12. Festival
Herbst 2025

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6. Festival // Sehnsucht – Berlin 2005

6. Festival // Sehnsucht – Berlin 2005

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Unter dem Leitbegriff „Sehnsucht“ gastierte das 6. Festival vom 10. bis 20. November 2005 in Berlin im Hebbel am Ufer, in den Sophiensälen, im Theater unterm Dach und im Theaterdiscounter.

Das 6. Festival in Berlin vom 10. bis 20. November 2005 brachte gleich mehrere Neuerungen. Unter Thomas Krüger als Präsident der bpb erfuhr es eine deutliche Akzentverschiebung. Politische Bildung zugleich auch als kulturelle Bildung verstehend, berief er sich dabei auf Schiller und dessen Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

Zitat

Politische Bildung ist immer auch kulturelle Bildung – diesen Grundsatz brachte uns schon Friedrich Schiller nahe. Er machte die ästhetische Erziehung zur Basis des politischen Selbstverständnisses. In dieser Tradition sehen wir das Festival.

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

Die Konsequenz aus dieser in der Aufklärung verwurzelten Vorstellung bedeutete für das Festival größeren Spielraum bei der Auswahl der Festivalbeiträge insofern, als nicht mehr ausschließlich eindeutig politisch-soziale Themen das ausschlaggebende Kriterium sind. Das Festival gab nun auch jenen Theaterprojekten Raum, die sich nicht vordergründig als politisch ausweisen, sondern mit eingeschliffenen Erfahrungen und Wahrnehmungsmustern brechen und eine radikal andere Realitätssicht, eine andere Sinnlichkeit antizipieren. Gerade solche Kunstformen können die kulturelle Kompetenz in einer vielschichtigen, multikulturellen und multimedial geprägten Gesellschaft fördern, indem sie für Unbekanntes und Ungewohntes sensibilisieren und damit auch zu einem mündigen Umgang mit dem Anderen, dem Fremden hinführen.

Grafik: Andreas Homann

Erstmals wurde das Festival deshalb nicht nur für Sprechtheater ausgelobt, sondern den aktuellen Entwicklungen im Freien Theater Rechnung tragend für grenzüberschreitende Formen, also für künstlerische Projekte zwischen Performance, Theater, Bildender Kunst, Musik, direkter politischer Aktion und insbesondere für „Interventionen“.

Und erstmals stand das Festival unter einem Motto. Der Leitbegriff „Sehnsucht“, allein schon durch das Motiv der Werbeträger des Festivals – ISO-Container und Containerlandschaft – seiner romantischen und romantisierenden Konnotationen entkleidet, stand indes nicht für eine inhaltliche Klammer der Festivalbeiträge. Wie in den zurückliegenden Jahren stellte auch dieses Festival eine Vielfalt politischer Themen zur Diskussion. Es ging u. a. um Migration („Château Europe“, „Grenzgänger“), Neue Ökonomie („Dead Cat Bounce“, „Marx“), um das politische Programm der US-Regierung („Think Tank“), um Bioethik („Mongopolis Fisch oder Ente“), um den Charity-Markt („mother t.“) oder um das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft („Heb(b)el-Hamlet – Wie es uns (immer noch?) gefällt“, „perform performing“, „This performance“).

Dead Cat Bounce
Foto: Klaus Weddig

Mit einer Adaptation des dramatischen Fragments „Die Polizey“ aus den Jahren 1799-1804 – in Szene gesetzt von Peter und Harriet Meining (norton.commander.
productions, Dresden) – taktete das Festival zum 246. Geburtstag von Friedrich Schiller auf, in dessen Kunstkonzeption Kultur als ein defizienter Zustand erfahren wird und der Kunst ein gesellschaftsveränderndes Moment zukommt, das über die Sensibilisierung des Menschen und die „Veredelung“ seines Charakters wirkt. In Analogie dazu, wenn auch ohne die idealistischen Implikationen, öffnete das Festivalmotto gewissermaßen einen Assoziationsraum für Visionen von Theaterkunst, Politik und Gesellschaft.

Was die Freie Theaterszene gegenwärtig bewegt, ist nun freilich nicht die Sehnsucht nach einer „Schaubühne als moralische Anstalt“ (Schiller), sondern vor allem die Suche nach einer eigenen, unverwechselbaren Theaterästhetik, ist doch das Formenrepertoire der Freien in den Stadt- und Staatstheatern längst angekommen, nicht zuletzt weil eine bemerkenswerte Zahl von Intendanten, Regisseurinnen und Regisseuren das ‚Lager‘ wechselte und aus der Freien Szene stammt. Unterscheidungsmerkmale sind gegenwärtig wohl nur noch die Produktionsweisen und -mittel, wobei auch diese aufgrund des allgemeinen ökonomischen Drucks mehr und mehr zur Realität in festen Häusern werden.

perform performing
Foto: Friedemann Simon

Auf solcher Suche nach einer eigenen Theatersprache hat die Freie Szene – zumindest jenes Segment, das sichauf dem 6. Festival präsentierte – offensichtlich die historische Theateravantgarde des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. So deren Prinzip der Selbstbezüglichkeit wie in „perform performing“, einem Tanzstück, in dem der Tänzer Jochen Roller der Frage nachgeht, welchen Sinn es hat, Tanz als Arbeit zu betrachten, oder in „Heb(b)el-Hamlet – Wie es uns (immer noch?) gefällt“, in dem das Theater 400asa die Rolle der Freien Szene innerhalb der Kulturpolitik reflektiert, oder in Stefan Kaegis „Mnemopark“ über die Fiktionalität von Kunst oder in „This Performance“, die in einem nahezu leeren Raum mit nur zwei miteinander vernetzten Computern über Lautsprecher den Satz „This performance is about ...“ in schier unendlichen Wiederholungen zu Gehör bringt.

Alibis
Foto: Hofmann & Lindholm

Die Sehnsucht, d.h. das Utopische in den Theaterkonzepten der Moderne galt insbesondere der Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Lebenspraxis, und zwar einer Aufhebung im dialektischen Sinn mit dem Ziel eines präsenten Vorgangs im Unterschied zur Repräsentation des theatralen Aktes. Produktionen, die eine große Affinität zu diesen Konzepten hatten oder solche Intentionen für die eigene Arbeit nutzbar zu machen versuchten, künstlerische Aktionen, die tendenziell den Kunstraum aufbrachen und, meist auf umfangreicher Recherchearbeit und Feldforschung basierend, eine Transformation in Realität erprobten, waren auf dem Berliner Festival auffällig häufig vertreten.

Allen voran das – angekündigte, aus verschiedenen Gründen dann aber abgesagte – Projekt „Live aus Afrika“ von Christoph Schlingensief. Aus Namibia, wohin der Autor und Regisseur mit seinem Team gereist war, um Medikamente, Essen, Spielzeug und Wasser in Notgebiete zu bringen, sollte eine Livestream ins Berliner HAU-Theater eingerichtet werden und der Erlös aus den Eintrittsgeldern direkt in den Lüderitz-Slum ‚Nautilus‘ fließen, in dem Schlingensief zur selben Zeit sein „animatographisches“ Projekt realisierte. Oder Cocobello, eine Stadt-Intervention, die Architektur, Medienkunst und Kunst im öffentlichen Raum miteinander zu einer sozialen Skulptur für Vorträge verband; mamouchis Wohnwagen auf dem Alexanderplatz als mobile Versorgungsstation für Heimatgefühle, die als Dienstleistungen von zufällig Vorbeikommenden im Katalog eingesehen und käuflich erworben werden konnten; die dokufiktionalen Arbeit „Château Europe – der Superasylantenslam!“, in der Schauplatz International die Affinität von Theater und Asylverfahren in der Schweiz für die Reinszenierung einer Flüchtlingsbefragung nutzte; „Alibis“ von Hofmann & Lindholm, eine Arbeit mit Alltagsexperten, keinen Schauspielern und Schauspielerinnen also, aber auch nicht Laien, demonstrierte mit Spezialisten und Zeugen in eigener Sache Routine des Alltags und Konstruktionen im Alltäglichen; oder „Dead Cat Bounce“ des amerikanischen Videokünstlers Chris Kondek, ein Börsen-‚Theater‘, bei dem man mit den Eintrittsgeldern real und in Echtzeit an der New Yorker Börse online spekulierte und der Zuschauer gar Gewinne machen konnte.

This Performance
Foto: Winnie Love

Experimente fast alle. Wenn diese beim Publikum hin und wieder Verstörung oder gar Widerspruch hervorriefen, so ist darin ein durchaus produktives Moment zu sehen. Denn gerade in der erkennbaren Manifestation von Haltungen (egal ob zustimmend oder ablehnend) artikuliert sich doch der aktivierte und nicht nur konsumierende Zuschauer. In der Auseinandersetzung, auch Reibung oder Ablehnung vermag er erst individuelle Formen und verantwortlich-kritische Kraft zur Selbstgestaltung wie auch zur Mitgestaltung des geschichtlich-kulturellen Gesamtlebens entwickeln.

Und das ist gleichsam das Credo von kultureller/politischer Bildung schlechthin.

Festivalbeiträge:

  • „Akteure des Verschwindens“ nach Gustave Flauberts „Erziehung der Gefühle“, Theaterhaus Weimar, Regie: Janek Müller

  • „Alibis“, Hofmann & Lindholm, Köln, Konzept und Regie: Hofmann & Lindholm

  • „Antifaschismus Vergnügungspark“, Deutschbauer & Spring, Wien

  • „Château Europe – der Superasylantenslam!“, Schauplatz International, Biel/Bern/Berlin, Regie: Ensemble

  • „Cocobello“, Dietmar Lupfer und Peter Haimerl, München

  • „Dead Cat Bounce“, Chris Kondek, Berlin, Regie: Chris Kondek

  • „Die Polizey“ nach einer Idee von Friedrich Schiller, Theaterhaus Jena/ Norton.commander.productions, Dresden, Regie: Peter und Harriet Maria Meining

  • „Grenzgänger“, fringe ensemble, Bonn / phoenix5, Münster, Regie: Frank Heuel

  • „Heb(b)el-Hamlet – Wie es uns (immer noch?) gefällt“, 400asa, Zürich, Regie: Samuel Schwarz

  • „Komm heim!“, mamouchi, Berlin/Basel

  • „Lagerfeuer“, She She Pop, Hamburg/Berlin

  • „Live aus AFRIKA“ von und mit Christoph Schlingensief

  • „Marx“, electronic music theater, Frankfurt/M., Regie: Ensemble

  • „Mnemopark“, Theater Basel, Konzept und Regie: Stefan Kaegi

  • „Mongopolis Fisch oder Ente – ein sciencefictionkrimicomic“, RambaZamba, Berlin, Regie: Gisela Höhne

  • „mother t.“, Theaterhaus Gessneralle, Zürich, Regie: Barbara Weber

  • „perform performing“ von und mit Jochen Roller, Berlin

  • „Think Tank: The Taste of Victory“, Compagnie für präemptive und nachhaltige Auseinandersetzung (PNAC), Berlin, Regie: Ensemble

  • „This Performance“, Mousonturm, Frankfurt/Gasthuis, Amsterdam, Regie: David Weber-Krebs

Jury:

  • Gesine Danckwart, Berlin (Schriftstellerin)

  • Thomas Irmer, Berlin (Publizist)

  • Dirk Pilz, Berlin (Redakteur)

Preisträger:

Die Jury des Goethe-Instituts, bestehend aus Martin Berg, Florian Malzacher und Jukka-Pekka Pajune, vergab ihren Preis an Chris Kondek („Dead Cat Bounce“), der ebenfalls den Preis des ZDFtheaterkanals erhielt; die Juroren der bpb wählten die Produktion „Mnemopark“ vom Theater Basel aus.

Pressemeldung des Theater Basel vom 29.11.2005:
„Wir verstehen diese Auszeichnung als Wertschätzung einer Zusammenarbeit, in der Grenzen zwischen Arbeitsweisen sowie inhaltlichen Ansätzen von Stadttheatern und der freien Szene fließend werden. (...) Der Preis der Bundeszentrale für politische Bildung ist zur Förderung einer Gastspieltour einer freien Gruppe in freien Häusern gedacht. Das Theater Basel ist kein solches und will für seine Gastspiele keine Gelder aus der freien Szene beanspruchen. Der Ansatz von Häusern wie dem Theater Basel, mit Entdeckungen und Talenten aus der freien Szene zu arbeiten, ist nur möglich, solange es diese gibt und solange sie entsprechend gefördert wird. Deshalb möchten wir die Bundeszentrale für politische Bildung bitten, die mit dem Preis verbundene finanzielle Unterstützung nicht als Zuschuss für die Gastspieltournee von ‚Mnemopark‘, sondern für die Förderung der freien Szene zu verwenden.“

Fussnoten