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Erinnerung und Gedenken in Osteuropa Jörg Ganzenmüller

/ 16 Minuten zu lesen

Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller von der Stiftung Ettersberg in Weimar sprach über die unterschiedlichen Arten des Erinnerns und Gedenkens in Osteuropa. (© Christian Möller)

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah weist in Europa große Unterschiede auf. Diese Unterschiede sind sowohl durch die historische Erfahrung im Zweiten Weltkrieg als auch durch die nationalen Erinnerungskulturen nach 1945 bedingt. Der deutsche Fall bildet dabei zumeist die Ausnahme. Das hat vorwiegend mit der deutschen Rolle in der Geschichte der Shoah zu tun. Die Ermordung der europäischen Juden wurde vom Deutschen Reich initiiert, vorangetrieben, gesteuert und federführend ausgeführt. Die Deutschen haben sich – wenn auch mit erheblicher Verzögerung – mit den Verbrechen intensiv auseinandergesetzt und inzwischen eine weitreichende Gedenkkultur etabliert. Die deutsche Perspektive hat sich dabei lange Zeit mit der Frage auseinandergesetzt, wie der von Deutschen verursachte und ausgeführte Völkermord möglich sein konnte. Dies ist wichtig und verständlich, hatte aber zu Folge, dass die Shoah ganz überwiegend als Teil der deutschen Geschichte betrachtet wurde und wird, indem man zum Beispiel nach Kontinuitäten des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft oder nach der staatlichen und gesellschaftlichen Beteiligung an der Ausgrenzung und Ermordung der Juden fragt. Die deutsche Auseinandersetzung ist somit einer nationalen Perspektive verhaftet und tut sich schwer, andere Perspektiven zu berücksichtigen, wenn diese keine Opferperspektiven sind.

Dies hat Konsequenzen beim Besuch von Orten der Shoah außerhalb Deutschlands. Denn die Debatten in anderen europäischen Ländern haben ihre jeweils eigenen nationalen Besonderheiten, die sowohl von den jeweiligen Weltkriegserfahrungen als auch den politischen und gesellschaftlichen Nachkriegsordnungen geprägt sind. Zwangsläufig finden hier andere Debatten statt, und die jeweiligen Gedenkstätten spiegeln diese Unterschiede wider. Trotz des empfundenen Stolzes über den selbstkritischen Umgang mit der Geschichte der Shoah in Deutschland in den letzten 20 bis 30 Jahren – die 40 Jahre zuvor waren ja wiederum kein Ruhmesblatt – kann dies kein Vorbild für andere Länder sein. Die Übernahme der deutschen Erinnerungskultur durch andere europäische Länder einzufordern, ist nicht nur unangemessen, sondern führt auch in eine intellektuelle Sackgasse, da man Unterschiede dann häufig als Rückständigkeit deutet und damit hinsichtlich Osteuropas in ganz alte Deutungsmuster verfällt. Leider ist eine solche Haltung recht weit verbreitet.

Will man die polnische, ukrainische und weißrussische Erinnerung an die Shoah jedoch verstehen, so muss man sich zunächst die Unterschiede in der historischen Perspektive bewusst machen:

  1. Das östliche Europa war Schauplatz der Shoah. Hier, nicht in Deutschland, wurde die ganz überwiegende Mehrheit der europäischen Juden ermordet. Das heißt: Die Länder des östlichen Europa verwalten heute ein sehr schwieriges Erbe, nämlich das deutscher Verbrechen.

  2. Die deutschen Besatzer verübten auch an der nichtjüdischen Bevölkerung Verbrechen, und diese Verbrechen waren mit der Shoah verschränkt, das heißt sie fanden zum Teil an den gleichen Orten statt und wurden auch von den gleichen Tätern begangen.

  3. Es gab auch eine Tatbeteiligung der einheimischen Bevölkerung bei der Shoah, insbesondere die Zusammenarbeit der einheimischen Verwaltung mit dem Besatzungsapparat, aber auch durch Denunziation und Verrat bis hin zur konkreten Tötung von Juden durch einheimische Täter. Dies ist ein sehr schmerzhafter Teil der Geschichte, der von allen europäischen Nachkriegsgesellschaften weitgehend ausgeblendet wurde und bis heute wird.

  4. Die jüdische Bevölkerung wurde in den jeweiligen Nationalgesellschaften vor 1945 zumeist nicht als Teil der jeweiligen Nation angesehen, sondern als Fremde. Aus dieser Einstellung rührte und rührt bis heute die Sichtweise, die Shoah sei ein Verbrechen der Deutschen an den Juden, was mit der eigenen Nationalgeschichte wenig zu tun habe. In einer solchen Perspektive reduziert sich das eigene Land zum bloßen Schauplatz der Shoah.

Neben diesen Unterschieden in der historischen Perspektive kommen die politischen Rahmenbedingungen der Gesellschaften nach 1945 als weitere Unterschiede hinzu. Für Polen heißt dies: Auf die Befreiung von der deutschen Besatzung folgte eine Inkorporation in das sowjetische Imperium und die Übernahme einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der die Öffentlichkeit staatlich reglementiert war, offene gesellschaftliche Debatten somit gar nicht stattfinden konnten. Für die Ukraine und Weißrussland hieß es, Bestandteil der sowjetischen Kriegserinnerung zu sein, unabhängig davon, dass die jeweils westlichen Landesteile bis 1939 noch zum polnischen Staat gehörten.

Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen im Folgenden schlaglichtartig die Bedingungen der Erinnerungskulturen in Polen, der Ukraine und in Weißrussland nach 1945 skizzieren und die Implikationen für die heutigen, nationalen Erinnerungskulturen aufzeigen. Das geht in der Kürze der Zeit naturgemäß nur holzschnittartig, das heißt, ich konzentriere mich hier auf politische Einflüsse und Narrative, die mir bis heute wirkmächtig scheinen. Grundsätzlich möchte ich aber betonen: In allen drei Ländern ist die Erinnerungslandschaft heterogen, und sie können insbesondere auf gesellschaftlicher Ebene jene Vielfalt von Sichtweisen auf die Vergangenheit finden, wie sie in allen europäischen Ländern vorkommen.

1. Polen

Die polnische Erinnerung an die Shoah ist stark von den Erfahrungen deutscher Besatzungsherrschaft im Krieg geprägt. Die Wehrmacht und die Einsatzgruppen der SS überzogen Polen vom ersten Tag der deutschen Besatzung mit einer Welle der Gewalt und etablierten ein Schreckensregime. Sechs Millionen Menschen, die Hälfte davon Juden, wurden in den Jahren der deutschen Besatzung ermordet.

Bereits während des Krieges gab es in der polnischen Exilregierung und im polnischen Untergrundstaat unterschiedliche Auffassungen darüber, inwieweit Polen und Juden eine "Schicksalsgemeinschaft" bilden oder nicht. Auf der einen Seite steht Władysław Bartoszewski, der im Krieg zur Führung der Żegota gehörte, dem Rat für Judenhilfe des Untergrundstaates. Er prägte nach dem Krieg die Vorstellung einer polnisch-jüdischen "Schicksalsgemeinschaft": Polen und Juden seien durch das deutsche Terrorsystem untrennbar miteinander verbunden gewesen. Und er etablierte ein Geschichtsbild von der Solidarität der polnischen Untergrundbewegung mit den Juden. Ein völlig konträres Bild zeichnete hingegen der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum, der 1944 nach der fast vollständigen Vernichtung der polnischen Juden verbittert feststellte:

"Die von Rassismus und Nazismus infizierten [polnischen] Antisemiten schufen allesamt so ungünstige Bedingungen, dass es unmöglich gewesen ist, mehr als nur einen kleinen Prozentsatz der polnischen Juden vor den deutschen Henkern zu retten. [...] Die Borniertheit polnischer Antisemiten [...] ist für den Tod von Hunderttausenden von Juden verantwortlich gewesen, die man – den Deutschen zum Trotz – hätte retten können."

Diese beiden zeitgenössischen Sichtweisen prägen bis heute auch die geschichtswissenschaftliche Debatte. Während in der Volksrepublik Polen lange Zeit das Bild von der "Schicksalsgemeinschaft" Bestandteil der offiziellen Geschichtsschreibung war, äußerten amerikanische und israelische Historiker schon früh erheblichen Zweifel an dieser Darstellung und warfen der polnischen Gesellschaft nicht nur mangelnde Solidarität mit ihren jüdischen Mitbürgern, sondern vielfach auch eine willfährige Unterstützung der Deutschen bei der Judenverfolgung vor.

1987 wurde das Bild von der "Schicksalsgemeinschaft" auch in der Volksrepublik Polen öffentlich in Frage gestellt. Jan Błoński forderte in seinem viel diskutiertem Essay "Die armen Polen schauen auf das Getto" seine Landsleute dazu auf, sich nicht nur als Opfer zu sehen. Vielmehr sollten sie sich selbstkritisch fragen, ob sie der Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger nicht gleichgültig zugesehen oder sogar klammheimliche Freude darüber empfunden hätten. Diese Debatte über das polnisch-jüdische Verhältnis im Zweiten Weltkrieg gipfelte im Jahr 2000 in einer Auseinandersetzung um das Buch "Nachbarn" von Jan Tomasz Gross. Er stellte die polnische Bevölkerung des Städtchens Jedwabne als Urheber eines Pogroms im Juli 1941 dar, im Zuge dessen fast die gesamte jüdische Bevölkerung erschlagen bzw. in einer Scheune verbrannt wurde.

Diese Debatte hält bis heute an und trägt auch stark geschichtspolitische Züge. Die Verfechter eines nationalen Geschichtsbildes wehren sich vehement gegen eine kritische Geschichtsschreibung und sind auch nicht zu einer Differenzierung bereit, die einerseits die polnische Unterstützung von Juden würdigt und zugleich die weitgehende Indifferenz gegenüber den Judenmord sowie die vereinzelte aktive Unterstützung der deutschen Besatzer Rechnung trägt.

Die nationalen Geschichtsbilder sind nicht zuletzt eine Reaktion auf ein Geschichtsbild, das den Polen nach 1945 verordnet wurde. In der Volksrepublik Polen wurde zwar dem kommunistischen Widerstand sowie der Befreiung durch die Roten Armee und der verbündeten Polnischen Volksarmee gedacht, der weitaus umfassendere nationalpolnische Widerstand und dessen militärischer Arm, die Heimatarmee, wurden hingegen tabuisiert, da sie eine antikommunistische Ausrichtung hatten und ihren Kampf zum Teil nach Kriegsende gegen die Sowjetisierung Polens fortsetzten. Die Heimatarmee und der von ihr geführte Warschauer Aufstand von 1944 waren deshalb zunächst ein Tabu, ab den 1960er Jahren wurde er in einen Volksaufstand umgedeutet. Nach dem Ende des Kommunismus konnte die lange Zeit verschwiegene antikommunistische Stoßrichtung der Heimatarmee miterzählt werden, gleichzeitig stellten sich nationalistische Politiker in die Tradition der Heimatarmee und sind deshalb weniger an einem differenzierten Geschichtsbild interessiert als an der Konstruktion eines nationalen Heldenmythos. Das komplizierte Verhältnis von nationalpolnischem Widerstand und jüdischer Bevölkerung findet in einem nach Eindeutigkeit strebenden nationalen Geschichtsbild wiederum keinen Platz.

Dies hat unmittelbare Auswirkungen an den Orten der Shoah, denn mitunter wurden hier auch Nichtjuden ermordet. Das Bestreben, diese Orte nun als nationalpolnische Leidensorte zu deuten und zu inszenieren, führt zu einer Opferkonkurrenz, deren Ursprünge häufig bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückreichen. In Auschwitz etwa wurden rund eine Million Juden aus ganz Europa und 60.000 nichtjüdische Polen ermordet. Seit der Gründung einer Gedenkstätte im Jahr 1946 existiert hier eine Opferkonkurrenz. So wurde das Museum nicht in Auschwitz-Birkenau, sondern in Auschwitz I, dem sogenannten Stammlager eingerichtet. Der Ermordung der europäischen Juden wurde nicht gesondert gedacht. Vielmehr stand das Gedenken unter der Überschrift "Vernichtung von Millionen" und das 1967 errichtete Denkmal wurde den "Opfern des Faschismus" gewidmet, ohne die jüdischen Opfer explizit zu erwähnen. So wurde Auschwitz in der Volksrepublik Polen zum Symbol für die Leiden der Polen unter deutscher Besatzung und für die Befreiung durch die Rote Armee. Dies hat sich nach 1990 in der Gedenkstätte Auschwitz grundlegend geändert, und heute wird Auschwitz auch in Polen als Ort der Ermordung der europäischen Juden wahrgenommen. Dennoch wirkt die nationale Lesart nach und führt zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, wie etwa die Markierung von Auschwitz als Ort des christlichen Martyriums durch die Aufstellung von etwa 300 Kreuzen, die 1999 schließlich entfernt wurden. Bis heute ist die Zelle des 1982 heiliggesprochenen Maximilian Kolbes ein katholischer Wallfahrtsort. Dies kann deutsche Besucher durchaus irritieren, denn hierzulande wird Auschwitz überhaupt nicht in Verbindung mit Verbrechen an nichtjüdischen Polen gebracht, deshalb muss man dies erklären und einordnen können.

Es ist deshalb wichtig, über die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen Bescheid zu wissen, und diese erschöpfte sich nicht in der Organisation der Shoah. Und man sollte sich bewusst machen, dass der heutige deutsche Blick auf die Shoah inzwischen stark durch die Opferperspektive geleitet ist. So wichtig es ist, diese lange Zeit vernachlässigte Opferperspektive einzunehmen, so problematisch ist es wiederum, wenn Deutsche in Polen allein eine jüdische Perspektive einnehmen und die polnischen Besatzungserfahrungen hintanstellen, um dann die Frage nach der polnischen Mitverantwortung zu stellen, ohne die von der deutschen Besatzungsmacht geschaffenen Grundbedingungen zu berücksichtigen.

2. Sowjetunion (als gemeinsame Vorgeschichte der Ukraine und Belarus)

Die staatlich inszenierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war in der Sowjetunion eine Verlängerung der Kriegspropaganda. Wie in der Bezeichnung "Großer Vaterländischer Krieg" zum Ausdruck kommt, wurde der Krieg als eine Verteidigung des Vaterlandes durch das Volk verstanden. Und da das Volk den Krieg gewonnen habe, wurden auch alle zu Siegern erklärt. Diese Lesart wurde unter Brežnev zu einem zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion, den man monumental inszenierte und als eine Heldengeschichte erzählte. Diese heroische Darstellung war in hohem Maße sinnstiftend, nicht zuletzt für die Angehörigen von Gefallenen und Ermordeten, und ist deshalb bis heute wirkmächtig.

Die Opfer des Krieges passten von Beginn an nicht in dieses Heldennarrativ. Nach Kriegsende galten Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter als potentielle Verräter, sie wurden nach ihrer Repatriierung überprüft und ihnen schlug weithin Misstrauen entgegen. In der sowjetischen Kriegserinnerung fanden sie ebenso wenig Platz wie die Kriegsinvaliden. So blieben die Opfer der "faschistischen Aggressoren" eine anonyme Größe, die allenfalls durch eine Zahl materialisiert wurden. Als Individuen traten sie nur in Erscheinung, wenn sie sich geopfert, also eine selbstlose Heldentat vollbracht hatten.

Diese sowjetische Lesart des Krieges als Verteidigung des Vaterlandes durch das gesamte Volk ließ keine spezifisch jüdische Erinnerung zu. Die Juden galten demnach nicht als eine besondere Opfergruppe und die Shoah ging vollständig in den Verbrechen der deutschen Besatzer auf. Dies ist an zahlreichen sowjetischen Denkmälern zu sehen. Das 1976 errichtete Denkmal von Babyj Jar erinnert zum Beispiel an die mehr als hunderttausend Bürger von Kiew und Kriegsgefangenen, die von den deutschen faschistischen Angreifern hingerichtet wurden. Das ist nicht falsch, und geht an der eigentlichen Bedeutung von Babyj Jar dennoch vorbei. Hier wurden an zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941, mehr als 33.000 Kiewer Juden erschossen. Es war bis zu diesem Zeitpunkt die größte Massenerschießung der deutschen Besatzer in der Sowjetunion, und auch in der Folgezeit wurden dort Menschen erschossen. Von den insgesamt rund 65.000 Opfern waren etwa 42.000 Juden, genauer gesagt Menschen, welche die Nationalsozialisten als Juden definierten.

Versuche, den Juden als spezifische Opfergruppe zu erinnern, wurden hier und andernorts behindert und unterbunden. Noch Nikita Chruščëv verurteilte Evgenij Evtušenkos einflussreiches Gedicht "Babij Jar", in dem er ein Denkmal forderte, mit der Begründung, es vermittle den Eindruck, "also ob nur Juden die Opfer faschistischer Grausamkeiten gewesen wären, während die Schlächter Hitlers doch viele Russen, Ukrainer und sowjetische Menschen anderer Nationalitäten ermordet haben". Dies war der klassische Vorwurf, mit denen Forderungen nach einem Gedenken an die Shoah bis zum Ende der Sowjetunion begegnet wurde: Die Juden wollten sich über die anderen sowjetischen Opfer des Krieges stellen.

3. Ukraine

Die heutige ukrainische Erinnerung an das 20. Jahrhundert ist stark von der staatlichen Unabhängigkeit des Jahres 1991 geprägt. Auch der Zweite Weltkrieg wird in die lange Geschichte der Unabhängigkeit eingeschrieben, die 1991 ihr glückliches Ende findet. Jegliche Versuche einer Nationalstaatsbildung werden positiv beurteilt, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung. So erscheinen dann selbst jene ukrainischen Nationalisten als Vorreiter der staatlichen Unabhängigkeit, die sich partiell auf die deutsche Besatzungsmacht eingelassen hatten und mitunter auch Antisemiten waren. Fragen nach Formen und Folgen der Kooperation von Besatzern und Besetzten haben in einem solchen Geschichtsbild keinen Platz.

Und dennoch ist die Shoah heute ein Thema in der Ukraine. Die unabhängige Ukraine versteht sich nämlich auch als ein Teil Europas und sieht sich als Teil einer europäischen Geschichte von Demokratisierung und Achtung der Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund gibt es auch das Bestreben, die Ukraine in ein europäisches Gedächtnis der Shoah einzuschreiben, und das heißt, deren Opfern würdig zu gedenken und die Mechanismen des Völkermordes zu erforschen und zu verstehen. Und so existieren in der Ukraine zwei sehr widersprüchliche Geschichtsbilder, die mitunter sogar von ein und derselben Person vertreten werden.

In gewisser Weise ist Babyj Jar heute ein Ausdruck dieser unterschiedlichen Geschichtsbilder. Dort existiert inzwischen ein Denkmalpark mit zahlreichen Gedenksteinen, die der Vielzahl der Opfer gedenken: Den jüdischen Opfern, den Roma, den Zwangsarbeitern, Priestern und auch ukrainischen Nationalisten, die hier hingerichtet wurden. Hier ist eine Vielzahl von geschichtspolitischen Akteuren zugange, die versuchen, den Ort mit einem jeweils spezifischen Opfernarrativ zu verknüpfen.

Diese Vielfalt von gesellschaftlichen Geschichtsbildern wird ergänzt durch ein Nebeneinander von Elementen der alten, sowjetischen Erinnerungskultur und jenen neuen Narrativen. Nach wie vor gibt es Denkmäler und Museen, welche die sowjetische Lesart des Zweiten Weltkrieges in Form und Inhalt weitertragen – mal mehr, mal weniger modifiziert. Dies ist auch wenig verwunderlich, wenn man sich bewusst macht, dass unter den rund elf Millionen gefallenen bzw. in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommenen Rotarmisten zahlreiche Ukrainer waren. Deren Angehörige haben ihrer Toten fünfzig Jahre im Rahmen der sowjetischen Kriegserinnerung gedacht und wollen häufig an den sowjetischen Formen des Totengedenkens festhalten, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie auch die Inhalte des sowjetischen Geschichtsbildes teilen.

Die Orte der Shoah werden in der Ukraine heute häufig von engagierten gesellschaftlichen Akteuren gepflegt, und diese sind es auch, welche die Erinnerung an die Ereignisse wachhalten. Mitunter stößt man allerdings auch auf Orte, die verlassen sind oder sogar bis heute genutzt werden. Die Janowska Straße in Lemberg etwa war ein Ort der Zwangsarbeit, wo ca. 15.000 Menschen erschossen wurden und von wo Tausende nach Bełżec deportiert wurden. Die Gebäude werden bis heute als Gefängnis genutzt. An solchen Orten wird sichtbar, dass erhebliche Teile der ukrainischen Bevölkerung die Ermordung der ukrainischen Juden nicht als Bestandteil ihrer eigenen Geschichte begreifen, sondern als die Geschichte von anderen: der deutschen Täter und der jüdischen Opfer. Umso bemerkenswerter sind wiederum Initiativen, die Verantwortung für derartige Orte übernehmen, zum Beispiel in Bogdanivka, wohin die rumänischen Besatzer Juden aus Odessa und Bessarbien gebracht und dort ermordet haben. Auch wenn es in dieser kleinen Stadt gar keinen jüdischen Bevölkerungsanteil gegeben hat und der Ort eher zufällig zu einem Schauplatz der Shoah wurde, so versteht man die Shoah dennoch als Teil der eigenen lokalen Geschichte und leitet daraus die Verantwortung ab, an die Ereignisse zu erinnern und der Toten zu gedenken.

4. Belarus

In Belarus sind die politischen und kulturellen Kontinuitäten zur Sowjetunion stark ausgeprägt, und auch die staatliche Kriegserinnerung folgt in Form und Inhalt der sowjetischen Erinnerungskultur. Es findet eine Konzentration auf Kriegshelden statt, inzwischen mit der Betonung auf weißrussischen Kriegshelden. Die Weißrussische SSR hat in der sowjetischen Memorialkultur einen besonderen Platz als "Partisanenrepublik" erhalten, und hieran knüpft auch eine national gefärbte staatliche Erinnerungskultur an. Da in Belarus die Öffentlichkeit staatlich reglementiert ist, gibt es bis heute keine gesellschaftliche Debatte über den Zweiten Weltkrieg. Deshalb gilt hier in besonderem Maße, was für alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion gilt: Die Trauer um die Toten findet in den sowjetischen Formen statt, so dass sowjetischer Heldenkult und individuelles Totengedenken amalgamiert sind. Dies hat zur Folge, dass eine Kritik an den heroischen Formen der Erinnerung leicht als eine Herabwürdigung der toten Angehörigen verstanden werden kann.

So sind es auch in Belarus in erster Linie lokale Initiativen, die an die Ermordung der weißrussischen Juden erinnern. Anders als in der Ukraine, wo solche Initiativen auf staatliche Gleichgültigkeit stoßen, müssen sie in Belarus jedoch mit staatlichem Widerstand rechnen. Dies hat auch mit der Spezifik einiger der Orte zu tun. In Malyj Trostenec wurden zum Beispiel nicht nur rund 55.000 Juden ermordet, hier befinden sich auch Massengräber stalinistischer Opfer aus der Vorkriegszeit. Dies verweist auf eine Besonderheit der westlichen Gebiete Weißrusslands und der Ukraine, die erst 1939 im Zuge der Teilung Polens im Hitler-Stalin-Pakt und dem darauf folgendem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen ein Bestandteil der Sowjetunion wurden: Hier besteht auch eine Opferkonkurrenz zwischen den Opfern des Zweiten Weltkrieges und den Opfern stalinistischer Herrschaft von 1939 und 1941 sowie nach 1945. Anders als im Baltikum, wo die Opfer stalinistischer Gewalt die Erinnerung an die Shoah beinahe schon verdecken, ist in Belarus der Stalinismus ein noch immer stark tabuisiertes Thema.

Fazit

Polen, Ukrainer und Weißrussen haben eine andere Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah als die Deutschen. Die dortigen Gedenkstätten stehen im Kontext ihrer jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen. Will man die Formen und Inhalte der Erinnerung verstehen, dann muss man diese Kontexte kennen, denn sie geben auch den Rahmen vor, innerhalb dessen die Gedenkstättenmitarbeiter heute arbeiten.

Das heißt aber nicht, dass man den Umgang mit den Orten und der Geschichte in polnischen, ukrainischen und weißrussischen Gedenkstätten nicht kritisieren darf. Das käme wiederum einer Exotisierung des östlichen Europas gleich, was ebenfalls unangemessen ist. Wie kann man also eine kritische Haltung einnehmen, ohne die Besonderheiten der deutschen Erinnerungskultur zum Maßstab für ganz Europa zu machen?

Zwei Fragen scheinen mir hier hilfreich, die man an jede Gedenkstätte stellen kann, sowohl an deutsche, als auch an polnische, ukrainische und weißrussische.

  1. Inwieweit wird die Würde der Opfer gewahrt? Die meisten dieser Orte sind Friedhöfe, so dass eine wichtige Frage ist, inwieweit die Totenruhe respektiert wird und der Ort auch als Friedhof verstanden wird. Sind die Massengräber geschützt, oder laufen ahnungslose Besucher über diese Gräber? Werden die Opfer für nachträgliche Meistererzählungen vereinnahmt, seien es nationale, politische oder religiöse Meistererzählungen?

  2. Wie wird mit den Besuchern umgegangen, also wie wird mit Ihnen umgegangen. Haben Sie den Eindruck, dass sie durch Gräuelgeschichten überwältigt werden, dass Sie indoktriniert werden, dass Ihnen möglichst wenig Raum zum eigenständigen Denken gelassen wird? Inwieweit wird am Ort selbst das nötige Wissen vermittelt, um den Ort verstehen zu können, etwa durch ein Museum.

Es geht also nicht darum, eine deutsche Perspektive an den Gedenkstätten einzunehmen, sondern eine individuelle Perspektive: zum einen diejenige der Opfer, zum anderen diejenige der Gedenkstättenbesucher. So können Sie einen kritischen Blick auf die Gedenkstätten werfen, welche zugleich die mitunter schwierigen Arbeitsbedingungen würdigen kann. Es gibt kleine, private Initiativen mit wenig Geld, welche die Würde der Opfer und der Besucher respektieren, und es gibt große staatliche Einrichtungen, in denen viel Geld steckt, welche die Würde der Opfer beschädigen und auch ihre Besucher nicht als eigenständig denkende Menschen und mündige Bürger behandeln.

Entscheidend ist am Ende eine gewisse Haltung zu den Ereignissen der Shoah, und an den allermeisten Gedenkstätten im östlichen Europa ist eine solche Haltung vorhanden. Und das wiederum ist alles andere als selbstverständlich, denn die Mitarbeiter und Initiativen übernehmen an diesen Orten die Verantwortung für einen angemessenen Umgang mit Verbrechen, die unter deutscher Verantwortung verübt wurden.

Es gilt das gesprochene Wort.
Jörg Ganzenmüller, am 20. November 2017 in Berlin

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Charakter von Orten der Shoah als Tatorte und Friedhöfe siehe ausführlich: Jörg Ganzenmüller/ Raphael Utz: Orte der Shoah. Überlegungen zu einem auratischen Missverständnis, Köln, Weimar, Wien 2016, S. 7-24.

  2. Vgl. Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006; Daniel Brewing: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939- 1945, Darmstadt 2016.

  3. Władysław Bartoszewki: Vergossenes Blut uns verbrüdert. Über die Hilfe für Juden in Polen während der Okkupation, Warschau 1970.

  4. Zit. nach Klaus-Peter Friedrich: Der nationalsozialistische Judenmord und das polnisch-jüdische Verhältnis im Diskurs der polnischen Untergrundpresse (1942 - 1944), Marburg 2006, S. 13f.

  5. Jan Bloński: Die armen Polen schauen auf das Getto, in: Barbara Engelking/ Barbara Hirsch (Hg.): Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt a. M. 2008, S. 24-39.

  6. Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001.

  7. Siehe dazu in Bezug auf Leningrad: Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad. Eine Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn u.a. 2005, S. 315-363.

  8. Die Zahlen nach: Bert Hoppe: Babij Jar – Massenmord am Stadtrand, in: Martin Langebach/ Hanna Liever: Im Schatten von Auschwitz. Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine. Begegnen, erinnern, lernen, Bonn 2017, S. 134-151, hier 147.

  9. Vgl. dazu ausführlich Christian Jänsch/ Alexander Walther: Zur Würde von Menschen an Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen, in: Jörg Ganzenmüller/ Raphael Utz: Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum, Köln, Weimar, Wien 2016, S. 329-347.