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Islamische Wohlfahrtspflege in der Diskussion: Aufgaben und zivilgesellschaftliche Perspektiven in der Einwanderungsgesellschaft. | X. Zukunftsforum Islam | bpb.de

X. Zukunftsforum Islam Eröffnung Dokumentation Rede von Rolf Rosenbrock Eröffnungsrede von Samy Charchira Eröffungsrede von Christoph Müller-Hofstede Rede von Mimoun Azizi Workshops Workshop 1 Workshop 2 Workshop 3 Workshop 4 Workshop 5 Workshop 6 Workshop 7 Workshop 8 Abschluss

Islamische Wohlfahrtspflege in der Diskussion: Aufgaben und zivilgesellschaftliche Perspektiven in der Einwanderungsgesellschaft. Eine Veranstaltung des Zukunftsforum Islam, einer Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung

Jeannette Goddar

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Mehr als 130 Teilnehmer_innen konnte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, zum zehnten Geburtstag des Zukunftsforum Islam ("Für ein Kind ist das ein Riesenereignis!") begrüßen – und erinnerte an die Lage in Deutschland im Jahr 2006, als er bemerkte: "Wir waren spät – aber die ersten, die sich dem Thema gewidmet haben." Heute seien die Grundsätze des "außergewöhnlichen Formats" - "Offenheit, Zuhören, Miteinander, Austauschen" – wichtiger denn je. Für das Zukunftsforum betonte Samy Charchira (Deutsche Islamkonferenz) die Bedeutung des diesjährigen Schwerpunkts Wohlfahrtspflege als "starkes Symbol gesellschaftlicher Solidarität und wichtiges Wirkungsinstrument bei der Gestaltung des Sozialstaats".

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Gesundheits- und Sozialwissenschaftler und Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, bezeichnete die Debatte über Islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland als "überreif", das zentrale Argument: Jedem müsse die Wahlfreiheit der "barrierefreie" und damit der kultur- und religionssensible Zugang zu Wohlfahrt eröffnet werden.

Zurzeit sei die Lage so: Die sechs Spitzenverbände repräsentierten in einem komplexen Drei-Block-System aus Staat, Markt und freier Wohlfahrtspflege die Zivilgesellschaft, die für sich selber soziale Dienste organisiere; der Staat wiederum werde nur subsidiär tätig, wenn es keine anderen Angebote von freien Trägern gäbe. Zusammengenommen betrieben die sechs Verbände mehr als 100.000 Programme und Einrichtungen mit rund 1,7 Millionen haupt- und drei Millionen ehrenamtlichen Mitarbeitern; zu mehr als 80 Prozent würden sie von Staat und Sozialversicherungen finanziert. Gemein sei ihnen, dass sie "von unten nach oben" gewachsen seien, sich auch als "politische Interessenvertretung ihrer Mitglieder" begriffen und ihre Organisation autonom gestalteten.

Für die "überreife" Integration zeichnete Rosenbrock zwei Wege auf, die sich nicht gegenseitig ausschlössen: Die interkulturelle Öffnung bestehender Einrichtungen – ein Prozess, in dem kirchliche wie nichtkirchliche Verbände bereits "schwer unterwegs" seien: in Organisationsentwicklung, Qualifizierung, der Anpassung von Räumen und Abläufen, der Gewinnung von Personal und entsprechenden Führungskräfte. Den zweiten Weg, den Aufbau und Betrieb von Einrichtungen in muslimischer Eigenregie, nannte er "sehr ausbaufähig", wegen struktureller Defizite und ungeklärter Zuständigkeiten, insbesondere aber wegen der fehlenden Anbindung an den Sozialstaat. Den muslimischen Trägern bot er an: Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege stünden bereit, den Weg "partnerschaftlich und auf Augenhöhe" mitzugestalten – ohne Angst vor Konkurrenz. "Es gibt genug zu tun für alle. Und es gibt viel, was wir nicht können." Ob es zu starken islamischen Verbänden der Wohlfahrtspflege und letztlich zu einem siebten islamischen Spitzenverband komme, hänge allerdings wesentlich von politischem Willen und Organisationsfähigkeit der muslimischen Organisationen ab: Von außen würde niemand kommen und das machen.

Der Neurologe, Psychiater und Politikwissenschaftler Dr. Mimoun Azizi warf Rosenbrock Naivität vor: "Sie kennen die muslimische Gemeinschaft nicht!" und übte herbe Kritik an selbiger. Erstens sei kaum vorstellbar, die unterschiedlichen Gruppen ("marokkanische und türkische Muslim_innen, Alevit_innen und Sunnit_innen" u.v.m) unter ein Dach zu bekommen. Zweitens sei deren bisherige Angebotspalette, gelinde gesagt, lückenhaft: Von Kindern mit Behinderungen über HIV-Positive, Menschen mit Spielsüchten bis zu Frauen mit posttraumatischen Belastungsstörungen gäbe es in der Community für zahlreiche Gruppen weder professionelle Ansprechpartner noch Selbsthilfeangebote. Wo, fragte Azizi, solle man "Frauen hinschicken, die vergewaltigt oder misshandelt wurden: zum Imam, zu Ditib – in die Islamkonferenz?" Es brauche schnelle Lösungen. Azizi warb für die anstehenden Tage um ein "kompromissfähiges, pragmatisches, zielorientiertes" Konzept. Charchira plädierte, für die Offenlegung von validen Kennzahlen der religionssensiblen Dienstleistungen der freien Wohlfahrtspflege, damit Synergien und Kooperationen genutzt und gefunden werden können. Auch vermag er bei der interkulturelle Öffnung der Verbandsstrukturen nur schwer eine Strategie erkennen, betont aber dass in vieler Hinsicht Kooperationen mit den Spitzenverbänden möglich und gewünscht sind.

Die anschließende Diskussion im Plenum machte aber auch Gräben deutlich: Mehrmals wurde bemängelt, Muslim_innen würden von Wohlfahrtsverbänden und/oder Staat nicht ernst genommen, jedenfalls nicht auf Augenhöhe ("Partizipation bedeutet auch, mitentscheiden zu können"), andere – auch aus der eigenen Community – konterten, wer nicht konkurrenzfähig sei, würde eben auch nicht bemerkt, jedenfalls nicht als professioneller Akteur. Andererseits: Kann/soll der Staat Zivilgesellschaft nicht auch befördern – und warum ist es beispielsweise auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise nicht möglich, muslimische (und arabisch sprechende) Helfer_innen zu gewinnen/integrieren? Thomas Krüger empfahl die Förderung und Entwicklung "hybrider Modelle": an verschiedenen Orten Verschiedenes auszuprobieren und zu schauen, was wie funktioniere – und am Ende gegebenenfalls zu dem Schluss zu kommen, dass sich an einem Ort ein bestehender Verband interkulturell öffnet und an einem anderen eigene Strukturen entstehen.