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Workshop 3: Erinnerungskulturen und Diktaturerfahrungen in russlanddeutschen und russisch-jüdischen Kontexten: Ansätze und Perspektiven | Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe | bpb.de

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Workshop 3: Erinnerungskulturen und Diktaturerfahrungen in russlanddeutschen und russisch-jüdischen Kontexten: Ansätze und Perspektiven

Simon Clemens

/ 6 Minuten zu lesen

Panelteilnehmer*Innen:

  • Wendelin Mangold, Autor, Königstein im Taunus

  • Dr. Katharina Neufeld, Detmold

  • Dr. Mischa Gabowitsch, Einstein Forum, Potsdam

Moderation: Dr. Viktor Krieger, Universität Heidelberg

Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe Workshop 3 (Björn Stysch) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Der dritte Workshop "Erinnerungskulturen und Diktaturerfahrungen in russlanddeutschen und russisch-jüdischen Kontexten: Ansätze und Perspektiven" wurde von Dr. Viktor Krieger moderiert, zunächst stellte er die Gäste vor und erläuterte ihre Verbindung zu der Thematik: Zum einen Wendelin Mangold, Autor, Königstein im Taunus und Dr. Katharina Neufeld, Detmold, welche insbesondere durch ihre persönlichen Erfahrungen mit der Thematik vertraut sind. Zum anderen Dr. Mischa Gabowitsch, Einstein Forum, Potsdam, welcher sich der Thematik aus wissenschaftlicher Perspektive angenähert hat.

Zu Beginn stellte Krieger die Erinnerungsrituale in post-sowjetischen Staaten in den Vordergrund. Schließlich seien diese bis 1985 kaum präsent gewesen. Wie ist damals ein Bewahren und Erinnern möglich gewesen? Frau Neufeld berichtete von ihrer Kindheit in einem 'Deutschen Dorf' und dem Gefühl 'irgendwie' anders zu sein. Im Kreis der Familie erzählte ihre Mutter von der Vergangenheit im Zwangslager – eine Erinnerungskultur des Privaten. Am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", einem offiziellen Feiertag der Sowjetunion, war dies jedoch alles vergessen. In diesem Sinne sagte ihre Mutter: "Niemand interessiert sich für uns." Dies prägte auch das Verständnis von Frau Neufeld. Schnell offenbarten sich die Diskrepanzen zwischen der Berichterstattung in Zeitungen, der Vermittlung in der Schule und der Realität. Sie fand "Krümel der Wahrheit" in der Familie, wie sie es selbst beschreibt. Wirkliche Wahrheit sei jedoch erst durch Freiheit möglich gewesen.

Auch das literarische Leben dieser Zeit war eingeschränkt. Der Autor Wendelin Mangold beschreibt sein Leben damals als ein Leben im Zwiespalt – weder konform noch im Widerstand. In diesem Sinne empfand er später Freude, als er nach Deutschland kam. Endlich war es ihm erlaubt verbotene Gedichte zu lesen. Mangold erläutert, dass es in der Sowjetunion sehr schwierig gewesen sei in den Schriftstellerverband aufgenommen zu werden, bzw. dies nur durch Kontakte möglich war. Weiter berichtet er von seiner Arbeit als Schriftsteller.

Viele Menschen wollten 'Sowjet-Menschen' bleiben, jedoch wurde ihnen in der Sowjetunion die eigene Geschichte verwehrt, skizzierte Krieger, anschließend als eine spezielle Problematik. Dr. Mischa Gabowitsch gab einen Einblick in seine Forschung und berichtete über das Erstarken kleinerer nationalistischer Gruppen in der Sowjetunion während der 1980er Jahre, welche jedoch, obgleich ihrer Größe, eine Vielzahl an Reaktionen mit sich brachten. Der schon immer vorhandene Alltagsantisemitismus, begann sich so zu artikulieren. Vorher nur im Kleinen sichtbar, kamen nun auch Drohbriefe, Pogrome u. ä. dazu. Gabowitsch bezeichnete dies als einen Umbruch.

Interessanterweise wurden auch die Opfer der Shoa nicht als Juden, sondern als brave sowjetische Bürger stilisiert. Auf dieses Fehlen an Erinnerungskultur gab es bereits in den 1960ern und 1970ern eine Vielzahl an Reaktionen, z.B. Untergrundseminare jüdischer Intellektueller. Später können vor allem zwei Arten der Reaktion hervorgehoben werden, auf der einen Seite diejenigen, welche dadurch verstärkt ihren Status als Sowjetbürger hervorhoben, und auf der anderen Seite die, die besonders ihre jüdische Abstammung betonten.

Durch die Moderation wurde noch einmal auf das Phänomen des Zorns bzw. der Rachegefühle auf die Deutschen hingewiesen. Dieser wendete sich oftmals auf die Deutschen, die im näheren Umfeld anzutreffen waren. Dieser Umstand finde sich auch in den Autonomie-Diskursen um die Wolgadeutsche Republik.

Frau Neufeld berichtet, dass Sie von der Autonomiebewegung während ihres Besuchs dort eher enttäuscht gewesen sei. Auch verschiedene Projekte, z.B. Wohnprojekte oder Universitätsseminare, betrachtete sie kritisch. Krieger wendete ein, dass der Autonomiebewegung trotzdem ihr Stellenwert zugeschrieben werden müsse. Vielfach käme dieses Bestreben daher, dass den Deutschen aus Russland in Deutschland viele Chancen nicht eröffnet wurden. So fanden sie zwar einen Job, jedoch war dieser nur selten mit ihrer Ausbildung verknüpft. Krieger gibt die Frage an Herrn Mangold weiter; hätte er lieber in der Wolgarepublik gelebt?

Er berichtet, dass er oft gefragt wurde, warum er denn überhaupt gekommen sei, schließlich habe er doch einen guten Job gehabt. Er habe auch Zugriff auf deutsche Literatur gehabt und musste dann in Deutschland einen Job ausführen, welcher nicht seinem Studium entsprach. Er begründet seine Entscheidung mit einem 'schlimmen Erlebnis': Herr Mangold besuchte eine Veranstaltung der Autonomiebewegung in Kasachstan; die Menschen dort hätten "Schaum vor dem Mund" gehabt – so etwas für Deutsche hätte er nicht gewollt. Jedoch wisse er nicht, ob er, hätte es sie gegeben, eine Wolgarepublik doch besucht hätte.

Krieger betonte daraufhin die Zwiespältigkeit dieser Erinnerungen und hebt hervor, dass die Menschen nicht nur kamen, weil es vorher so schlecht war.

Im Plenum wurde die Frage aufgeworfen, wie weit es in Russland überhaupt möglich ist zu forschen, da ja auch der Zugang zu Archiven stark limitiert ist. Herr Gabowitsch erläuterte, dass es im Grunde abhängig von der Person ist, die die Archive verwaltet. So sei es manchmal relativ einfach, manchmal jedoch auch unmöglich.

Der Moderator lenkte die Diskussion noch einmal zu der Frage wie die Entwicklung der sowjetischen Juden nach der Wende zu beurteilen sei – insbesondere bezogen auf die gemeinsamen Erinnerungen. Gabowitsch erklärte, dass sein Forschungsprojekt weniger Erinnerungen als das Gedenken untersuche. Praktiken und nicht, wie etwas weitergegeben wird oder ähnliches stände im Vordergrund. So schaue das Forschungsprojekt beispielsweise, was denn am 9. Mai in den postsowjetischen Ländern gemacht wird – bzw. wie das Gedenken gestaltet wird.

Mittlerweise avanciere der 9. Mai zum wichtigsten Gedenktag in Russland (eventuell gemeinsam mit Neujahr). Es gelte am "Tag des Sieges" zu demonstrieren, was der Beitrag der eigenen Gruppe zum Sieg war. Es würden heute mehr Kriegsdenkmäler gebaut als in der Sowjetunion. Die Gedenkkultur sei also stark einig, jedoch auch stark individualistisch. In gewisser Weise opponiere diese Art des Gedenkens mit derjenigen in der Sowjetunion. Damals wurde der Sieg, als der Sieg des sowjetischen Volks stilisiert. Dies wandelte sich, im Sinne von: "Mein Opa hat sich auch beteiligt". Hieraus ließe sich auch das Phänomen des unsterblichen Regimentes erklären. So habe es stark individualistische Züge, auch Putin müsse sich beteiligen – allerdings sei diese Bewegung heute staatlich vereinnahmt.

Jüdisches Gedenken scheint etwas salonfähiger zu werden, merkte Krieger an. Dies zeige sich auch an dem Beispiel Putin. Bei deutsch-russischem Gedenken sei dies jedoch etwas anders gelagert. Schließlich komme bei Veranstaltungen dieser Art keiner zu der Eröffnung. Dies könne eventuell damit zusammenhängen, dass derzeit nur heroisches Gedenken gefördert würden –Verbrechensgedenken (Beispielsweise den Opfern des Stalinismus) gestalte sich hingegen weiterhin schwierig.

Außerdem würden auch die Deutsch-Russischen Beziehungen eine ganz entscheidende Rolle spielen. Es sei z.B. in Polen deutlich einfacher – die Deutsch-Russischen Beziehungen genießen in gewisser Weise eine Sonderstellung. Frau Neufeld, die ehemalige Leiterin des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte, berichtete, dass bei der Eröffnung des Museums auch Vertreter des Russischen Konsulats zugegen waren. Ein negatives Urteil dieser Personen hätte erheblichen Schaden für das Museum bedeuten können. Dank des positiven Urteils wurde das Museum jedoch auch von jungen Gästen aus Moskau besucht. Hieran könne man das vorher Beschriebene gut erkennen.

Abschließend wurde die Frage aufgeworfen, was sich die einzelnen Diskutierenden für die Zukunft in Deutschland bezüglich der Erinnerungskultur wünschen würden.

Herr Gabowitsch war der Meinung, dass z.B. im Treptow Park in Berlin an der Schnittstelle vieler verschiedener Gruppen (z.B. Ostdeutsche, Westdeutsche, Russlanddeutsche etc.) neue Kombinationen von Erinnerungs- und Gedenkkulturen entstünden, die genauso zu Deutschland gehören. Diese Gruppen sollen nicht durch Politiker oder andere 'abgestempelt' werden. Stattdessen solle geschaut werden, was dort gemacht wird. Frau Neufeld wünschte sich eine Gedenkstätte die stalinistische Diktaturerfahrungen aufgreift – für all diejenigen die gelitten haben. Wohingegen Herr Mangold noch viel Potential in der Förderung bzw. Unterstützung junger Talente sah.

Fussnoten