12. Festival
Herbst 2025

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5. Festival // Heißer Herbst – Hamburg 2002

5. Festival // Heißer Herbst – Hamburg 2002

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Das 5. Festival Politik im Freien Theater beschäftigte sich mit der New Economy in der globalen Welt des Turbo-Kapitalismus. Das Festival fand vom 22. Oktober bis 2. November 2002 in Hamburg statt.

Mobilmachung aller Energien des flexiblen, perfekt funktionierenden, zu jeder Zeit verfügbaren Menschen – Arbeit und Arbeitslosigkeit; freie Zeit, die totschlägt und -geschlagen wird; kurz: die schöne neue Welt der New Economy in der globalen Welt des Turbo-Kapitalismus. Das war das zentrale Thema des 5. Festivals Politik im Freien Theater vom 22. Oktober bis 2. November 2002 in Hamburg. Es gastierte am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, den Hamburger Kammerspielen, auf Kampnagel und am Thalia Theater.

Grafik: Andreas Homann

Für dieses Sujet standen auf dem Spielplan Produktionen wie Gesine Danckwarts „Täglich Brot“ in der Inszenierung von Christiane Pohle, Martin Heckmanns „Schieß doch, Kaufhaus!“ und „Heidi Hoh 3 – die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat“ von René Pollesch. Nicht minder provokant wurde das Thema variiert in „Mainstream“ von David Greig, in „boombar“ (einer Adaptation von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“) oder in „Drift“, einer Multimedia-Performance über die hilflosen Versuche von 30-Jährigen, in der Informations- und Mediengesellschaft mit sich und der Welt klarzukommen.

Wie auch in den vorangegangenen Jahren beschränkte sich das Festival jedoch keineswegs auf ein Leitthema. Vielmehr wurde eine Auswahl präsentiert, die das widerzuspiegeln versuchte, was im politisch orientierten professionellen Freien Theater aktuell und künstlerisch auf der Höhe der Zeit war. Herauskam dabei ein inhaltlich wie ästhetisch höchst abwechslungsreiches Programm: „Internationales Performance- und Tanztheater ist ja schön und gut. Richtig volle Häuser erzielt man damit aber nicht. Ganz anders erging es da einem kleinen feinen Festival, das im Oktober und November über Hamburgs Bühnen fegte. [...] Und das, obwohl der Titel eher an dröges Aufklärungsschultheater erinnerte und viele der bundesweit eingeladenen Gruppen hierzulande unbekannt waren. Auch mit hippen Medienwelten hatte das Ganze wenig zu tun. Ernsthafte Auseinandersetzung mit eher unbequemen Themen war gefragt. Nach den Vorstellungen sah man junge und ältere Theaterbesucher in emsigen Diskussionen vertieft. Dankbar reisten auch diverse Schülergruppen zu den frühen Vorstellungen um 11 Uhr morgens“ (Szene Hamburg, 12/2002).

I Furiosi
Foto: Klaus Fröhlich

In „Nachtmahl“ lud die Regisseurin Eva Diamantstein zu einem (realen) Fünf-Gänge-Menü, in dessen Verlauf die Rolle von Frauen im NS-Staat verhandelt wurde, auf dass dem Publikum buchstäblich die Brocken im Hals stecken blieben. Das deutsch-israelische Teatron Theater und das figuren theater tübingen gingen in „Kinder der Bestie“ der Frage nach, wie junge Juden heute mit den Holocaust-Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern umgehen. In „TRUTH – commissioned by the heart of darkness“ konfrontierte der für sein aufklärerisches Doku-Theater bekannte Hans-Werner Kroesinger Joseph Conrads Erzählung „Heart of Darkness“ mit Dokumenten aus der belgischen Kolonialgeschichte und Protokollen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission.

Neue, unkonventionelle Lesarten von Theaterklassikern gingen aktuellen Phänomenen von Macht und Machtmissbrauch und dem Zerfall staatlicher Macht, beziehungsweise dem Lebensgefühl in solchen Situationen auf den Grund. Als Tragödie und Clownerie zugleich erschloss das Theater des Lachens (Berlin) in der „Antigone des Sophokles“ menschliche Grunderfahrungen für die Gegenwart: Vor dem Hintergrund der Spaßgesellschaft ist Antigone längst nicht mehr Heldin, wohl aber Inkarnation des schwach gewordenen Widerstands. Der „Baal“ des Orphtheaters kam als ein wildes, rockiges und fetzendes Konzert daher, als ein expressives Meisterwerk der Verführungskunst.

Das Außenseitertum war Thema auch zweier anderer Inszenierungen, die insbesondere dessen Ambivalenz, das kreative und gleichsam destruktive Moment, hervorhoben. Mit „Die drei Leben der Lucie Cabrol“ von John Berger in der Adaption des Théâtre de Complicité war dem Münchner Metropol-Theater ein eigenwilliges, hoch poetisches Meisterwerk gelungen. Das geradezu Gegenteilige beschrieb „Dead End“ von Freynde + Gaesdte aus Münster. Der authentischen Fall des Amokläufers Jean-Claude Romand war für den Regisseur Zeha Schröder – noch vor den Ereignissen in Erfurt – Anlass, mit Mitteln der dokumentarischen Recherche Fragen an eine Gesellschaft zu richten, die den sozialen Status bisweilen ebenso ins Groteske überhöht wie die wilden Fantastereien des französischen Massenmörders.

Nachtmahl
Foto: Bernard Spiegeleer

Einen deutlich feministischen Akzent setzten zwei Inszenierungen aus Berlin und München. Mit Zitaten aus Trivial- und Hochkultur, wüsten Männerbeschimpfungen und weiblichen Selbstbezichtigungen benannte das Liebfrauentheater aus München in „Abendrot_BallerMann. a_female_answer“ geschlechtsspezifische Stereotypen, unterlaufen und umformuliert durch eine gehörige Portion Feminismus- und Kapitalismuskritik sowie einen Schuss Selbstironie. „Koppstoff“ nach Feridun Zaimoglu, das war ‚kanak sprak‘ aus weiblicher Perspektive – ein Großangriff junger, in Deutschland aufgewachsener Türkinnen, die den bereits stark rhythmisierten Text mit HipHop und Soul musikalisch weitertrieben.

Insgesamt war die Rolle von Frauen – und auch das zeigte Hamburg – im Theater stärker geworden. Gegenüber den Vorjahren hatte die Zahl von Regisseurinnen erheblich zugenommen; weit mehr als ein Drittel aller Inszenierungen stammte aus ihrer Hand. Ein Indiz für die zaghaften Veränderungen in der gesamten deutschsprachigen Theaterlandschaft: Theaterregie ist nicht mehr alleinige Domäne von Männern, eine Regisseurin nicht mehr nur Ausnahmeerscheinung. Wenn man diese Entwicklungen auch nicht allein dem Freien Theater zuschreiben kann, so hat es doch maßgeblichen Anteil daran.

Für einen furiosen Abschluss des Festivals schließlich sorgte „I Furiosi – Die Wütenden“, ein Stuttgarter Theaterprojekt zum Thema Fußball und Gewalt, in dem Sebastian Nübling die Steigerung kleiner Gewaltrituale in und vor den Fußballstadien zur hemmungslosen Aggressionsshow als virtuoses Spektakel mit über 40 Akteuren inszenierte.

Heidi Hoh3
Foto: David Balzer

„Die fünfte Ausgabe des Festivals – das war in Hamburg ein Publikumserfolg. [...] Gerade die Vielfalt an Formen regte die neue Lust am Freien Theater an“, so das Resümee der Hamburger Morgenpost vom 2.11.2002, und in den Kieler Nachrichten vom 5.11.2002 hieß es: „Volle Säle in den Kammerspielen, dem Thalia Theater und dem Schauspielhaus. Volle Hallen auf Kampnagel. Dort herrschte ein Geist wie zu alten Zeiten, als die Kulturfabrik Ort der freien Szene war.“

Ein Spezifikum dieses Festivals war die Häufigkeit von Projekten, die in vernetzter Kooperation und im Austausch unter den koproduzierenden Partnern realisiert wurden, wobei auch Stadt- und Staatstheater bisweilen mit von der Partie waren. Die Vergabe von Auftragsarbeiten an Autoren wie Danckwart oder Heckmanns und die theatrale Realisierung ihrer Texte wurde nur durch die Koproduktion von Theaterhaus Jena, TIF Dresden, Berliner Sophiensæle und Thalia Theater Hamburg möglich. Erst diese Kooperation schaffte die finanzielle Basis dafür, dass „Täglich Brot“ und „Schieß doch, Kaufhaus!“ überhaupt auf die Bühne kamen. Ähnliches gilt für Polleschs „Heidi Hoh 3“ in der Koproduktion zwischen Podewil Berlin und dem Frankfurter Mousonturm, „I Furiosi“ vom Theaterhaus und Staatstheater Stuttgart oder „TRUTH“ von FFT Düsseldorf und Podewil.

Täglich Brot
Foto: Joachim Dette

Eine Vernetzung zwischen Freien Theatern – übrigens auch über die Landesgrenzen hinweg wie z. B. bei der Produktion von „Nachtmahl“ in der Kooperation zwischen Eva Diamantstein, SPIELART Festival München, Schauspielhaus Wien und Schauspielhaus Frankfurt/M. – existierte bereits seit einigen Jahren, wurde jetzt aber mit hohem Tempo weiter vorangetrieben und perfektioniert. Motor dafür war ganz offensichtlich der ökonomische Druck, die immer geringer werdenden finanziellen Mittel der Kommunen für freie Produktionen und Spielstätten.

Gänzlich neu indes war, dass sich auch Freie und Stadt- und Staatstheater, einst feindliche Brüder, zu vernetzen begannen. Eine junge Generation von Regisseurinnen und Regisseuren, auf dem Festival repräsentiert durch Griesbach, Kroesinger, Nübling, Pohle, Pollesch, Schölch u. a., die regelmäßig in beiden Segmenten arbeiteten, keine Berührungsängste pflegten und keine Abgrenzungspolitik betrieben, erschlossen dem Freien Theater die Ressourcen der Stadt- und Staatstheater. Das eröffnete freien Projekten bessere Produktionsmöglichkeiten und damit letztlich eine Qualifizierung der künstlerischen Arbeit. Der Gewinn für die Staats- und Stadttheater liegt auf der Hand: relativ kostengünstige Bereicherungen des Spielplanangebots, größere künstlerische Vielseitigkeit und Bindung neuer Publikumsschichten.

Theatergastspiele:

  • „Abendrot_Ballermann – a female answer“, Liebfrauentheater, München, Regie: Sonja Breuer

  • „Antigone“ von und nach Sophokles, Theater des Lachens, Berlin, Regie: Astrid Griesbach

  • „Baal“ von Bertolt Brecht, Orphtheater, Berlin, Regie: Susanne Truckenbrodt

  • „boombar“ von Gila von Beh, Lubricat, Berlin, Regie: Dirk Cieslak

  • „Dead End“, Freuynde + Gaesdte, Münster, Regie: Zeha Schröder

  • „Die drei Leben der Lucie Cabrol“ von John Berger, Metropol-Theater, München, Regie: Jochen Schölch

  • „Drift. Ein mobiler Clubabend für die Bühne“, unitedOFFproductions, Braunschweig, Regie: Dieter Krockauer

  • „Heidi Hoh3. Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat“ von René Pollesch, Produktion Heidi Hoh 3, Berlin, Regie; René Pollesch

  • „I Furiosi – Die Wütenden“ nach dem Roman von Nanni Balestrini, Theaterhaus Stuttgart / Württembergische Staatstheater – Schauspiel, Regie: Sebastian Nübling

  • „Kinder der Bestie oder vom herrlichen Narrentalent, an den Menschen zu glauben“ nach David Grossman: „Stichwort: Liebe“, Teatron Theater / figuren theater tübingen, Arnsberg / Jerusalem / Tübingen: Regie: Ensemble

  • „Koppstoff“ nach Feridun Zaimoglu, koppstoff-ensemble, Berlin, Regie: Dominic Huber

  • „Mainstream“ von David Greig/Suspect Culture, Theater an der Winkelwiese, Zürich, Regie: Gian Manuel Rau

  • „Nachtmahl“ von Eva Diamantstein, Produktion Nachtmahl, München, Regie: Eva Diamantstein

  • „Out of Control“ nach Michael Fengler / R. W. Fassbinder „Warum läuft Herr R. Amok?“ und John Cassavetes, Norton.commander.productions, Dresden, Regie: Harriet Maria und Peter Meining

  • „Schieß doch, Kaufhaus!“ von Martin Heckmanns, Theaterhaus Jena und TIF Dresden, Regie: Simone Blatter

  • „Täglich Brot“ von Gesine Dankwart, Theaterhaus Jena und TIF Dresden, Regie: Christiane Pohle

  • „TRUTH – Commissioned by the heart of darkness“, TRUTH-Produktion, Berlin, Regie: Hans-Werner Kroesinger / Rob Moonen

Jury:

  • Thea Dorn, Schriftstellerin

  • Gerhard Jörder, freier Journalist

  • Renate Klett, Kritikerin und Publizistin

  • Lukas Langhoff, Regisseur

Preisträger:

  • Theaterhaus Stuttgart/Schauspiel Stuttgart („I Furiosi – Die Wütenden“) – auch Preis des ZDFtheaterkanals

  • Theaterhaus Jena/TIF Dresden („Täglich Brot“)

  • Metropoltheater München („Die drei Leben der Lucie Cabrol“)

Fussnoten