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"Die Hoffnung ist erwacht" | bpb.de

"Die Hoffnung ist erwacht"

Nasrin Alavi

/ 4 Minuten zu lesen

Kurz vor den Wahlen in Iran am 12. Juni ist die verbreitete Politikverdrossenheit leidenschaftlichen Diskussionen gewichen. Erstmals gab es TV-Debatten der Präsidentschaftskandidaten im staatlichen Fernsehen. Irans Innenstädte erlebten beispiellose Kundgebungen der Reformanhänger.

Iranische Künstler und Schriftsteller haben schon seit langem mit drakonischen Regeln und Einschränkungen zu kämpfen. Doch die Wahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad im Jahr 2005 brachte eine neue Zensur hervor, durch die der Autoritarismus in noch viel mehr Bereichen spürbar wurde; sogar bereits veröffentlichte Externer Link: Bücher wurden verboten (Webseite in Englisch).

Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi, die Herausforderer des Reformlagers im Präsidentschaftswahlkampf 2009, haben sich beide gegen solche Restriktionen ausgesprochen. Insbesondere Mussawi kündigte an, "die Zensurgesetze zu beenden". Wenig überraschend hat dies zu einem stetigen Anwachsen einer Externer Link: Liste von Befürwortern Mussawis (Webseite in Persisch) unter Irans wichtigsten Schriftstellern, Künstlern, Schauspielern und Filmemachern geführt.

Für die Reformer, wie Mussawi, ist eine hohe Wahlbeteiligung entscheidend für den Sieg. Konservative Anhänger von Ahmadinedschad können zur Wahl leichter mobilisiert werden. Derweil erörtern Experten, dass Ahmadinedschad "im ersten Wahldurchgang" am 12. Juni die Unterstützung von maximal 12 Millionen erhalten wird; eine Wahlbeteiligung von mehr als 30 Millionen könnte für den amtierenden Präsidenten von Nachteil sein. Wenn der führende Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen weniger als 50 Prozent der Stimmen erhält, gibt es am 19. Juni eine Stichwahl. Kein iranischer Präsident ist jemals an der Wiederwahl für eine zweite Amtszeit gescheitert. Ahmadinedschad ist allerdings auch der einzige, der sich einer Stichwahl stellen musste, um im Jahre 2005 Präsident zu werden.

Mussawi – ein Architekt, der für das Volk spricht


In einem passionierten Externer Link: Brief (Webseite in Persisch), in dem er seine Mitbürger auffordert, zur Wahl zu gehen, lobt der Filmemacher Externer Link: Mohsen Makhmalbaf (Webseite in Englisch) Mussawi dafür, Irans Wirtschaft kompetent durch den tödlichen Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988 geführt zu haben. Makhmalbaf nennt den ausgebildeten Architekten Mussawi einen "Architekten, der für das Volk spricht".

In diesem Brief schreibt Makhmalbaf: "Ich rufe meine Mutter an und frage: Mutter, wem wirst Du Deine Stimme geben? Sie sagt: ...Du warst nicht hier, die Wände sind feucht geworden, die Decke hat Risse, ich ging die Straße entlang und sah einen Bauarbeiter, der mit einer Spitzhacke ein Haus abriss. Ich sagte zu ihm: Möge Gott Sie segnen, mein Herr, kommen Sie bitte in mein Haus und reparieren Sie meine Zimmerdecke, bevor sie über unseren Köpfen zusammenbricht. Er sagte: Meine Arbeit ist es, die Dinge zu zerstören. Wenn Sie möchten, dass ich Ihr Haus abreiße, erledige ich diese Arbeit für Sie. Wenn es instand gesetzt werden soll, suchen Sie sich einen Architekten." Makhmalbafs Brief ist symbolisch für eine Wahl, bei der vieles unausgesprochen bleibt. Anstatt klarer Manifeste, finden sich Symbole, Schlussfolgerungen und schließlich ein Vorschuss blinden Vertrauens.

Externer Link: Touka Neyestani (Webseite in Englisch), einer der bekanntesten Karikaturisten Irans, schreibt ganz offen Externer Link: in seinem Blog (Webseite in Persisch): "Ich werde Mussawi wählen, nicht weil er mein Ideal verkörpert, ganz im Gegenteil, auch nicht weil er ein Architekt ist, da mir seine Architektur nicht gefällt, und nicht weil er ein Maler ist, da mir seine Bilder noch weniger gefallen", sondern letztlich weil er "in der Jugend und in Teilen der Gesellschaft die Hoffnung erweckt hat, dass ihre Stimmen von Bedeutung sind".

Es hat sich viel Wut aufgestaut


Die "Hoffnung", von der Touka spricht, macht sich auch in Irans Online-Gemeinde bemerkbar. In nur wenigen Wochen wurde die weit verbreitete Politikverdrossenheit von leidenschaftlichen Diskussionen geradezu hinweggefegt. Noch nie da gewesene Fernsehduelle der Präsidentschaftskandidaten zogen in Iran rund 50 Millionen Zuschauer vor die Fernseher und führten auf Balatarin, einer vielbesuchten Bookmark-Seite zum Informationsaustausch, zu hitzigen Online-Debatten. Ein Posting zum TV-Duell zwischen Karroubi und Ahmadinedschad zum Beispiel bekam mehr als 500 Kommentaren, die größtenteils die Gegner des Präsidenten anfeuerten.

Dieser Enthusiasmus spiegelt das Wahlfieber auf den Straßen wieder, über das Externer Link: viel berichtet wurde, Kundgebungen und spontane politische Zusammenkünften in den Innenstädten wurden als Externer Link: beispiellos beschrieben (Webseite in Englisch). Am Montag (8. Juni) organisierten die Anhänger Mussawis eine 24 Kilometer lange Externer Link: Menschenkette (Webseite mit Bildern) entlang der Vali-Asr-Straße, der längsten Straße des Mittleren Ostens, die sich vom wohlhabenden Norden Teherans bis zu den Arbeitervierteln im Süden erstreckt. Bei den Menschen hat sich zweifelsfrei viel Wut angestaut. Als Ahmadinedschad am 10. Juni Irans angesehene Sharif Universität in Teheran besuchte, wurde er von den Studenten vertrieben, die Mussawis Namen anstimmten. Externer Link: Amateurvideomaterial zeigt, wie die Studenten den Beratern Ahmadinedschads zurufen: "Betrügt nicht, das reicht schon."

Diese erwachte Hoffnung ist für manche Blogger, wie Externer Link: Blogger Gistela (Webseite in Persisch), gemischt mit einer bösen Vorahnung, da ihn "diese Aufregung unter den Menschen" an den Wahlkampf des Reformers und Ex-Präsidenten Chatami vor 12 Jahren erinnere und an die nachfolgende Enttäuschung. Er schreibt, "sie sind viel aufgeregter als wir es je waren... aber ich habe Angst davor, dass sie die Enttäuschung hinterher nicht ertragen können".

Aus dem Englischen von Martina Heimermann

Fussnoten

Nasrin Alavi ist die Autorin des Buches "Wir sind der Iran" (Kiepenheuer & Witsch, 2005), in dem erstmals die iranische Bloggerszene umfassend geschildert wurde. Nasrin Alavi ist in Iran aufgewachsen, hat in London studiert und an britischen sowie nordamerikanischen Universitäten gelehrt. Sie lebt und arbeitet heute in Großbritannien.