahlkampfplanung und -vorbereitung ein. Sie erfolgt aus den Parteizentralen heraus, die ihr Personal dazu vorübergehend erheblich aufstocken. Der Wahlkampf lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Die erste Phase beginnt mit der Nominierung des/der Spitzenkandidaten etwa acht bis zehn Monate vor der Wahl. In dieser Phase wird das Wahlprogramm erarbeitet und in den Parteigremien diskutiert. Sie endet mit einem Wahlparteitag, der in der Regel vier bis fünf Monate vor der Wahl stattfindet.
In der anschließenden Phase steht die Mobilisierung der eigenen Anhänger im Vordergrund, die die Wahlkampfbotschaften der Partei in die Bevölkerung hineintragen sollen. Sie wird von zahlreichen Veranstaltungen und Kundgebungen begleitet.
Wahlplakate etwa sechs bis acht Wochen und Wahlwerbespots in den letzten vier Wochen markieren die dritte, „heiße“ Phase. Um die nicht auf eine Partei festgelegten, unentschlossenen Wählerinnen und Wähler zu erreichen, ziehen die Wettbewerber hier alle Register des traditionellen Straßen und modernen Medienwahlkampfs. Höhepunkt ist das TV-Duell zwischen den beiden Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD, das seit 2002 zu einem festen Bestandteil der Wahlauseinandersetzung geworden ist.
Für die Wählerinnen und Wähler ist die Wahl zumindest formal eine bequeme Angelegenheit. Sofern sie ordnungsgemäß gemeldet sind, wird ihnen die Wahlberechtigungskarte automatisch zugesandt. Die Wahllokale sind für die meisten Wähler fußläufig erreichbar. Die Wahlberechtigungskarte muss im Wahllokal vorgezeigt werden. Fehlt sie, kann eine Identifizierung durch den Personalausweis erfolgen. Wer in einem anderen Wahllokal innerhalb des Wahlkreises wählen möchte, kann dafür einen Wahlschein beantragen. Dieser ist auch den Briefwahlunterlagen beigefügt, die in der Regel ab ca. fünf Wochen vor der Wahl erhältlich sind. Allerdings empfiehlt es sich, Wahlschein und Briefwahlunterlagen schon früher zu beantragen, also nicht erst nach Erhalt der Wahlberechtigungskarte. Der Wahlbrief muss bis zur Schließung der Wahllokale in der Gemeindebehörde eintreffen. Will man ihn nicht der Post anvertrauen, kann er dort schon vorher persönlich abgegeben werden.
Wenn das Ergebnis am Wahlabend feststeht, beginnt der Prozess der Regierungsbildung. Dieser besteht aus vier Etappen. Zunächst sondieren die Parteien, mit welchen Partnern sie eine Koalition bilden wollen oder können. Danach werden Koalitionsverhandlungen geführt, die in eine Koalitionsvereinbarung bzw. einen Koalitionsvertrag münden. Im Laufe der Zeit sind diese Verträge immer umfangreicher geworden, was die Verhandlungen aufwendiger macht und in die Länge ziehen kann. Anschließend unterbreiten die Parteien den Koalitionsvertrag ihren Gremien zur Zustimmung. Tritt anstelle eines Parteitagsbeschlusses ein Mitgliederentscheid wie in der SPD 2013, nimmt das ebenfalls weitere Zeit in Anspruch. Ihren Abschluss findet die Regierungsbildung mit der Wahl des Kanzlers/der Kanzlerin im Bundestag und der Ernennung der Minister. Danach werden die Mitglieder des neuen Bundeskabinetts im Bundestag vereidigt.
[…] Das Dilemma der Meinungsforscher lässt sich in vier Probleme zerlegen: Zunächst müssen sie eine möglichst repräsentative Stichprobe von Bürgern finden und diese befragen. Repräsentativ heißt, dass unter den vielleicht 1.000 oder 2.000 Befragten der Anteil von Männern und Frauen, Alten und Jungen, Gebildeten und Ungebildeten, Stadt und Landvolk dem der Gesamtbevölkerung entsprechen soll. Zweitens muss man diese Menschen dazu bringen, ehrlich ihre Ansichten zu äußern. Drittens muss man auch diejenigen, die sich in der Umfrage nicht festlegen wollen, in die Rechnung einbeziehen. Sind das Nichtwähler, oder werden sie sich in letzter Minute für eine Partei entscheiden? Viertens müssen die Wahlforscher abschätzen, ob diejenigen, die ihre Meinung kundtun, auch wirklich wählen gehen. Alle vier Faktoren sind mögliche Quellen für Fehlprognosen.
Die Mathematik sagt: Wenn mir von allen Wahlberechtigten tausend zufällig ausgewählte antworten, dann habe ich eine allgemeingültige Antwort mit zwei bis vier Prozent Unschärfe. Und in der Vergangenheit konnten sich Meinungsforscher da vor allem auf Telefonumfragen per Festnetz verlassen. […] Heute telefonieren viele Menschen nur noch mobil. Deshalb misst etwa Infratest dimap den Deutschlandtrend der ARD seit vier Jahren per Dual-Frame-Stichprobe: mit 70 Prozent Festnetz und 30 Prozent Mobilfunknummern. […] Aber wer angerufen wird, der nimmt nicht immer an der Umfrage teil. Nicht nur sind die Zeiten, in denen fast jeder pflichtschuldig Antwort gab, vorbei. Die Redebereitschaft ist auch nicht gleichmäßig übers politische Spektrum verteilt. […]
Längst nicht jeder geht wählen. Weil die Wahlbeteiligung in jedem demografischen Segment unterschiedlich ist, müssen die Forscher für jede Untergruppe – nach Region, Alter, sozialer Schicht und Parteipräferenz – einschätzen, welcher Anteil wählen wird. […]
Ein Garant für die Zukunft ist das aber nicht. So kennt man, vor allem von FDP-Anhängern, den Effekt des „taktischen Wählens“. Könnten bei der kommenden Bundestagswahl potenzielle AfD-Wähler in bedeutendem Umfang ihr Kreuz bei der CDU machen, um Rot-Rot-Grün zu verhindern? […]
Viele erinnert die heutige Situation an die siebziger Jahre, als Elisabeth Noelle-Neumann, die Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach, ihre Theorie der Schweigespirale in die Welt setzte: Sie beschuldigte die Medien, ein Meinungsklima zu schaffen, in dem sich große Teile der Bevölkerung ausgeschlossen fühlten. Aus „Isolationsfurcht“ äußerten diese Menschen ihre Meinung nicht, auch nicht in Umfragen. […]
Sind Meinungsumfragen einfach zu direkt? Eignen sich Verhaltensmuster besser, um die Wahlentscheidung eines Menschen vorherzusagen, als das, was er (sofern überhaupt) angibt? Das ist keine akademische Frage mehr, seit durch Internet und Social Media Unmengen persönlicher Daten entstehen – und automatisch ausgewertet werden können. […]
Doch allein aus der Beobachtung von Facebook-Debatten lässt sich keine Wahlprognose ableiten. Die Datensammler besitzen detaillierte persönliche Profile von Millionen Wählern. Nur, wie verhalten sich diese zur politischen Einstellung? Und […] wie wahrscheinlich wird daraus eine Wahlentscheidung? Vor allem sind diese Datensätze zwar umfangreich, aber keine repräsentative Stichprobe. Und ohne die kann man keine verlässlichen Prognosen errechnen. Big Data ist noch keine Alternative zur repräsentativen Umfrage, sondern eine Ergänzung, die ein bunteres und weniger lückenhaftes Bild der Gesellschaft bieten kann. […]
„Wenn man vorhersagen will, was für eine Entscheidung Menschen treffen werden, dann gibt es keine Alternative dazu, sie direkt zu befragen“, zitiert das Wissenschaftsmagazin Science den Statistiker Andrew Gelman von der Columbia University. Im Februar widmete die Zeitschrift einen ganzen Schwerpunkt der Frage, ob Umfragen noch ein zeitgemäßes Mittel seien, um Wahlergebnisse vorherzusagen. Dazu hat Ryan Kennedy von der University of Houston 500 Wahlen seit dem Zweiten Weltkrieg untersucht. Beim Vergleich, ob Umfrageergebnisse oder andere Faktoren wie das Wirtschaftswachstum größere Voraussagekraft gehabt hätten, kam heraus: Umfragen sind mit Abstand das beste Instrument, sie prognostizieren 80 bis 90 Prozent der Ergebnisse korrekt. Ohne sie wird es also nicht gehen. […]
Christoph Drösser,„Mehr als Kaffeesatz“, in: Die Zeit Nr. 12 vom 16. März 2017
Kennzeichnend für die Geschichte der Bundesrepublik ist ihre hohe Regierungsstabilität, die vor allem auf die Entwicklung des Parteiensystems zurückgeht. Nur dreimal – 1972, 1983 und 2005 – kam es zu vorgezogenen Neuwahlen. 1966 erfolgte ein Regierungswechsel ohne Neuwahlen inmitten der Legislaturperiode. In 68 Regierungsjahren amtierten sieben Bundeskanzler und eine Bundeskanzlerin, was einer durchschnittlichen Amtsdauer von achteinhalb Jahren entspricht.
Geprägt wurde und wird das System vom Dualismus der großen Parteien CDU/CSU und SPD. CDU und CSU sind formal getrennte Parteien, die nicht gegeneinander antreten (die CDU kandidiert in allen Bundesländern außer Bayern). Deshalb bilden sie im Bundestag eine gemeinsame Fraktion. Alle Kanzler wurden bisher von der CDU oder der SPD gestellt. Mit 48 gegenüber 20 Regierungsjahren haben die Unionsparteien dabei ein deutliches Übergewicht. Aus 15 der 18 Bundestagswahlen gingen sie als stärkste Kraft hervor, lediglich 1972 und 1998 wurden sie von der SPD überflügelt. 2002 lagen beide Parteien prozentual gleichauf. Mit Helmut Kohl (16 Jahre), Konrad Adenauer (14 Jahre) und Angela Merkel (12 Jahre) stellte die Union zudem die zwei Kanzler und eine Kanzlerin mit den bisher längsten Amtszeiten. Das Standardmodell der Regierungsbildung in der Bundesrepublik war lange Zeit die „kleine Koalition“. Die Möglichkeit des Wechsels von der einen zur anderen Volkspartei wurde dabei vor allem durch die FDP gewährleistet, die in 45 von 68 Jahren an den Regierungen beteiligt war. Nachdem die Liberalen von 1949 bis 1956 sowie von 1961 bis 1966 zusammen mit der CDU/CSU koaliert hatten, ermöglichten sie 1969 die Bildung der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt, bevor sie 1982 an die Seite der Union zurückkehrten. Einen von der Wählerschaft herbeigeführten vollständigen Regierungswechsel hat es in der Bundesrepublik erst einmal – 1998 – gegeben, als die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder die Koalition von CDU/CSU und FDP unter Helmut Kohl nach 16 Jahren ablöste.
Die Ära der „kleinen Koalitionen“ hatte bis 2005 Bestand. Sie wurde nur durch die Große Koalition von 1966 bis 1969 kurzzeitig unterbrochen, die Union und SPD aus freien Stücken eingingen. Die Bundestagswahl 2005 war die erste, die das Zusammengehen der beiden großen Parteien „erzwang“, weil die von Union und SPD angestrebten Koalitionen mit der FDP bzw. den Grünen keine Mehrheit mehr erreichten. Die Wiederauflage der schwarzgelben Koalition 2009, die für beide Seiten sehr enttäuschend verlief, sollte Episode bleiben. Nachdem die FDP den Einzug in den Bundestag verpasst hatte und Sondierungsgespräche der Union mit den Grünen erfolglos blieben,wurde das Land ab 2013 erneut und jetzt bereits zum dritten Mal von einer Großen Koalition regiert.
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Die veränderten Bedingungen der Koalitionsbildung sind dem Wandel des Parteiensystems geschuldet. Als Vielparteiensystem 1949 noch in der Tradition der Weimarer Republik stehend, entwickelte sich dieses ab den 1950er-Jahren zunächst in Richtung einer hoch konzentrierten „Zweieinhalb“-Parteienstruktur (mit Union, SPD und FDP), bevor in den 1980er-Jahren eine neue, bis heute anhaltende Pluralisierungsphase einsetzte. Diese lässt sich in vier Etappen bzw. Zäsuren einteilen: Die Grünen etablierten sich in den 1980er-Jahren, im Zuge der deutschen Einheit ab 1990 kam die ostdeutsche Regionalpartei PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) hinzu. Sie schloss sich 2005 bzw. 2007 mit der westdeutschen SPD-Abspaltung WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) zur gesamtdeutschen Partei Die Linke zusammen. Schließlich entstand eine rechtspopulistische Kraft in Gestalt der 2013 gegründeten AfD (Alternative für Deutschland).
Dem Anwachsen der kleinen Parteien gegenüber steht die nachlassende Bindungskraft der beiden Volksparteien Union und SPD. Erreichten diese zusammengenommen von 1957 bis 1987 stets über 80, 1972 und 1976 sogar über 90 Prozent der Wählerstimmen, ist dieser Anteil seit der Bundestagswahl 2005 auf unter 70 Prozent gefallen. In Verbindung mit der gleichfalls rückläufigen Wahlbeteiligung bedeutet dies, dass die großen Parteien heute nur noch etwa jeden zweiten Wahlberechtigten erreichen.
Die Pluralisierung macht sich auch in der wachsenden Zahl der Parteien bemerkbar, die zu den Wahlen antreten. Wurden vom Bundeswahlleiter 1980 die Listen von 12 Parteien bzw. Wählervereinigungen zur Bundestagswahl zugelassen, so waren es bei der Bundestagswahl 2013 mit 39 Parteien mehr als dreimal so viel. Der zusammengefasste Stimmenanteil der „sonstigen“ Parteien, der in den 1970er- und 1980er-Jahren maximal zwei Prozent betrug, lag bei den Bundestagswahlen seit 1990 im Schnitt bei 6,2 Prozent. 2013 erreichte er den bisherigen Rekordwert. Da FDP und AfD mit 4,8 bzw. 4,7 Prozent jeweils knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten, summierte sich der Anteil der bei der Mandatsvergabe nicht berücksichtigten Stimmen auf 15,7 Prozent.
Grafik: Sitzverteilung im Bundestag
Die einzelnen Grafiken zeigen die Sitzverteilung im Bundestag seit 1949.
Im Jahr 1972 besaß die SPD 230, CDU/CSU 225 und die FDP 41 Sitze.
1994 hielt die Linke 30, die SPD 252, die Grüne 49, CDU/CSU 294 und die FDP 47 Sitze.
2013 hatten CDU/CSU 311, die Grüne 63, die SPD 193 und die Linke 64 Sitze.
Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlbilder 088501
Die Verwaltung des Berliner Reichstags hatte nach der Bundestagswahl 2013 alle Hände voll zu tun, um die Folgen des Ergebnisses zu bewältigen. In den Fraktionssaal der FDP zog die nur etwa halb so große Fraktion der Linken ein, und im Plenarsaal rückte die Union zum ersten Mal seit 1949 ganz nach rechts. Hatten seit 1990 stets fünf Fraktionen im Bundestag gesessen, waren es jetzt nur noch vier. Das Scheitern der FDP und der AfD an der Fünfprozenthürde bescherte den drei linken Parteien (SPD, Grüne und Linke) im Bundestag eine knappe Mehrheit der Sitze. Auf der Wählerebene verschob sich die Achse des Parteiensystems dagegen nach rechts. Hatte der zusammengenommene Stimmenanteil von Union und FDP 2009 bei 48,4 Prozent gelegen, so kamen die Vertreter des Mitte-Rechts-Lagers (unter Einschluss der AfD) 2013 auf satte 51 Prozent. Der Anteil der linken Parteien betrug nur 42,7 Prozent (gegenüber 45,6 Prozent 2009). Eindeutiger Wahlsieger waren die Unionsparteien unter Kanzlerin Angela Merkel. Bedingt durch die Schwäche der FDP konnten sie ihren Vorsprung mit 15,8 gegenüber 10,8 Prozentpunkten vor der SPD nochmals kräftig ausbauen. Mit 41,5 Prozent gelang der Union 2013 zum ersten Mal seit 1994 wieder der Sprung über die 40 Prozent.
Grafik: Endergebnis der Bundestagswahl 2013 – Zweitstimmen
Bei ihrem Wahlsieg spielten Merkel und der Union mehrere Faktoren in die Hände:
Erstens kam ihnen zugute, dass die Schuldenkrise im Euroraum als wichtigstes politisches Thema wellenartig die gesamte vergangene Legislaturperiode geprägt und der Opposition kaum Angriffsflächen geboten hatte. SPD und Grüne trugen die „Rettungspolitik“ im Grundsatz mit. Alternative Positionen wie eine Abkehr vom strikten Sparkurs in den betroffenen Mitgliedsländern oder ein anderes Schuldenregime wollten oder konnten sie nicht nach vorne bringen, weil sie wussten, wie unpopulär dies bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung war.
Zweitens setzte die CDU den unter Merkel seit 2005 eingeschlagenen Kurs fort, sich gesellschaftspolitisch weiter zu modernisieren und in der Sozialpolitik eher „linkes“ Ideengut zu übernehmen. Auch die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima hatten CDU und CSU in einen innenpolitischen Vorteil umgemünzt. Durch ihre radikale Kehrtwende in der Energiepolitik, den Ausstieg aus der Atomenergie, beseitigten sie zugleich den größten Stolperstein für eine Zusammenarbeit mit den Grünen.
Drittens kontrastierte die durchaus vorzeigbare Regierungsbilanz mit dem Bild einer Koalition, die nach schwachem Start auch im weiteren Verlauf der Wahlperiode nie wirklich Tritt gefasst, geschweige denn harmoniert hatte. Die Verantwortung dafür lasteten Wählerschaft und Öffentlichkeit ausschließlich der FDP an, die einen beispiellosen Absturz erlebte und aus ihrem demoskopischen Tief bis zum Ende der Legislaturperiode nicht mehr herauskam. Zwar waren die Liberalen an ihrem Niedergang im Wesentlichen selbst schuld, da sie ihre Wahlversprechen, insbesondere in der Steuerpolitik, nicht eingelöst hatten. Allerdings ist erstaunlich, dass auch Ereignisse wie die Plagiatsaffäre um Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (2011) oder die Rücktritte der von ihr „ausgesuchten“ Bundespräsidenten Horst Köhler (2010) und Christian Wulff (2012) der Kanzlerin kaum schadeten.
Philipp Rösler und Rainer Brüderle tritt nach der Wahlniederlage zurück.
Viertens profitierte die Union von der Schwäche der Konkurrenz. Die SPD hatte mit Peer Steinbrück einen Kanzlerkandidaten aufgestellt, der zum Wahlprogramm der Partei, das den Hauptakzent auf soziale Themen legte, nicht passte. Der Kampagnenstart des früheren Finanzministers geriet zu einem Desaster, von dem sich der Wahlkampf erst am Ende (nach dem gelungenen TV-Duell) allmählich erholte. Auch die Grünen agierten wenig erfolgreich. Statt auf ihre Kernthemen Ökologie und Klimaschutz setzten sie auf dieselben Themen, die bei SPD und Linken im Vordergrund standen. Mit den kurz vor der Wahl publik gemachten Vorwürfen, in ihrer Frühzeit Befürwortern von Pädophilie eine politische Heimat gegeben zu haben, wurden sie zudem von einem unaufgearbeiteten Teil ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt.
In Teilen der Union und der konservativen Presse gab es während der Sondierungsphase nach der Wahl starke Sympathien für ein Zusammengehen von Schwarz und Grün. Eine Rolle spielte dabei die Überlegung, die Union bekäme mit den durch ihr schlechtes Wahlergebnis empfindlich getroffenen Grünen einen „leichteren“ Partner als mit der SPD. Bei den Sozialdemokraten wiederum war die Parteispitze eher bereit als die Funktionäre und die Basis, erneut in eine Große Koalition einzutreten. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel fing die Bedenken dadurch auf, dass er die Zustimmung zum Koalitionsvertrag von einem Mitgliederentscheid abhängig machte. Dessen klares Ergebnis – bei einer überraschend hohen Beteiligung von 78 Prozent stimmten 76 Prozent mit Ja – spiegelte den Verlauf der Koalitionsverhandlungen, in denen es den Sozialdemokraten gelungen war, wichtige eigene Positionen durchzusetzen.
Die Regierungspolitik der 18. Wahlperiode wurde von drei außenpolitischen Krisen überschattet: der Ukraine und Krimkrise 2014, der Griechenland-Krise 2015 und der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016. In allen drei Krisen wuchs der Bundesrepublik eine Führungsrolle in der Europäischen Union zu, die deren Handlungsfähigkeit sicherte, gleichzeitig aber die Gräben innerhalb Europas vertiefte. Zudem hatte insbesondere die Aufnahme einer hohen Anzahl Geflüchteter in Deutschland massive innenpolitische Auswirkungen. Sie stellte die Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen auf eine bisher nicht gekannte Probe, veränderte die bis dahin stabile öffentliche Stimmungslage und führte dazu, dass sich eine rechtspopulistische Kraft im Parteiensystem etablieren konnte.
Das auf 185 Seiten niedergelegte Regierungsprogramm stand zunächst ganz im Zeichen der Innen und vor allem der Sozialpolitik. Hier setzten Union und SPD ihre jeweiligen Prestigeprojekte durch, die sie im Wahlkampf versprochen hatten. Auf Wunsch der Union wurden die Erziehungszeiten für Kinder, die vor dem 1. Januar 1992 geboren sind, in der Rentenberechnung stärker berücksichtigt („Mütterrente“). Auf Wunsch der SPD wurde die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren eingeführt („Rente mit 63“). Beide Maßnahmen stießen wegen ihrer hohen Kosten auf öffentliche Kritik. Nicht umgesetzt wurde die im Koalitionsvertrag ebenfalls vorgesehene „Lebensleistungsrente“ für Niedrigverdiener. Die Regierung konnte sich nicht einigen, wie diese Rente finanziert werden sollte. Beschlossen wurde dagegen die mittelfristige Angleichung der Ost- und Westrenten.
Eine Vorbedingung der SPD für den Eintritt in die Große Koalition war die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro, was ebenfalls gleich zu Beginn der Legislaturperiode realisiert wurde. Im Herbst 2016 wurde zudem eine stärkere Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen verabschiedet. Weiterreichende Maßnahmen konnte die SPD gegenüber der Union nicht durchsetzen. Die auf Wunsch der SPD eingeführte „Mietpreisbremse“ bei Neuvermietungen entpuppte sich wegen des angespannten Wohnungsmarktes als weitgehend wirkungslos. In der Gesundheitspolitik einigte sich die Koalition auf die Einführung einer einkommensabhängigen Zusatzprämie (SPD-Forderung), wenn dafür im Gegenzug die Arbeitgeber nicht stärker belastet würden (Forderung der Union).
Bildunterschrift: Innenpolitisch setzt die Koalition unter anderem Akzente in der Rentenpolitik …
Eine Reinigungskraft in einer Flughafenhalle läuft mit einem Putzwagen an einem Bistro vorbei.
picture alliance / Winfried Rothemel
Ein Prestigeprojekt der bayerischen CSU war eine Pkw-Maut, die ausschließlich ausländische Autofahrer entrichten sollten. Damit setzte sie sich gegen den Widerstand nicht nur der SPD, sondern auch der eigenen Schwesterpartei durch, die Zweifel an der europarechtlichen Umsetzbarkeit des Vorhabens hegte. Zwar billigte die europäische Kommission überraschenderweise die Pläne trotz Protesten aus den Nachbarländern. Doch sie knüpfte ihre Zustimmung an Auflagen, durch die die Maut weniger Geld einspielen wird als ursprünglich vorgesehen.
Die Übernahme des Finanzministeriums durch die CDU und des Wirtschaftsministeriums durch die SPD ermöglichte beiden Parteien, ihre Vorstellungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu verwirklichen. Während die Union den Verzicht auf Steuererhöhungen und das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts in den Vordergrund stellte, trat die SPD vor allem für eine Verstärkung der öffentlichen Investitionstätigkeit ein. Einen Schwerpunkt sollte dabei der Ausbau der digitalen Infrastruktur bilden. Gegenüber den geplanten bzw. bereits ausgehandelten EU-Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (Ceta) gab es unter den Sozialdemokraten Vorbehalte, die bei Ceta durch Nachbesserungen ausgeräumt werden konnten.
Krisenbedingt gewann die Außen- und Europapolitik nach der Bundestagswahl einen noch größeren Stellenwert als in den beiden vorangegangenen Wahlperioden. Während die SPD in der Innenpolitik auf Augenhöhe mit der Union regierte, musste sie hier die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin akzeptieren. Gegenüber Russland befürwortete die CDU nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim am entschiedensten die von der EU verhängten Sanktionen und wurde darin von den oppositionellen Grünen unterstützt. SPD und CSU traten – ohne dem grundsätzlich zu widersprechen – für mehr Flexibilität und Gesprächsbereitschaft ein. Am wenigsten Verständnis für die Sanktionspolitik zeigten die Linken und die AfD.
In der Griechenland-Politik drängte die Union auf einen harten Kurs, nachdem die im Januar 2015 neu ins Amt gekommene Linksregierung unter Alexis Tsipras Widerstand gegen die Sparauflagen der europäischen Institutionen angekündigt hatte. Die deutsche Position, neue Kredite nur im Gegenzug für weitere Reformmaßnahmen zu gewähren, setzte sich jedoch in der EU durch und musste von den Griechen am Ende akzeptiert werden. Bei der Abstimmung im Bundestag versagten im August 2015 allerdings 63 Unionsabgeordnete dem Rettungspaket die Unterstützung.
Zum Wendepunkt der Legislaturperiode wurden die Weichenstellungen in der Flüchtlingspolitik Anfang September 2015. Hunderttausende Menschen, die aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten über die Ägäis nach Europa geflohen waren, saßen zu dieser Zeit unter zum Teil katastrophalen humanitären Bedingungen in den Ländern entlang der Balkanroute und insbesondere Ungarn fest, weshalb Kanzlerin Merkel sich am 4. September entschloss, die Grenzen zu öffnen. Die nur mit Österreich abgestimmte Entscheidung löste in der EU Irritationen aus. Denn Deutschland setzte sich damit über das Dublin-Abkommen hinweg, laut dem die Geflüchteten in dem Mitgliedsland ihren Asylantrag stellen müssen, in dem sie erstmals die EU betreten. Über die Probleme, die dieses Regelwerk den Erstaufnahmeländern auf der Balkan- und Mittelmeerroute bereitete, war zuvor in den EU-Staaten freilich jahrelang hinweggesehen worden.
Lukas Barth/Anadolu Agency/Getty Images
Die von der Europäischen Kommission unterstützten Bemühungen der Bundesregierung, die Geflüchteten innerhalb der EU fair zu verteilen, prallten insbesondere an den mittelosteuropäischen Staaten ab, die sich kategorisch weigerten, Menschen aus muslimischen Ländern aufzunehmen. Die Bundesrepublik übernahm deshalb neben Schweden einen hohen Anteil der in die EU Geflüchteten.
Die sogenannte Flüchtlingskrise löste in der Bundesrepublik heftige innenpolitische Turbulenzen aus. Trotz wieder eingeführter Grenzkontrollen gelangten von Anfang September bis Mitte Oktober 2015 über 400000 Menschen ins Land, ohne ordnungsgemäß registriert und überprüft zu werden. Merkels humanitär begründete Weigerung, die Grenze wieder zu schließen, die sie mit dem Aufruf zu einer gemeinsamen nationalen Kraftanstrengung („Wir schaffen das! “) und der gleichzeitigen Arbeit an einer europäischen Lösung verband, wurden von der SPD und den Oppositionsparteien Grüne und Linke unterstützt. Sie stießen jedoch auf großen Widerstand der CSU und verschafften der AfD, die sich das Thema populistisch zu eigen machte, ein Umfragehoch.
Kritische Stimmen hegten nicht nur Zweifel, ob die Bundesrepublik in der Lage sein würde, in kurzer Zeit so viele Zuwanderer zu integrieren. Sie hatten zugleich die Sorge, dass mit den Geflüchteten islamistische Attentäter ins Land gelangen könnten. Die Anschläge, die nach Paris (Januar und November 2015), Brüssel (März 2016) und Nizza (Juli 2016) auch die Bundesrepublik erreichten, schienen diese Befürchtung zu bestätigen. Im Dezember 2016 kamen in Berlin 12 Menschen ums Leben, als ein von einem Terroristen gekaperter LKW in einen Weihnachtsmarkt raste.
Die Wende zu einer restriktiveren Flüchtlingspolitik wurde bereits Mitte Oktober 2015 mit asylrechtlichen Änderungen (Asylpaket I) eingeleitet, denen im März 2016 das Asylpaket II folgte. Sie verschärften die Anerkennungsbedingungen und sollten dazu beitragen, die Verfahren zu beschleunigen, mit denen nicht anerkannte Asylsuchende schneller in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden können. Durch die Schließung der Balkanroute, die Slowenien und die anderen Anrainerstaaten vornahmen, gingen die Flüchtlingszahlen ab März 2016 deutlich zurück. Zugleich zeigte das von der EU auf Betreiben Merkels mit der Türkei geschlossene Abkommen zur Rückführung illegal über die Türkei Eingewanderter Wirkung.
Parallel zu diesen Abschottungsbemühungen unternahm die Große Koalition erhebliche Anstrengungen, um die anerkannten bzw. über eine Bleibeperspektive verfügenden Asylsuchenden in Deutschland einzugliedern. Das im August 2016 in Kraft getretene Integrationsgesetz regelt die dazu bereitgehaltenen Angebote rechtlich und erlegt den Zugewanderten zugleich bestimmte Pflichten auf. Insgesamt beliefen sich die staatlichen Aufwendungen für die Flüchtlingspolitik 2016 auf etwa 20 Milliarden Euro.
Zu den „Naturgesetzlichkeiten“ nicht nur der deutschen Politik gehört, dass die Parteien, welche die Regierung stellen, im Laufe der Legislaturperiode an Zustimmung verlieren, während die Opposition in der Wählergunst zulegt. Nach der Bundestagswahl 2013 fiel dieser „Zwischenwahleffekt“ gegen alle Erwartung aus. Für kurze Zeit konnte die AfD im Gefolge ihrer guten Ergebnisse bei den Europawahlen und ostdeutschen Landtagswahlen ab Mitte 2014 in den Umfragen auf sieben Prozent klettern. Heftige innerparteiliche Querelen, die in die Spaltung der immer weiter nach rechts driftenden Partei mündeten, führten jedoch dazu, dass die AfD ein Jahr später wieder in etwa auf ihren Ausgangswert bei der Bundestagswahl 2013 zurückfiel.
Eine über einen so langen Zeitraum „eingefrorene“ politische Stimmung war von den Meinungsforschern in der Bundesrepublik bis dahin noch nie verzeichnet worden. Sie ließ sich auf mehrere miteinander verbundene Faktoren zurückführen: die gute Wirtschaftslage, die Umsetzung der sozial und arbeitsmarktpolitischen Wahlversprechen, die Überlagerung innenpolitischer Themen durch die Außen- und Europapolitik, das weitgehend störungsfreie Management der Großen Koalition und die Schwäche der parlamentarischen Oppositionsparteien Grüne und Linke.
Die Zufriedenheit der Wähler strahlte freilich nicht im gleichen Maße auf beide Regierungsparteien ab. Vor allem die Umfragewerte der SPD verharrten auf dem Niveau des schwachen Wahlergebnisses, obwohl die Regierungspolitik durch die von ihr durchgesetzten Projekte eine erkennbar sozialdemokratische Handschrift trug. Die vor der Wiederauflage der Großen Koalition von vielen geäußerte Sorge schien sich zu bewahrheiten, dass die SPD als Juniorpartner der Koalition erneut das Nachsehen haben und die gemeinsamen Erfolge statt auf dem eigenen auf dem Konto der Union und der Kanzlerin einzahlen würden.
Während die beiden Regierungsparteien nun rapide und massiv an Zustimmung verloren, schnellten die Umfragewerte der AfD ebenso unvermittelt nach oben. Dabei befand sich die Partei zu dieser Zeit in einer schweren Krise. Erst einen Monat zuvor war ihr Gründer und Ko-Vorsitzender Bernd Lucke, der mit seinen wirtschaftsliberalen Positionen den gemäßigten Flügel repräsentierte, als Vorsitzender von dem radikaleren Flügel um Frauke Petry gestürzt worden. Lucke verließ daraufhin zusammen mit seinen Unterstützern und etwa einem Fünftel der Mitglieder die AfD und ging mit einer neuen Partei an den Start, die bei den nachfolgenden Landtagswahlen allerdings erfolglos bleiben sollte.
Der AfD eröffneten sich durch die veränderte Themenagenda unterdessen neue Gelegenheiten – ihr Vorstandsmitglied Alexander Gauland bezeichnete die Geflüchteten in einer ebenso ehrlichen wie entlarvenden Äußerung als „Geschenk“. Die Partei avancierte jetzt zum Sprachrohr und Protestanker einer durch die Ereignisse in Teilen tief verunsicherten Bevölkerung. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2016 lag die AfD mit 15,1 bzw. 12,6 Prozent erstmals auch im Westen im zweistelligen Bereich, in Sachsen-Anhalt erreichte sie mit 24,3 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis bei Landtagswahlen überhaupt. Die Ergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern (20,8 Prozent) und Berlin (14,2 Prozent) ein halbes Jahr später knüpften daran an.
Die Zukunftsaussichten der AfD scheinen derzeit auch nach einem Abflauen der durch den Zuzug von Geflüchteten aufgeheizten Proteststimmung vielversprechend. Mit der Ablehnung des Euro, ihrer Einwanderungskritik und ihren konservativen Positionen in der Gesellschaftspolitik besetzt sie Nischen im Parteiensystem, die von den anderen Parteien – insbesondere der CDU – geöffnet wurden. Größere Risiken entstehen der AfD von innen. Gelingt es der Partei nicht, die rechtsextremen Tendenzen in den eigenen Reihen einzudämmen, könnten interne Konflikte und zu extreme Positionen ihr Ansehen und ihren Zusammenhalt ruinieren. Ob sich Rechtspopulisten in Deutschland dauerhaft etablieren werden, steht noch nicht fest.
Während die Zustimmung zu den beiden Regierungsparteien nach Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise um etwa ein Viertel sank, legten die parlamentarischen wie außerparlamentarischen Oppositionsparteien in demselben Maße zu. Am meisten von der Polarisierung profitierten neben der AfD die Grünen, die in der Flüchtlingspolitik den liberalen Gegenpol zur AfD bildeten. Die FDP konnte wiederum Wählerinnen und Wähler ansprechen, die mit Merkels Flüchtlingspolitik haderten, die AfD aber zu radikal fanden. Die in etwa gleich hohen Verluste innerhalb des Regierungslagers trafen die SPD wegen ihres niedrigeren Ausgangsniveaus härter als die Union. Weil diese trotz ihrer Einbußen mit klarem Abstand die stärkste Partei blieb, konnte sie zu Beginn des Wahljahres relativ sicher davon ausgehen, nach der Bundestagswahl erneut die Regierung anzuführen.
Die Ausgangslage verschob sich ab Ende Januar deutlich, nachdem Martin Schulz zum sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten ernannt worden war. Die SPD schloss jetzt binnen weniger Tage in den Umfragen zur Union auf, während mit Ausnahme der FDP alle anderen Parteien an Zustimmung einbüßten, am stärksten die Grünen und die AfD. Sollten sich diese Werte bis zum Sommer stabilisieren, steht bei der Bundestagswahl ein offenes Rennen bevor, in dem die SPD zum ersten Mal seit 2005 wieder eine reelle Chance hat, vor der CDU/CSU zu liegen und den Kanzler zu stellen. Das verspricht eine spannende Wahlauseinandersetzung.
Mit dem Stimmungswechsel könnte sich auch die koalitionspolitische Gemengelage verändern. Sah es bis zu Beginn des Wahljahres danach aus, als würde der Aufstieg der AfD die Perspektive einer arithmetischen Mehrheit der drei linken Parteien in noch weitere Ferne rücken, liegt diese jetzt wieder im Bereich des Möglichen. Ob SPD, Grüne und Linke die Hindernisse ausräumen können, die ein Zusammengehen auf Bundesebene bisher verhindert haben, muss sich zeigen. Während es in der Sozial- und Wirtschaftspolitik Zeichen für eine Annäherung gibt, stehen einer Verständigung in der Außenpolitik weiterhin die von der Linken strikt abgelehnten Militäreinsätze im Wege.
Die neue Konstellation zwingt vor allem die Grünen, ihre ursprünglich geplante Koalitionsstrategie zu überdenken. Diese zog ganz offen die Möglichkeit einer – eventuell sogar um die FDP erweiterten – schwarzgrünen Koalition ins Kalkül, falls es wie erwartbar für Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün keine Mehrheit geben würde. Die von der Basis getroffene Entscheidung für Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir als Spitzenkandidaten kann als Signal in diese Richtung gewertet werden. Mit dem Umfragehoch der SPD könnten die Grünen jetzt genötigt sein, wieder stärker „nach links zu blinken“, um die Tür für ein rot-rot-grünes Bündnis offen zu halten.
Auch in den Unionsparteien hatte es zwischenzeitlich starke Sympathien für ein schwarzgrünes Bündnis anstelle der Großen Koalition gegeben. Diese sind jedoch im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise abgekühlt – insbesondere die CSU lehnt Schwarz-Grün inzwischen offen ab. Für die Union kommt es deshalb umso mehr darauf an, dass sie ihre Position als stärkste Kraft behält. Dazu muss sie nicht nur die SPD, sondern auch die Konkurrenten im eigenen Lager – also FDP und AfD – auf Distanz halten. Über die Frage, wie mit der AfD am besten umzugehen sei, gab und gibt es innerhalb der Unionsfamilie freilich keine Einigkeit. Forderungen der CSU nach einer Obergrenze für den Zuzug von Geflüchteten, die auch dazu dienen sollten, der AfD ihren Wählerzulauf streitig zu machen, wies Merkel demonstrativ zurück. Dies führte zu einem monatelangen, öffentlich ausgetragenen Streit. Wie schwer das Zerwürfnis zwischen den Schwesterparteien war, zeigte sich daran, dass die CSU die erneute Kanzlerkandidatur der CDU-Vorsitzenden zunächst nur widerstrebend mittrug.
Am schwächsten steht in den Umfragen derzeit die FDP da. Die Liberalen haben sich von ihrem Absturz bei der Bundestagswahl zwar erholt, aber nur mühsam und auf niedrigem Niveau. Während sie in den ostdeutschen Ländern bei allen Wahlen an der Fünfprozenthürde scheiterten, gelang ihnen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz sowie in drei Stadtstaaten die Rückkehr in die Parlamente, in Rheinland-Pfalz sind sie – als Teil einer Ampelkoalition – erstmals wieder in einer Landesregierung vertreten. Ob die FDP bereit wäre, eine solche Koalition auch auf Bundesebene einzugehen, bleibt fraglich – programmatisch sieht die Partei die größeren Schnittmengen nach wie vor mit der Union. Nützen könnte der FDP das Funktionsargument, dass ihre Stimmen zur Verhinderung einer rot-rot-grünen Mehrheit gebraucht werden. Eine Mehrheit zusammen mit der Union und damit eine Neuauflage von Schwarz-Gelb scheint dagegen außer Reichweite zu sein.
Einen natürlichen Anspruch auf die Regierungsführung gewinnt, wer die stärkste Fraktion stellt. Zwar ist es durchaus denkbar, dass eine Mehrheit um diese herum „gebaut“ wird. Die beteiligten Partner müssten sich dann aber zu einer solchen Koalition vorab bekennen, damit die Wählerschaft weiß, in welche Regierung ihre Stimme für diese oder jene Partei gegebenenfalls mündet. In der jetzigen Konstellation des Parteiensystems haben die Sozialdemokraten den Vorteil, über mehr Bündnisoptionen zu verfügen als die Union. Während für diese (wie für alle anderen Parteien) jegliche Zusammenarbeit mit der AfD tabu ist, hat die SPD schon 2013 deutlich gemacht, dass sie ein Bündnis mit der Linken diesmal nicht bereits vorab ausschließen wird. Sofern es die Mehrheitsverhältnisse erlauben, ist es allerdings wahrscheinlicher, dass sie eine Ampelkoalition oder eine Große Koalition anstrebt. Im letztgenannten Fall müsste sie vor der Union liegen, um das Amt des Regierungschefs zu besetzen.
Wie unüberschaubar die Koalitionsbildung durch die Pluralisierung des Parteiensystems mittlerweile geworden ist, zeigt sich in den 16 Ländern. Dort gab es zu Beginn des Wahljahres bereits zwölf verschiedene Koalitionsformate. Darunter befinden sich sieben „lagerübergreifende“ Bündnisse, die entweder aus zwei (fünf Fälle) oder drei Parteien (zwei Fälle) bestehen. In zwei Ländern (Baden-Württemberg und Thüringen) stellen die Grünen bzw. die Linke den Ministerpräsidenten. Anders als auf der Bundesebene haben die linken Parteien in den Länderkoalitionen ein deutliches Übergewicht. Sozialdemokraten und Grüne kommen auf 13 bzw. elf Regierungsbeteiligungen, CDU und CSU nur auf sieben.
Grafik: Wie heißen die verschiedenen Koalitionsformen?
Die Tabelle zeigt die verschiedenen Koalitionsformen und wie diese heißen.
Größere machtpolitische Verschiebungen auf der Länderebene blieben im Laufe der Wahlperiode aus. Nur zwei der elf Landtagswahlen, die zwischen August 2014 und März 2017 stattfanden, führten zu einem Wechsel an der Regierungsspitze. In Bremen erklärte Bürgermeister Jens Böhrnsen wegen des schlechten Wahlergebnisses der SPD seinen Rücktritt, in Thüringen trat Bodo Ramelow von der Linken die Nachfolge der Christdemokratin Christine Lieberknecht an. Auch wo die Ministerpräsidenten im Amt blieben, veränderte sich in den meisten Fällen die Zusammensetzung der Regierung. So wurde z.B. in Baden-Württemberg die grün-rote durch eine grün-schwarze Koalition ersetzt und in Sachsen-Anhalt die Schwarz-rote Koalition um die Grünen als dritten Partner erweitert („Kenia-Koalition“). Damit verschoben sich zugleich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, wo die Große Koalition Ende März 2017 nur noch über 16 der insgesamt 69 Stimmen verfügte, also weit von eine eigenen Mehrheit entfernt war. Die Grünen, die von den übrigen 53 Stimmen allein 49 „kontrollierten“, spielten diese Karte allerdings selten aus, sodass keine nennenswerte Blockaden im Regierungsprozess auftraten. Die Länderkammer hat dadurch einen Teil ihrer früheren Bedeutung eingebüßt.
Während erst die Mitte des Jahres zu verabschiedenden Wahlprogramme über die thematische Aufstellung der Parteien genauen Aufschluss geben, stehen die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten von zwei Ausnahmen (CSU und AfD) abgesehen zu Beginn des Wahljahres fest. Bei der Union hatte es bis zur Mitte der Legislaturperiode als sicher gegolten, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut antreten würde. Die heftige Kritik, die der CDU-Vorsitzenden wegen ihrer Flüchtlingspolitik auch aus den eigenen Reihen entgegenschlug, führte aber dazu, dass sie ihre Kandidatur erst spät (im November 2016) und – nach eigener Auskunft – „langem Nachdenken“ verkündete. Überraschend war die Entscheidung der SPD, anstelle des Vorsitzenden und Vizekanzlers Sigmar Gabriel Martin Schulz zu nominieren. Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments übernimmt von Gabriel zugleich den Parteivorsitz.
Innerparteilich umstritten waren die Personalentscheidungen bei Grünen und Linken. Bei der Linken setzten sich die die beiden Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch gegen die Parteivorsitzende Katja Kipping durch. Bei den Grünen entschieden sich die Mitglieder mit hauchdünnem Vorsprung für Cem Özdemir anstelle des Schleswig-Holsteinischen Umweltministers Robert Habeck. Die meisten Stimmen in der Urwahl erhielt Katrin Göring-Eckardt, die aber aufgrund der Frauenquote ohnehin gesetzt war. Für die FDP tritt der Parteivorsitzende Christian Lindner an. Er führt seine Partei auch als Spitzenkandidat in die vier Monate vor der Bundestagswahl stattfindende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen.
In der CSU fällt die Entscheidung, wer die Liste anführt, erst auf dem Parteitag im Mai. Überschattet wird sie von einem innerparteilichen Machtkampf um die Nachfolge Horst Seehofers als Parteivorsitzender und bayerischer Ministerpräsident. Als Favoriten für die Spitzenkandidatur gelten der Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt sowie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Ähnlich ist die Situation in der AfD. Hier musste Frauke Petry ihre Absicht, als alleinige Spitzenkandidatin in die Bundestagswahl zu ziehen, wegen des Widerstandes im Parteivorstand und an der Basis begraben. Als wahrscheinlich gilt deshalb, dass der Parteitag im April ein Team von mehreren Spitzenkandidaten nominiert.
Für die SPD hat Martin Schulz den Wahlkampf thematisch unter das Leitmotiv der sozialen Gerechtigkeit gestellt. Dies schließt auch Korrekturen an der Arbeitsmarkt und Sozialreform (Agenda 2010) mit ein, deren Wunden in der Partei immer noch nicht verheilt sind. So soll die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängert und befristete Beschäftigungsverhältnisse, Leih-und Zeitarbeit reduziert werden. In der Steuerpolitik wird der Hauptakzent auf der Frage liegen, wie Steuervermeidung und unfairem Steuerwettbewerb begegnet werden kann. Daneben möchte die SPD die Managergehälter begrenzen. Öffentliche Investitionen in die Infrastruktur hält sie für wichtiger als allgemeine Steuerentlastungen. Bildung soll von der Kita bis zur Universität gebührenfrei sein. In der Gesundheitspolitik wird die SPD wohl erneut für ihr Modell einer Bürgerversicherung werben, in der Rentenpolitik tritt sie für eine Erhöhung des bisherigen Mindestrentenniveaus ein.
Die Union wird im Wahlkampf vor allem auf den Erfolg ihre Politik der finanziellen Konsolidierung verweisen („Schwarze Null“). Die sich dadurch eröffnenden finanziellen Spielräume dürfte sie nutzen, um Steuererleichterungen in Aussicht zu stellen. Am weitesten gehen hier die Vorstellungen der CSU, die neben einer Bekämpfung der kalten Progression, die Einkommenszuwächse mit einer überproportional steigenden Steuerlast verbindet, auch auf eine Abschaffung des Solidaritätszuschlages dringt. Auf der Ausgabenseite könnten mehr Leistungen für Familien, eine bessere Förderung von Wohneigentum oder eine größere Unterstützung des ländlichen Raums als Ziele stehen. Bei der Rente ist eine klare Linie noch nicht erkennbar: Hier wäre z. B. denkbar, dass CDU und CSU eine Erhöhung des Renteneintrittsalters und/oder eine nochmalige Ausweitung der Mütterrente ins Spiel bringen.
Wie groß die Rolle der Themen Flucht und Asyl, Innere Sicherheit sowie der Außen- und Europapolitik im Verhältnis zur Finanz- und Steuerpolitik sein wird, ist schwer abschätzbar. Ereignisse wie ein weiterer, schwerer terroristischer Anschlag könnten den Wahlkampf von einem auf den anderen Tag verändern. CDU und CSU wird in Fragen der Inneren Sicherheit traditionell ein Kompetenzvorsprung zugeschrieben, der aber bei dieser Wahl geringer ausfallen könnte, wenn Merkel für die kurzzeitige Öffnung der Grenzen in der Flüchtlingspolitik verantwortlich gemacht wird. Das Thema Abschiebungen dürfte allein wegen der hohen Zahl nicht bewilligter Asylanträge wichtig werden, außerdem lässt es sich mit der unterschiedlichen Politik unions- oder SPD-regierter Länder gut verknüpfen. Ob die SPD eine Alternative zu Merkels und Schäubles Sparpolitik in der EU anbieten kann oder will, scheint dagegen eher fraglich. Dies würde ihr von Seiten der Union (sowie der FDP und der AfD) automatisch den Vorwurf eintragen, eine Vergemeinschaftung der Schulden anzustreben. Umgekehrt wäre es aus Sicht der Union genauso wenig ratsam, zu offensiv für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben einzutreten.
Für die kleinen Parteien gilt es, im Wahlkampf mit Themen zu punkten, die ihnen im Wettbewerb Alleinstellungsmerkmale verschaffen. Bei den Grünen wären bzw. sind das die Ökologie und eine liberale Asylpolitik, bei der FDP das Eintreten für mehr Marktfreiheit und weniger staatliche Intervention, bei den Linken der Antimilitarismus und eine konsequente sozialstaatliche Umverteilung und bei der AfD die Begrenzung der Einwanderung und Auflösung der europäischen Währungsunion. Antworten werden von den Wettbewerbern aber auch zu allen anderen Fragen erwartet, sodass dem Wähler die Übersicht bei sechs Parteien (zu denen sich noch zahlreiche weitere zur Wahl zugelassene Kleinstparteien gesellen) leicht verloren gehen kann. Formate wie der von der Bundeszentrale für politische Bildung angebotene Wahl-O-Mat, der einen Abgleich der eigenen Positionen mit den verschiedenen Wahlprogrammen der Parteien spielerisch ermöglicht, erfreuen sich darum großer Beliebtheit.
Auch aus Sicht der Parteien sind Wahlkämpfe ohne das Internet und die sozialen Medien heute nicht mehr denkbar. Einerseits erleichtern und beschleunigen sie die interne Kommunikation; die Wahlkampfteams werden vernetzt und von der Zentrale mit aktuellen Informationen und „Botschaften“ versorgt. Andererseits ergänzt der koordinierte Einsatz von Mails, SMS, Blogs, Videoportalen sowie Facebook, Twitter und Instagram die herkömmlichen Formen der Wähleransprache. Letztere büßen ihre Bedeutung dadurch nicht ein. Ein erheblicher Teil gerade der älteren Wählerschaft informiert sich nach wie vor ausschließlich auf klassische Weise, anderen nutzen die alten und neuen Formate oftmals parallel. Zwischen den Parteien gibt es dabei große Unterschiede. Am bedeutsamsten sind die sozialen Medien bei der AfD, während die Unionswähler weiterhin am besten mithilfe der traditionellen Medien erreichbar sind. Auch nicht mediale Formen der Ansprache wie die von der SPD 2009 und 2013 verstärkt eingesetzten Haustürbesuche erfahren in den Wahlkampagnen eine Renaissance und treten neben die Mittel des traditionellen Straßenwahlkampfs mit Ständen, Plakaten und Flyern.
Grafik: Twitternde Abgeordnete
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Durch den Einsatz der sozialen Medien droht der Wahlkampf nicht nur härter und konfrontativer zu werden (was unter Demokratiegesichtspunkten noch kein Problem wäre), sondern auch schmutziger und manipulativer. Definitiv überschritten wird die Fairnessgrenze mit dem Gebrauch von Social Bots, also algorithmischen Programmen, die in den sozialen Netzwerken automatisch Inhalte veröffentlichen oder teilen und dabei so tun, als seien sie reale Menschen. Einschließlich der AfD haben zwar alle Parteien erklärt, auf solche Methoden zu verzichten. Allerdings gibt es keine Gewähr, dass sich auch unautorisierte Unterstützer an diese Vorgabe halten. Am 24. September geht es insofern nicht nur darum, über die künftige Regierung zu entscheiden. Die Wahl stellt zugleich eine Nagelprobe für die politische Stabilität und den demokratischen Selbstbehauptungswillen des Landes dar, die durch äußere und innere Bedrohungen heute stärker herausgefordert werden, als wir das bis vor Kurzem geglaubt haben.
Social Bots sind automatisierte Profile in sozialen Medien. Weil sie – in der Form täuschend echter Nutzernachahmung – ein recht neues Phänomen sind, lässt sich noch wenig über ihre konkrete Wirkung sagen. […] [M]it Social Bots [kann] der erste Anschein verändert werden: Wie viel Interesse scheint für ein Thema vorhanden? Lässt sich eine Pro-Kontra-Verteilung abschätzen? Ebenso ist eine neue Form von „Automated Agenda Setting“ denkbar, dass also durch die schiere Masse automatisierter Beiträge auf Twitter und auch der Reaktion darauf bestimmte Themen erst Beachtung finden. […] Ob Social Bots auf Nutzer eine direkte, politische Wirkung haben, ist unklar. Dass sie aber die Berichterstattung redaktioneller Medien beeinflussen können, ist nachvollziehbar. Und mit der Funktion des Automated Agenda Setting ergibt sich ein Ansatzpunkt für indirekten politischen Einfluss.
Angrenzend an Social Bots ist in den letzten Jahren das Genre Social Propaganda entstanden: mehr oder weniger verdeckte politische Einflussnahme mit und in sozialen Medien. Weil man dort anonym, pseudonym oder über Strohleute publizieren kann, sind soziale Medien ein perfektes Politparadies professioneller Propaganda. […] Das ist relevant, weil die Wahlen in den westlichen Demokratien über soziale Medien und Social Propaganda beeinflussbar sind. […] Instrumente der Social Propaganda sind etwa Astroturfing, also die Online-Vortäuschung einer breiten Unterstützung, was dazu führen soll, dass sich auch echte Unterstützer anschließen – Masse wirkt anziehend, auch in sozialen Medien. Oder die Überflutungs- und Verwirrungsstrategie in Form der Veröffentlichung einer Vielzahl verschiedener Ausdeutungen von wahren, der Erfindung von falschen Ereignissen sowie der Beimengung von Unfug.
Tatsachen können so im Meinungssturm untergehen, weil es einen Graubereich zwischen „Meinung“ und „Interpretation der Realität“ gibt, der schwer durchdringlich ist. Das grassierende Misstrauen gegen traditionelle Medien wirkt dabei verstärkend: Wenn es vermeintlich „keine Wahrheit“ gibt, steht die Propagandalüge gleichberechtigt neben der aufklärenden Nachricht. Die konkrete Wirkung der vielen einzelnen Instrumente von Social Propaganda ist schwierig abzuschätzen – aber dass Propaganda eine Wirkung hat, ist belegt. Das dürfte auch für ihre Social-Media-Schwester gelten. […]
Manch einer prahlt damit, dieses Mal zu Hause zu bleiben. Dabei gibt es nichts Besseres als nach der Wahl zu wissen, an etwas Großem mitgewirkt zu haben. Überzeugen Sie sich selbst, warum Nichtwählen die falsche Entscheidung ist.
Grund 1: Wählen tut gut! Dieser Moment, nach dem die Wahlzettel in der Urne verschwinden, ist immer wieder ein Genuss. Für viele ist das ja ohnehin einer der seltenen Momente im Leben, in denen sie aktiv die ganz große Politik mitbestimmen können. Wer darauf verzichtet, der verpasst etwas!
Grund 2: Jede Stimme zählt! Die Entscheidung, wer das Land regiert, kann ganz schnell von ganz wenigen Stimmen abhängen. Im Zweifel genau von Ihrer. Von wegen, Ihre Stimme hat kein Gewicht! Am Ende kann sie genau die sein, die ihrer Partei an die Macht verhilft – und damit dorthin, wo sie in ihrem Sinne das Land gestalten kann.
Grund 3: Wählen ist Bürgerpflicht! Nein, nicht im juristischen Sinne. Niemand kann hierzulande dazu gezwungen werden. Aber aus dieser Freiheit erwächst auch die Verantwortung, sich zu kümmern um das Land. Und dazu zählt mindestens, zur Wahl zu gehen. Ein demokratisches Wahlrecht ist übrigens weltweit gesehen ein echtes Luxusgut. […]
Grund 4: Nichtwählen aus Protest funktioniert nicht! Also mal angenommen, Sie sind ein Protest-Nichtwähler. Das ist Ihr gutes Recht. Aber: Sie schaden damit keiner Partei. Beispiel Wahlkampfkostenerstattung: Welche Partei wie viel vom Staat bekommt, entscheidet der Prozent Anteil. Und der wiederum errechnet sich aus den gültig abgegebenen Stimmen. Das gilt auch für die Sitze im Bundestag. Ihre nicht abgegebene Stimme fällt also einfach unter den Tisch. Weh tut das keiner Partei. […]
Grund 5: Die Faulheits-Ausrede ist eine faule Ausrede! Schauen Sie sich um! Jede Straße, jedes Haus, die Kita ums Eck, [die Schule,] der Arbeitsplatz, alles, einfach alles um Sie herum betrifft Sie direkt. Und alles hat irgendwas mit Politik zu tun. Wollen Sie wirklich anderen überlassen, wer über das bestimmt, was Sie direkt angeht? […]
Grund 6: Sie können ihre Kompromissfähigkeit in der Wahlkabine testen! Keine Partei wird Ihnen all das geben, was Sie sich von ihr wünschen. Aber manche machen auf Sie vielleicht einen etwas besseren Eindruck als andere. Die einen wollen die Steuern für Reiche erhöhen. Die anderen wiederum halten die Belastung für hoch genug. Ja, das ist auch die Qual der Wahl. Aber hat ja keiner gesagt, dass Demokratie einfach wäre. […]
Grund 7: Es geht ausnahmsweise nicht nur um Sie! Im Ernst: Wer wählen geht, nur um das Beste für sich rauszuholen, der hat das mit der Demokratie noch nicht ganz verstanden. Der Staat ist nicht dafür zuständig, jeden Menschen glücklich zumachen. Sondern die vielen unterschiedlichen Interessen, Ideen und Vorstellungen in diesem Land zu bündeln und auf einen Nenner zu bringen. Also: Wenn Sie hoffentlich zur Wahl gehen, denken Sie doch bitte für einen Moment auch darüber nach, auf wessen Kosten Sie ihre Stimme abgeben.
Grund 8: Frische Sonntagsluft tut jedem gut! Okay, es ist gemütlicher, am Sonntagmorgen im Bett zu bleiben. Aber die Wahllokale haben ja bis 18 Uhr geöffnet. Ein kleiner Ausflug am Nachmittag schadet nicht und Sie tun etwas für die Demokratie. Großartig! Übrigens, falls es regnet: Es gibt da diesen Gebrauchsgegenstand, der Regenschirm heißt. Zu Hause bleiben gilt nicht!
Grund 9: Sie helfen damit der Demokratie! Stellen Sie sich vor, es ist Demokratie, und keiner geht hin? Was denn bitte dann? Wenn niemand wählen würde – die Demokratie wäre tot. Also zurück zur Monarchie? Oder irgendeinem netten Diktator das Regieren überlassen? Nein, bitte nicht! Jedes demokratische Volk hat die Regierung, die es gewählt hat. Und wenn Ihnen die nicht passt, dann wählen Sie halt eine andere oder gründen selbst eine Partei. Sind Sie überzeugend genug, dann können Sie Kanzler werden. In einer Diktatur oder Monarchie hätten Sie nichtmal die Chance dazu.
Grund 10: Wählen erinnert uns daran, dass Politik zwischen den Wahlen nicht aufhört! Stimme abgeben und dann einfach nicht mehr dran denken, das wär jetzt auch blöd. Handeln Sie politisch. Oder nein, das machen Sie ja ohnehin: Mit jeder Kaufentscheidung, mit jeder Flugreise, mit der Wahl Ihres Autos und Ihres Wohnortes. Alles ist politisch. Seien Sie sich dessen einfach bewusst.
Ein Abreißkalender vor einer Blumentapete mit dem Datum Sonntag, 24. September, dem Wahltag 2017
Behnke, Joachim u. a.: Reform des Bundestagswahlsystems. Bewertungskriterien und Reformoptionen, Gütersloh (im Erscheinen)
Bender, Justus: Was will die AfD? Eine Partei verändert Deutschland, München 2017, 208 S.
Crouch, Colin: Postdemokratie, übersetzt von Nikolaus Gramm, Berlin 2008, 150 S.
Decker, Frank: Parteiendemokratie im Wandel. Beiträge zur Theorie und Empirie, Baden-Baden 2016, 265 S.
Decker, Frank / Jesse, Eckhard (Hg.): Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013, 669 S.
Jesse, Eckhard / Sturm, Roland (Hg.): Bilanz der Bundestagswahl 2013. Akteure und Strukturen, Baden-Baden 2014, 136 S.
Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland. Grundsätze, Verfahren und Analysen (Reihe: bpb Zeitbilder), Bonn 2017, 164 S.
Mörschel, Tobias (Hg.): Wahlen und Demokratie. Reformoptionen des deutschen Wahlrechts, Baden-Baden 2016, 270 S.
Schäfer, Armin: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M. / New York 2015, 332 S.
www.hoaxmap.org, faktenfinder.tagesschau.de
Seiten zum Umgang mit und zur Widerlegung von Fake News
www.mitmischen.de
Jugendportal des Deutschen Bundestags
www.regierungsforschung.de
Online-Magazin für wissenschaftlich interessiertes Publikum
Toyka-Seid, Christiane / Rosenthal, Katrin: Bundestagswahlen – jetzt versteh ich
das!
HanisauLand Sonderheft, Bonn 2014, 45 S.
Arbeitsheft für Schüler/innen
der Klassen 3 bis 8
www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/wahlen
Unterrichtsmaterialien zum Thema Wahlen
Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964 in Montabaur, hat seit 2001 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne. Seit 2011 ist er außerdem Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP).
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