2. Tag: Donnerstag, 8.11.2018
Bildergalerie: Impressionen der Tagung Jana Kärgel, Referentin im Fachbereich "Extremismus" der Bundeszentrale für politische Bildung führte in den zweiten Tag der Veranstaltung ein. Mithilfe einer Reihe von Bildanalysen verdeutlichte sie, dass unsere Wahrnehmungen und Vorurteile über "den Islam" auch unsere Handlungen strukturieren und bestimmen. Dies geschieht nicht zuletzt durch Bilder, die beispielsweise in den Medien verwendet werden, um Geschichten über Islam und Islamismus gleichermaßen zu illustrieren. So ist die Darstellung von Frauen und Kindern mit Blick auf Salafismus meist von klischeebehafteten Bildern geprägt: Frauen in Niqab werden schnell als Salafistinnen verurteilt, Bilder von verschleierten Frauen und Polizisten lösen Debatten über öffentliche Sicherheit aus, Kinder auf dem Arm ihrer vollverschleierten Mütter wirken ängstlich und verstört. Kärgel appellierte im Sinne einer gelingenden Salafismusprävention daran, diese gängigen Assoziationen von Frauen und Kindern im Salafismus zu hinterfragen. Sie betonte, dass diese kritische (Selbst-)Reflexion Ziel der Tageseinführung und letztlich ein Ziel der gesamten Tagung darstelle. Ein reflektierter Umgang mit dem Thema Salafismus erfordere das Bewusstmachen von Vorurteilen.Auf die Einführung folgte für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, zwischen zahlreichen Vertiefungsmodulen des "Wissen vertieft"-Angebotes zu wählen. Diese wurden jeweils zwei Mal angeboten, sodass maximal zwei der sieben zur Auswahl stehenden Module besucht werden konnten.
Diskriminierung und Radikalisierung – zwei Seiten einer Medaille?
- Stefan E. Hößl, Universität zu Köln
- Silke Baer, cultures interactive e. V., Berlin
- Moderation: Linda Kelch, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
Silke Baer betrachtete die Hinwendungsmotive von Mädchen und Frauen zum Islamismus. Der Genderaspekt sei zentraler Gegenstand der Debatte, denn Jugendkulturen seien häufig "Jungenkulturen". Frauen und Mädchen wenden sich dem religiös begründeten Extremismus nicht trotz klassischer Geschlechterrollen zu, sondern gerade weil jede und jeder ihren und seinen Platz innerhalb der Ideologie habe. Somit herrsche zwar eine Gleichwertigkeit unter den Geschlechtern, aber keine Gleichberechtigung. Auch mit Blick auf die Gesamtgesellschaft verwies Baer auf die noch immer fehlende Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen gegenüber Männern. Mit Blick auf die Ausführungen von Hößl ergänzte sie, dass muslimische Frauen eine doppelte Diskriminierung erfahren würden: eine rassistische Ausgrenzung, der Frauen beispielsweise aufgrund des Tragens eines Kopftuches oder der Verhüllung (wodurch sie als Musliminnen identifiziert werden) schneller ausgesetzt sind als Männer, und die Ausgrenzung aufgrund ihres Geschlechts. Für sie wird die Radikalisierung dann zu einer doppelten Loslösung von der Mehrheitsgesellschaft. Aus diesen Beobachtungen heraus betonte Baer die Bedeutung von geschlechterspezifischer und phänomenübergreifender Prävention.
Die anschließende Diskussion nahm Fragen nach Möglichkeiten des Empowerments für Mädchen in den Fokus. Silke Baer forderte eine offene Diskussion kritischer Themen und das Einlösen gesellschaftlicher Versprechen in Bezug auf eine geschlechtliche Gleichberechtigung. Als Beispiele nannte sie etwa das Fehlen von Beteiligungsformen und Selbstwirksamkeitserfahrungen für junge Mädchen. Vielfach sei die Lebensrealität junger Frauen, insbesondere junger Musliminnen, nicht ausreichend in unserer Gesellschaft berücksichtigt. Aufgrund der Möglichkeit einer geschlechterspezifischen Diskriminierung sei die dezidierte Mädchenarbeit ihrer Ansicht nach ein zentraler Bestandteil der Prävention: Die Arbeit in Mädchengruppen gibt jungen Frauen beispielsweise Raum, um über ihre Erfahrungen, Ängste und Wünsche zu sprechen. Somit kann auch einem Rechtfertigungsdruck entgegengesteuert werden, den Mädchen in der Gesamtgesellschaft aufgrund von noch immer weit verbreitetem Sexismus auf eine viel intensivere Weise erfahren als Jungen und Männer. Darüber hinaus warfen die Modulteilnehmenden nochmals einen kritischen Blick auf den Begriff der Radikalisierung, da er bereits Stigmatisierung beinhalte. Der aktuelle Radikalisierungsdiskurs sei zu ausschließend. Es müssten Gespräche mit den mündigen Subjekten gesucht werden, bevor diese als "manipulierte Objekte" nur noch Gegenstand der Diskussion seien.
Frauen in der extremen Rechten und im islamistischen Extremismus – Motive, biografische Hintergründe und Erfahrungen
- Michaela Glaser, Deutsches Jugendinstitut Halle/Saale
- Moderation: Laura Dickmann, Doktorandin der Religionswissenschaften an der Universität Bremen
Salafismusprävention in der Kommune – Chancen und Herausforderungen
- Diana Schubert, Kommunaler Präventionsrat der Stadt Augsburg
- Christian Kromberg, Beigeordneter der Stadt Essen
- Moderation: David Yuzva Clement, M.A., Universität Erfurt
Im Anschluss an das Augsburger Beispiel ermöglichte Christian Kromberg mit seiner Vorstellung der Netzwerkarbeit in der Stadt Essen den unmittelbaren Vergleich zwischen unterschiedlichen kommunalen Herangehensweisen. In Essen gab ein konkretes Ereignis Anlass zu einer stärkeren Vernetzung auf kommunaler Basis. Infolge des Anschlags auf den örtlichen Sikh Tempel im April 2016 durch zwei jugendliche Täter entstand beispielsweise ein enger Kontakt zum Netzwerk der Sikh Gemeinde. Aber auch andere Schnittstellen der Stadt, die mit den Themen Radikalisierung und Salafismus Berührung hatten und haben, seien in Folge dieser Sicherheitsbedrohung näher zusammengerückt. In Nordrhein-Westfalen leben circa 350 sogenannte Gefährderinnen und Gefährder und die salafistische Szene in NRW sei keineswegs zu unterschätzen, führte der Beigeordnete Kromberg aus. Die Kommunen hätten also eine neue Aufgabe im Bereich der Gefahrenabwehr, die nicht mehr nur alleine von der Polizei geleistet werden könne, so Kromberg. Er forderte einen 360 Grad-Blick, der vor allem durch die umfangreiche Kooperation vieler Institutionen erreicht werden könne. Da Institutionen eigene "Organisationskulturen" aufweisen, müssten Bemühungen stattfinden, diese "Kulturunterschiede" nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu überwinden. Ziel sei es, Menschen aus diversen Institutionen und auf allen institutionellen Ebenen zusammenzubringen und zu vernetzen. Darüber hinaus sollen Schnittstellen geschaffen werden, die den Akteuren im Bereich der Prävention für ihre Arbeit einen gemeinsamen Fokus liefern. Kromberg forderte außerdem, dass Verwaltungsebenen an einem Strang ziehen und miteinander kommunizieren. Kommunikation sei ein essenzielles Instrument der Netzwerkarbeit: Akteure müssten einander, falls nötig, stets aufs Neue erklären, warum sie welche Arbeit leisten. Um Kommunikation und gegenseitiges Verständnis zu fördern, wurden in Essen Hospitationstage eingerichtet, bei denen Beschäftigte einer Behörde den Arbeitsalltag und die Organisationsstruktur eines anderen Netzwerkpartners kennenlernen können. Außerdem wurden Aus- und Weiterbildungen entwickelt, um alle Akteure in die Präventionstage einzubeziehen und zu sensibilisieren. Um die Präventionsarbeit auf eine breite Basis zu stellen und das Know-How kontinuierlich zu erweitern, ist die Stadt Essen Teil der Netzwerke "Deutsch-Europäisches Forum für Urbane Sicherheit" (DEFUS) und "European Forum for Urban Security" (EFUS).
In der anschließenden Diskussion äußerte sich Christian Kromberg zu der kritischen Nachfrage, ob die Betonung des Sicherheitsaspektes in Essen nicht dazu führe, jungen, vermeintlich radikalisierungsgefährdeten Menschen vorschnell Straftaten zu unterstellen. Kromberg betonte, dass die Arbeit in der Stadt der Verhinderung von Straftaten diene, dennoch solle die Prävention vermeiden, dass die Verbindung von Radikalisierung und Straffälligkeit sofort hergestellt werde. Nichtsdestotrotz müsse Prävention den Sicherheitsaspekt grundsätzlich mitdenken, insbesondere dann, wenn andere präventive Maßnahmen nicht greifen.
"The kids are alright" – Are they? Kinder salafistischer Eltern
- Tobias Meilicke, PROvention, Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V., Kiel
- Kim Lisa Becker, PROvention, Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V., Kiel
- Moderation: Martin Langebach, Bundeszentrale für politische Bildung
Salafismus 2.0: Frauen und Kinder im Netz – Propaganda und Prävention
- Nava Zarabian, jugendschutz.net, Mainz
- Sindyan Qasem, Zentrum für Islamische Theologie, Universität Münster
- Moderation: Farah Bouamar, Mitbegründerin der "Datteltäter", Berlin
Auch Kinder seien Adressaten islamistischer Propaganda: Für sie werden spezifische Angebote entwickelt, z. B. Apps. Sie werden außerdem als Akteure, als Kämpfer und als Henker inszeniert. Ziel sei dabei auch das Senden eines Signals an die Erwachsenen, vor allem an die männlichen Rezipienten – das Töten soll sprichwörtlich "kinderleicht” wirken. Als einen Aspekt einer mehrdimensionalen Gegenstrategie schlägt Zarabian vor, Verstöße zu ahnden und Hassbeiträge zu löschen. Dies betreffe die Strafverfolgung und die Verantwortung der Seitenbetreiber. Eine Kooperation müsse auf nationaler und internationaler Ebene erfolgen, da die Zusammenarbeit relevanter Akteure Sicherheitsrisiken reduzieren kann. Außerdem forderte sie pädagogische Prävention.
Bevor das Plenum in eine Diskussion einstieg, ergänzte Sindyan Qasem vom Zentrum für Islamische Theologie in Münster den Input seiner Vorrednerin um Möglichkeiten einer Präventionsarbeit mit dem Fokus auf Gender. Der Islamismusprävention lägen verschiedene Annahmen zugrunde, so Qasem: Eine schwerwiegende Annahme sei beispielsweise das Dilemma, Zielgruppen formulieren zu müssen, bei denen angenommen werde, sie seien (potenziell) gefährdet. Problematisch sei ferner, dass eine "Unterwürfigkeit" der Islamismusprävention unter strukturellen Rassismus und Sexismus zu beobachten sei. So werde zwar häufig über Kopftuch und Niqab debattiert, nicht jedoch über Sexismus in und durch die "Mehrheitsgesellschaft": Die eigene Gesellschaft werde häufig (im Kontrast zum islamischen "Anderen”) als rassismus- und sexismusfrei imaginiert. Qasem betonte, dass es keine Notwendigkeit gäbe, in der Präventionsarbeit Geschlechterrollen zu reproduzieren. Er plädierte für eine fokussierte anstelle einer universellen Präventionsarbeit.
Frauen im Salafismus: Beratungsfall, Sicherheitsrisiko – oder beides?
- Julia Hoffmann, Wegweiser, Dortmund
- Hazim Fouad, Landesamt für Verfassungsschutz, Bremen
- Moderation: Stella Covaci, Bundeszentrale für politische Bildung
Psychische Faktoren in der (De-)Radikalisierung: Pathologisierung oder vielversprechendes Erklärungsmuster?
- Dr. Katharina Seewald, Kriminologischer Dienst für den Berliner Justizvollzug und die Sozialen Dienste der Justiz, Berlin
- Prof. Dr. Herbert Scheithauer, Freie Universität Berlin
- Moderation: Lobna Jamal, Bundeszentrale für politische Bildung
Professor Scheithauer schloss mit der Frage an, welchen Nutzen die Präventionsarbeit aus den Erkenntnissen der Psychologie mit Blick auf Radikalisierungsprozesse ziehen kann. Dabei richtete er den Fokus auf das Handlungsfeld Schule. Insbesondere durch eine Häufung medialer Beiträge steige die subjektive Wahrnehmung von Gewalttaten mit Radikalisierungshintergrund und damit auch die Unsicherheit des Schulpersonals im Umgang mit möglichen Verhaltensindikatoren. Mit der Vorstellung von "Netwave" (Interdisciplinary NETWorks Against Radicalisation and Violent Extremism), einem sich im Aufbau befindenden Modellprojekt für den schulischen Umgang mit extremistischen Ideologien und Radikalisierungsprozessen, wurden entsprechende Möglichkeiten aufgezeigt, Schulpersonal zu unterstützen. Ziel dieses Projektes sei es, gemeinsam mit dem Schulpersonal mögliche Radikalisierungsverläufe oder problematische Verhaltensweisen frühzeitig zu erkennen und somit früh in den Radikalisierungsprozess einzugreifen. Weiterhin soll Netwave zu einer "Entmystifizierung" beitragen und dem Lehrpersonal Wissen über kulturelle Besonderheiten und Radikalisierungsverläufe vermitteln. Das Schulpersonal soll befähigt werden, religiös begründete Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen sowie "Missionierungsverhalten" zu erkennen und beurteilen, sodass erwägt werden kann, ob pädagogische Maßnahmen zu ergreifen sind oder ob ein Verhalten gar strafrechtlich relevant ist.
Zum Abschluss der Tagung kamen die Teilnehmenden nochmals im Plenum zusammen. Nach der intensiveren Arbeit in kleineren Modulgruppen durften sie erneut einen Vortrag hören, der diesmal einen vergleichenden Blick auf die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Rechtsextremismusprävention warf.
Frauen und Kinder in der Extremismusprävention – Lessons learned
- Prof. Dr. Esther Lehnert, Alice Salomon Hochschule Berlin