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Meinung: Von Schimären und andere Aberglauben

Rolf C. Peter

/ 8 Minuten zu lesen

Sprachen verfallen nicht, sie verändern sich lediglich - meint der Sprachenexperte Rolf C. Peter. Die Angst vor dem Niedergang der deutschen Sprache ist unbegründet - und damit auch ihre Verankerung im Grundgesetz.

Rolf C. Peter

Ja. Ich halte nichts davon, die deutsche Sprache im Grundgesetz zu verankern. Vielmehr stellt sich doch die Frage, was uns Deutsche alle jahrelang aufs Neue glauben lässt, unsere Sprache sei irgendwie gefährdet. Was ist es eigentlich, das bewirkt, dass mit jedem neuen Fremdwort der Untergang unserer Sprache prophezeit wird, anstatt auf die Kraft und Wandelbarkeit unserer Muttersprache zu vertrauen?

Woher rühren die Ängste?


Wie in allen Kultursprachen gibt es auch im Deutschen eine große Zahl von Wörtern aus anderen Sprachen. Es sind aber deutlich weniger als in vielen anderen Sprachen. Deutsch liegt, was den Anteil von Fremdwörtern in Bezug zum Grundwortschatz anbelangt, im Mittelfeld. Und diese Fremdwörter sind zu einem großen Teil keine fremden, sondern seit langem bekannte und gebräuchliche Wörter, die ihren festen Platz in der Sprachgemeinschaft haben. Bei vielen Fremdwörtern hat sich die Aussprache deutschen Gewohnheiten angeglichen, oder sie sind aufgrund ihrer Schreibung, ihrer grammatikalischen Integration in ihrer Wortgestalt nicht mehr als solche zu erkennen. Forelle, Radio, Auto, Möbel, Balkon, Hobby oder Tante werden längst nicht mehr als Fremdworte wahrgenommen.

Die Grenzen zwischen fremdem und integriertem Wort sind also fließend. Nur etwa 6 Prozent unseres Grundwortschatzes sind Fremdworte, und wenn wir deren Verwendungshäufigkeit betrachten, also deren tatsächlichen Anteil an gesprochener oder geschriebener Sprache, so sinkt dieser Anteil auf lediglich 4 Prozent. Und die historische Betrachtung lehrt uns, dass es selten mehr oder weniger waren. Allen griechischen, lateinischen, französischen, englischen und aktuell angloamerikanischen Einflüssen zum Trotz: stets etwa 4 Prozent. Die Aufnahme und der aus dem Sprachgebrauch fallende Anteil an Fremdwörtern halten sich damit seit Jahrhunderten die Waage.

Die Aufgaben des abstrakten Denkens und der Begriffsdifferenzierung können längst nicht mehr mit dem Gemeinwortschatz allein bewältigt werden. Wissenschaftler und andere Fachleute haben seit Jahrhunderten an ihren Terminologien gearbeitet und dabei fremde Sprachen zu Hilfe genommen. Deutsch hat dafür Tausende neuer Wortstämme gewonnen, die sie zu einer leistungsfähigen, ausdifferenzierten modernen Kultursprache gemacht haben. Manch einer mag der Meinung sein, die neuen Wörter könnten doch ebenso gut (oder für die Verständlichkeit noch besser) aus dem Stoff des bestehenden deutschen Wortschatzes gebildet werden. Nach diesem Prinzip würde aber alles Neue immer nur vom alten Bestand abgeleitet, jede innovative Weiterentwicklung wäre unterbunden.

Dabei entscheiden stets die Sprecher einer jeden Sprache, welches Wort sie für ihre Kommunikationsabsichten für die am besten geeignete Wahl halten - und diese Wahl basiert in der Regel auf seiner Leistung, nicht seiner Herkunft. Denn mitunter bringen Fremdwörter ein komplexes Phänomen viel besser auf einen kurzen Begriff. Der Begriff der Fairness etwa wäre hier zu nennen, für mich der Inbegriff eines Fremdwortes, das mit facettenreichen Assoziationen verknüpft ist, die kein entsprechendes deutsches Wort aufweist.

Die seit spätestens dem 17. Jahrhundert einsetzenden, sich wiederholenden allgemeinen Niedergangsszenarien und Fremdwortkritiken betrachten die "Überfremdung der deutschen Sprache" also aus einer Perspektive, die wenig aussagt über das Objekt, aber viel über die Befindlichkeit derer, die diese vorbringen. Hier wird auf einen bestimmten sprachlichen Zustand insistiert, um ihn gegenüber aller Veränderung zu bewahren. Kurioserweise gibt es dabei eine interessante Konstante: Die Zustände, die den Späteren als rein und glücklich erscheinen, kamen den Zeitgenossen meist bereits als rettungslos verkommen vor.

Schon die Breite und die Sicherheit der sprachlichen Leistung im alltäglichen Gebrauch sollten uns davor bewahren, die Idee des Sprachverfalls ernst zu nehmen. Lassen Sie mich den Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Peter Eisenberg zitieren: "Die deutsche Sprache war noch nie so gut in Form wie heute. Gar keine Frage! Das Deutsche hatte noch nie einen so großen Wortschatz. Und wir haben heute im Bereich der Syntax wahnsinnig feine Differenzierungsmöglichkeiten – viel größere etwa als zur Zeit der Klassik. Außerdem hat es noch nie so vielfältige Verwendungsmöglichkeiten des Deutschen gegeben. Wir haben eine ausgebaute Wissenschaftssprache, eine ausgebaute Literatursprache, eine ausgebaute Mediensprache. Sie können hingucken, wohin Sie wollen: An unserer Sprache liegt es nicht, wenn wir nicht gut sprechen. Sie gibt uns alle Möglichkeiten – und die waren noch nie so vielfältig wie heute."

Um es deutlich zu sagen: Sprachen verfallen nicht, sie verändern sich. Veränderungen, Abweichungen, Ergänzungen spiegeln den ständigen Anpassungsprozess wider, der gewährleistet, dass Sprachen die ihnen zugedachten Kommunikationsleistungen für ihre Sprecher erfüllen. Sprachwandel sichert die Expressivität einer jeden Sprache. Dies gilt unabhängig davon, wie und warum sich Sprachen verändern. Vielmehr geht es um Fragen der Einschätzung und Bewertung sprachlicher Veränderungen. Also wieso Veränderungen stets als Anzeichen drohenden Verfalls gelesen werden. Unglücklich, ja falsch ist das damit verbundene Bild einer bedrängten, hilflosen Sprache, und noch viel fragwürdiger erscheint die sich darin widerspiegelnde Annahme einer reinen, unverfälschten, richtigen Sprache. Welch nostalgische Illusion! Sprache ist eine immer wieder neu zu erschaffende Errungenschaft, deren idealer Zustand Fiktion ist.

Deutsch im Grundgesetz


Das zentrale Argument für die Aufnahme von Deutsch in das Grundgesetz lautet: Durch die Erhebung der deutschen Sprache in den Verfassungsrang machen wir deutlich, welche Bedeutung und Wertschätzung wir unserer Sprache einräumen.

Aber: Welches Deutsch eigentlich? Denn spätestens mit dem Begriff des Deutschen im Sinne einer "Sprachkultur" wird das Thema der Norm virulent. Das Dilemma einer solchen Norm besteht nun darin, dass der Maßstab für die Normierung einer lebendigen Kultursprache letztlich nichts anderes sein kann als der allgemeine Sprachgebrauch (wie es auch der DUDEN wohlweislich zu Markte trägt). Und wer vermag als letzte Instanz zu fungieren? Der Grammatiker für die Sprachrichtigkeit? Aber ist das dann auch noch gutes Deutsch? Und wie wollen wir es mit Veränderungen, Weiterentwicklungen halten? Es handelt sich ja um eine Untersuchung am lebenden Objekt: Das Richtige ist das Bestehende? Das Alte das Bessere? Sprachkultur als konservatives Konzept? Sprachkritik wird schnell zum Vehikel einer Kulturkritik.

Fremd- wie Lehnwörter sind auch Ausdruck dessen, dass unsere Kultur neben allem Nationalem stets auch internationale Komponenten in sich trägt. Bereits die Lektüre der Geistesproduktionen der deutschen Sprache offenbart die ganze Bandbreite der humanistischen Tradition des Abendlandes, wie auch Thomas Steinfeld in seinem Buch "Der Sprachverführer" wunderbar ausführt. Bei der nächsten Patriotismus- oder Leitkulturdebatte sei daher mit Umsicht argumentiert.

Belassen wir unser Grundgesetz als das was es ist: Die – in Erfahrungen begründete – Sicherung der Grundrechte. Selbstverständlichkeiten gehören nicht ins Grundgesetz. Die beabsichtigte Signalwirkung mag sich nämlich durchaus ins Gegenteil verkehren: Dass mit unserer Sprache etwas nicht in Ordnung sei, wir sie für gefährdet halten. Welch fatales Bild, das der Vermittlung unserer Sprache im In- und Ausland ohnegleichen abträglich wäre.

Im Übrigen ist Deutsch bereits Amtssprache in der Bundesrepublik Deutschland. Das wird in einigen Gesetzen geregelt. In § 23 des Bundesverwaltungsverfahrensgesetzes ist die deutsche Sprache in Parlament und Gerichten längst verpflichtend. Obwohl eine ausdrückliche Nennung im Grundgesetz fehlt, steht die rechtswissenschaftliche Literatur überwiegend auf dem Standpunkt, dass die deutsche Sprache bereits jetzt Verfassungsrang habe.

Das französische Beispiel – und nicht zuletzt die Orthographiereform – lehren uns, dass man Kultur, dass man Sprache, schon allein ihrem Wesen nach, nicht administrieren kann. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe lässt sich nicht durch Appellation an den Gesetzgeber lösen.

Eine Norm, die die deutsche Sprache dezidiert in den Verfassungsrang hebt, was soll sie bewirken? Man muss auch fragen, ob der geforderte Aktionismus sich solchermaßen nicht im symbolischen Akt erschöpft, und wenig Einfluss auf das gesellschaftliche Verhalten hat, ja, schlimmer noch: dass die Politik sich damit aus dem Engagement zur Förderung der deutsche Sprache zurückziehen könnte.

Spätestens mit Aufnahme von Deutsch in das Grundgesetz muss zudem die berechtigte Frage nach den Sprachenrechten von Minderheiten, angestammten wie auch zugewanderten Minderheiten, gestellt werden. Die deutsche Sprache gehört niemandem, vor allem ist sie nicht allein unsere Sprache, denken wir an Österreich und die Schweiz. Dies mag für uns Deutsche besonders schwer zu ertragen sein, stand wie kaum woanders, in Deutschland allein und zuerst die Sprache für die Nation.

Das renommierte Institut für Deutsche Sprache in Mannheim hat zusammen mit dem Deutschen Sprachrat 2008 eine bundesweite Repräsentativumfrage zu Spracheinstellungen in Deutschland durchgeführt. Dabei gaben 58 Prozent der Befragten an, ein Gesetz zum Schutze der deutschen Sprache nicht für notwendig zu erachten. Der Petitionsausschuss schloss sich im Mai 2009 dieser Haltung an: "Eine Ergänzung des Grundgesetzes um den Passus ‚Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch‘ bzw. die Schaffung sonstiger Vorschriften zum Schutze der deutschen Sprache werden ... nicht für erforderlich gehalten." Der Bundestag folgte der Empfehlung des Petitionsausschusses.

Unbestreitbarer Unsinn


Es stimmt jedoch, dass mit der aktuellen Übernahme englischen Wortguts (wobei 80 Prozent der sogenannten Anglizismen wiederum ursprünglich dem Griechischen, Lateinischen oder Romanischen entspringen) sicher auch der eine oder andere, zumeist modische Unsinn in unsere Umwelt Eingang gefunden hat. Die Verwendung englischer Wörter dient manchem Zeitgenossen als Ausweis einer modernen Lebenseinstellung. Es kommt dabei stets darauf an, ob bestimmte Termini in einem Kontext verwendet werden, der ihre Bedeutung auf den sprachüblichen Sinn hin bestimmt, ob sie gegenüber Gesprächspartnern oder einem Publikum verwendet werden, die aufgrund ihrer sprachsoziologischen Voraussetzungen diese Bedeutungsbestimmung nachvollziehen können. Wo das nicht der Fall ist, wo mit undefinierten Wörtern aus gruppengebundenen Wortschatzbereichen eitler, leichtsinniger oder böswilliger Missbrauch getrieben wird, wo sich ein Sprecher solcher Wörter nur bedient, um Anderen mit modischen Wortklängen zu imponieren, stellt dies möglicherweise mehr den Sprecher bloß, als dass es die Sprache selbst gefährden könnte. Aber dies gilt nicht nur für Fremdwörter, sondern für alle Sprachformen. Adressatenangepasstes Sprechen ist eben auch kommunikative Fairness. Natürlich gibt es aus dem vermeintlichen oder tatsächlichen Englischen Sprachungetüme, denen vermutlich durch geflissentliches Übersehen ein schnellerer Tod bereitet wird als durch den hochgereckten Zeigefinger. Wenn sich das Reisebüro (übrigens auch dieses ein eingewandertes Wort) neuerdings mobility center nennt, dann ist dies in der Tat kritisch zu hinterfragen.

Gewusste und bewusste Gestaltung von Verwendungs- und Veränderungsprozessen kann, wie in anderen Bereichen auch, langfristig nur durch Schulung und der Sprecher gelingen. Dies im Sinne vom Sensibilisierung und Verantwortungsbewusstsein für das kostbare Gut, mit dem sie hantieren. Hier sind aber keine Gesetze gefragt, sondern vor allem qualifizierte Lehrer, Sprachunterricht für Muttersprachler und Migranten sowie Leseförderung. Man rettet eine Sprache nicht, indem man ihren vermeintlichen Untergang beklagt, sondern indem man die Mühe auf sich nimmt, die Menschen von ihr zu begeistern.

Wir alle lieben unsere Sprache


Die verschiedenen Sprachen sind verschiedene Zugänge, die Welt zu entdecken. Jede Sprache stößt dabei an ihre Grenzen. Aber mit der Vielfalt der Sprachen bietet jede etwas, das die andere nicht hat. Und die deutsche Sprache zeigt sich als durchaus gerüstet, dieser Vielsprachigkeit – auch im eigenen Lande – produktiv zu begegnen. Die Frage nach der Zukunft des Deutschen stellt sich ohnehin nicht in Konkurrenz zu anderen Sprachen, sondern wir sollten sie als das betrachten, was sie ist: eine der großen und modernen Sprachen Europas.

Dieser Text und die darin gemachten Angaben basieren auszugsweise aus nachfolgenden, dem geneigten Leser zur Lektüre anempfohlenen Werken:

  • Karl-Heinz Göttert "Deutsch. Biografie einer Sprache", Berlin, Ullstein-Verlag, 2010

  • Richard Schrodt "Warum geht die deutsche Sprache immer wieder unter? Die Problematik der Werterhaltungen im Deutschen", Wien, Passagen-Verlag, 1995

  • Thomas Steinfeld "Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann", München, Carl-Hanser-Verlag 2010

  • Peter Eisenberg: "Die deutsche Sprache war noch nie so gut in Form wie heute", Interview im Rahmen des Projekts "Die Macht der Sprache", des Goethe-Instituts, Juni 2007, Externer Link: http://www.goethe.de/lhr/prj/mac/spw/de2397004.htm

  • "Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland", Institut für deutsche Sprache, Mannheim und Universität Mannheim, 2009

  • Ein Fremdwort – was ist das? DUDEN. Das Fremdwörterbuch. Zusammenstellung von Artikeln auf der DUDEN-Homepage, hier S. 122f., Externer Link: http://www.duden.de/downloads/produkte/
    duden05/fremdwort_freund_oder_feind.pdf

Fussnoten

Studium der Politikwissenschaften und Kommunikationswissenschaften in München. Arbeitet als freier Redakteur und Projektmanager im Bereich Sprache und Sprachenpolitik unter anderem für das Goethe-Institut, den Deutschen Sprachrat und Weitere.