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Bolivien: Vom Zusammenstoß zum Dialog der Kulturen? | Lateinamerika | bpb.de

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Bolivien: Vom Zusammenstoß zum Dialog der Kulturen?

Robert Lessmann

/ 7 Minuten zu lesen

In Bolivien wird über die Zukunft des Landes so breit und intensiv gestritten wie niemals zuvor. Zum ersten Mal sind an diesen Gesprächen alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt - auch Soziale Bewegungen.

Koka-Bäuerinnen protestieren in Chimore, Bolivien, gegen das Koka-Anbauverbot. (© AP)

Die Wahlen vom 18. Dezember 2005 brachten einen politischen Erdrutsch. Zum ersten Mal seit 500 Jahren steht ein "Indio" an der Spitze des Staates: Präsident Evo Morales Ayma aus dem Volk der Aymara. Aufgewachsen in ärmsten Verhältnissen und ohne höhere Bildung war Morales´ wichtigste Qualifikation die eines kampferprobten Führers der Kokabauern. Fragt man die Menschen auf dem Lande, warum sie ihn gewählt haben, so ist die häufigste Antwort: "Weil er einer von uns ist!"

Die Neuwahlen waren von einer Volksbewegung erzwungen worden, die zwei Präsidenten gestürzt hatte: "Goni" Sánchez de Lozada im Oktober 2003 sowie dessen Nachfolger Carlos D. Mesa im Mai 2005. Einer historischen Wahlbeteiligung von 84% folgte ein historisches Ergebnis: Mit 53,7% lag der Wahlsieger 25 Prozentpunkte vor dem zweiten. Morales versprach eine "Neugründung Boliviens". Einer Regierung der sozialen Bewegungen wolle er vorstehen.

Bolivien hat seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1825 mehr Regierungen erlebt als Jahre. Eine Volkserhebung hatte 1952 dem Wahlsieger MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario) an die Regierung geholfen und die vom Militär gestützte alte Oligarchie gestürzt. Die Minen wurden verstaatlicht, das allgemeine Wahlrecht eingeführt – erstmals auch für Frauen, Analphabeten und Arme - und im Rahmen einer Landreform das Land an jene verteilt "die es bebauen". Doch richtete sich diese Maßnahme nicht nur gegen den Großgrundbesitz, sondern auch gegen uralte Formen kollektiver dörflicher Organisation in den Anden. Auf der politischen Ebene stand nun der "freie Staatsbürger" dem andinen Kollektiv gegenüber. "Die Menschenrechte der Indios gelten erst, wenn sie aufhören Indios zu sein", formulierte die Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui sarkastisch. Indes: Noch heute tagt vor den Wahlen (wie bei allen wichtigen Entscheidungen, die das Dorf betreffen) vielerorts der Ältestenrat um zu beschließen "wen wir wählen". Unter der Decke eines politischen Systems, das nach westlichem Muster gestrickt ist, besteht eine indianische Parallelwelt fort; vielfach missachtet oder als rückständig geschmäht. Eine oftmals un- oder missverstandene Kultur des Widerstands

Mit dem Bergbau als wichtigstem Wirtschaftssektor war der 1952 gegründete Gewerkschaftsbund COB um die Gewerkschaft der Minenarbeiter herum organisiert, die sich als trotzkistisch orientierte Speerspitze des Proletariats verstand und mit Streiks und machtvollen Demonstrationen selbst in der Zeit der Militärdiktaturen (1964-82) immer wieder Veto gegen bestimmte Maßnahmen einlegen konnte. Mit dem Zinnkrach von 1985 Jahre brach die staatliche Minengesellschaft COMIBOL zusammen. Tausende Bergarbeiter wurden entlassen. Die Streikwaffe wurde stumpf und die COB verlor an Bedeutung. Eine neoliberale Strukturanpassung nach dem Strickmuster des IWF zügelte die Inflation und öffnete die Märkte. Die ohnehin krisenhafte Landwirtschaft auf dem Altiplano war nun mit der Konkurrenz aus den klimatisch begünstigteren und höher technisierten Nachbarländern konfrontiert. Verarmte Bauern und entlassene Minenarbeiter folgten dem Nachfragesog nach Koka ins unerschlossene Tiefland des "Chapare" oder gingen in die Armutsgürtel der Städte.

Dort schwoll der informelle Sektor auf bis zu zwei Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung an. Man schlug sich irgendwie durch, zahlte keine Steuern, aber man organisierte sich: "Berufsgenossenschaften" und Nachbarschaftskomitees entstanden. Die bolivianische Gesellschaft ist in hohem Maße organisiert. In den neuen Kokaanbauzonen im subtropischen Regenwald gründeten sich sindicatos, um in Abwesenheit des Staates als lokale Selbstorganisation Gemeinschaftsaufgaben von der Rodung bis hin zur öffentlichen Sicherheit wahrzunehmen. Das erste Regierungsorgan, mit dem man dort Bekanntschaft machte, war die Drogenpolizei, die auf Druck der internationalen Gemeinschaft den Kokaanbau bekämpfte. Im Widerstand dagegen wurden die sindicatos der Kokabauern zu einer der bestorganisierten und machtvollsten Bewegungen der Zivilgesellschaft in Lateinamerika.

Bolivien wurde ab Mitte der 1980er Jahre zur formal stabilen Demokratie und zum Hätschelkind und Experimentierfeld der internationalen Entwicklungskooperation, die zuletzt jährlich zwischen 7 und 10% des Bruttoinlandsprodukts entsprach und nahezu 100% der öffentlichen Investitionen abdeckte. Wichtige strategische Weichenstellungen für das Land wurden im Ausland entworfen und von den Regierungen in La Paz exekutiert, was die Glaubwürdigkeit der Politik schmälerte und das Souveränitätstrauma verstärkte. An Armut und sozialer Ungleichheit änderte sich indessen wenig: Bolivien belegt Platz 117 beim Human Development Index der Vereinten Nationen und ist damit das Schlusslicht Südamerikas. 42% der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von zwei USD pro Tag. Es herrscht zudem krasse Ungleichheit: Auf die ärmsten 10% der Bevölkerung entfallen 0,3% von Einkommen und Konsum, den reichsten 10% kommen 47% zu. Dabei verlaufen die Grenzen zwischen Arm und Reich weitgehend parallel zu denen der ethnisch-kulturellen Diskriminierung.

Die große Mehrheit der Bolivianerinnen und Bolivianer versteht sich als Indígenas. Kollektive Strukturen, deren Ursprünge bis weit vor die spanische Conquista reichen, lebten als Kultur des Widerstands in den sozialen Organisationen fort, wo sie sich mit sozialistischem Gedankengut vermengten. Der Niedergang der COB mit ihrem klassenkämpferischen Diskurs leitete eine Rückbesinnung auf die indianischen Wurzeln ein. Legendär wurde der Marsch der Tieflandindianer "für Land und Würde" im Jahr 1990. Aus den Reihen der 1979 gegründeten Kleinbauerngewerkschaft Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos Bolivianos (CSUTCB) erwuchsen gar ethno-rassistische Tendenzen um Felípe Quispe, der eine nación aymara forderte, was zur Spaltung der CSUTCB führte. Quispe zog mit seiner Partei im Jahr 2002 immerhin mit 6% der Stimmen ins Parlament ein.

"Wasserkrieg von Cochabamba"

Beim "Wasserkrieg von Cochabamba" hatte im Jahr 2000 eine lose Bewegung aus städtischen Nachbarschaftsvereinigungen und ländlichen Bewässerungskomitees die Rücknahme der Privatisierung der Wasserversorgung und der damit verbundenen Tariferhöhungen erkämpft. Ein Fanal: Erstmals seit den glorreichen Zeiten der COB hatte sich gezeigt, dass man gewinnen konnte! Proteste gegen Steuererhöhungen, Wasserprivatisierung in El Alto, den geplanten Gasexport über Chile und anderes rissen nicht mehr ab. Das Exportvorhaben über den historischen Erzfeind und die arrogante und gewalttätige Vorgehensweise der Regierung schweißten nun die unterschiedlichsten Gruppen zusammen: Ging es doch um das alte Ressourcentrauma, den so empfundenen Ausverkauf der nationalen Rohstoffe! Quispes Aymara-Bauern und die Nachbarschaftskomitees der Satellitenstadt El Alto waren für den Sturz des wegen seines englischen Akzents "El Gringo" genannten Präsidenten Sánchez de Lozada von entscheidender Bedeutung. Konnten sie doch durch ihre Blockaden den Regierungssitz La Paz von der Versorgung abschneiden.

Bei den Wahlen vom Dezember 2005 verschwand Quispes Partei dennoch vorerst in der Bedeutungslosigkeit. Evo Morales´ MAS triumphierte als die weniger radikale und auch für städtische Mittelschichten und Intellektuelle offene Alternative. Innerhalb weniger Jahre hatte sich MAS von der singulären Kokabauernpartei zum Kristallisationkern für Unzufriedene im ganzen Land entwickelt, zur politischen Heimat jener, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Hintergrund ist der vollständige Glaubwürdigkeitsverlust der Altparteien, von denen nur noch das traditionsreiche MNR (mit 6%) die Wahlen von 2005 überstand. Der MAS gelang dabei nicht nur die Fusion der sozialen mit der ethnischen Frage, sondern auch die Besetzung des nationalen Souveränitätstraumas, was der Partei Wähler auch aus dem bürgerlichen Bereich brachte, liegen ihre Wurzeln doch im jahrelangen Kampf gegen die vom Ausland aufoktroyierte Koka-Vernichtungspolitik. Nicht zuletzt lautet der vollständige Name der MAS: Movimiento al Socialismo – Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos.

MAS möchte nicht Partei sein, sondern Instrument der sozialen Bewegungen. Doch während die ersten Monate an der Regierung von viel Voluntarismus und wenig Erfahrung gekennzeichnet waren, von Improvisation und Pragmatismus, von "radikaler Rhetorik und moderaten Maßnahmen", wie es der Soziologe Fernando Mayorga nannte, wurden bereits Zentralismusvorwürfe laut. Von den beiden Exponenten des Indigenismus im Kabinett, Félix Patzi (Bildung) und David Choquehuanca (Außen), wurde ersterer ausgetauscht, während die Außenpolitik ohnehin weitgehend von Präsident und Vizepräsident gemacht wird. Von den expliziten Vertretern sozialer Bewegungen mussten Bergbauminister Walter Villaroel (zu große Nähe zum Kooperativsektor) und Justizministerin Casimira Rodríguez (Überforderung) gehen; das gleiche Schicksal ereilte den Vizeminister für Koka und integrierte Entwicklung, Félix Barra, einen Kokabauernführer aus den Yungas. Wasserminister Abel Mamani musste wegen eines Sexskandals gehen.

Bereits dreimal fanden Seminare statt, auf denen die Regierungsarbeit von den sozialen Organisationen evaluiert wurde. Das ist neu, aber informell. Es ist nicht klar, nach welchem Schlüssel eingeladen und auf welcher Grundlage entschieden wird. Evo Morales´ Regierung der sozialen Bewegungen steht erst noch vor der Herausforderung, permanente Kanäle für eine effektive Interessenartikulation dieser Bewegungen zu schaffen.

Auch die Besetzung der verfassungsgebenden Versammlung mit Vertretern der Zivilgesellschaft wurde weitestgehend über die politischen Parteien kanalisiert. Die Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung (auch jene der MAS) wehrten sich gegen, wie sie sagten, ständige Einmischungen aus dem Präsidentenpalast. Dabei war der Verfassungskonvent durch einen Streit zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion um Verfahrensfragen acht Monate lang nicht arbeitsfähig. Ständige Demonstrationen unterschiedlicher Interessengruppen lähmten oft das öffentliche Leben am Tagungsort, bis dieser unter bürgerkriegsnahen Umständen schließlich aufgegeben werden musste. Unter chaotischen Umständen wurde ein Verfassungsentwurf verabschiedet. Die Mehrzahl der Oppositionsfraktionen blieb der Abstimmung fern. Die oppositionellen Tieflanddepartments verabschiedeten daraufhin eigene Autonomiestatuten. Es ist vorerst noch nicht gelungen, die Konfrontation in einen Dialog der Kulturen zu überführen. Im Gegenteil! Bolivien steht vor einer neuen Zerreißprobe. Aber: Noch nie in der Geschichte Boliviens wurde so breit und intensiv über die Zukunft des Landes gestritten – und noch nie waren dabei die Unterprivilegierten und Marginalisierten und ihre sozialen Organisationen so breit beteiligt. Allein das ist eine kleine Revolution!

Literatur

"Bolivien: Revolution mit dem Stimmzettel?", in: Berger, Herbert/ Gabriel, Leo (Hg.):

"Lateinamerika im Aufbruch – Soziale Bewegungen machen Politik", Mandelbaum-Verlag, Wien, 2007.

"Zum Beispiel: Bolivien", Lamuv-Verlag, Göttingen, 2004.

"Zum Beispiel: Kokain", Lamuv-Verlag, Göttingen, 2001.

"Drogenökonomie und internationale Politik", Vervuert-Verlag, Frankfurt/M., 1996.

Weitere Inhalte

Robert Lessmann ist promovierter Soziologe und Politologe. Er arbeitet als Consultant und freier Journalist, unter anderem als Mitarbeiter der Zeitschrift Externer Link: Lateinamerika Anders