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Analyse: Der Kleine Grenzverkehr zwischen Polen und der Oblast Kaliningrad

Łukasz Wenerski

/ 18 Minuten zu lesen

Infolge der Ukrainekrise kam es zu einer deutlichen Unterkühlung der russisch-polnischen Beziehungen. Doch der Kleine Grenzverkehr weist nach wie vor ein großes Entwicklungspotential für beide Seiten auf.

Polnische Autofahrer warten an einer Tankstelle im Gebiet der russischen Exklave Kaliningrad. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Der Kleine Grenzverkehr zwischen Polen und Russland erlaubt den Einwohnern der Oblast Kaliningrad und einiger Kreise der Woiwodschaften Ermland-Masuren und Pommern, ohne Visum in diejenigen Zonen im Nachbarstaat zu reisen, die von dem Vertrag erfasst werden. Die Möglichkeit, Reisen ins andere Land auf der Grundlage der Einreiseerlaubnis des Kleinen Grenzverkehrs zu unternehmen, wird von Russen wie auch Polen gern wahrgenommen, wenn sich auch die Gründe für diese Fahrten bei beiden Gruppen deutlich unterscheiden. Analysiert man den Kleinen Grenzverkehr, haben zwei Aspekte Schlüsselbedeutung. Erstens sind es die Reisemotivationen der Einwohner der Kaliningrader Oblast und der Polen. Zweitens muss angesichts der aktuellen Lage untersucht werden, welchen Einfluss die aktuelle Politik Russlands auf der internationalen Bühne und die damit einhergehende Abkühlung der Beziehungen zwischen Warschau und Moskau auf den Kleinen Grenzverkehr haben.

Der Vertrag über den Kleinen Grenzverkehr zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation, der im Juli 2012 in Kraft trat, erlaubt den Einwohnern einiger Kreise der Woiwodschaften Ermland-Masuren (województwo warmińsko-mazurskie) und Pommern (woj. pomorskie) sowie den Einwohnern der Oblast Kaliningrad, ohne Visum in diejenigen Zonen im Nachbarstaat zu reisen, die von dem Vertrag erfasst werden. Ausreichend ist ein Dokument, das die Erlaubnis zur Teilnahme am Kleinen Grenzverkehr erteilt und das die Einwohner der betreffenden Gebiete beantragen können. Diese Erlaubnis befugt zum Grenzübertritt ins Nachbarland und zum Aufenthalt in der dortigen Grenzzone bis zu 30 Tagen ab dem Tag der Einreise. Der Aufenthalt darf insgesamt allerdings nicht mehr als 90 Tage innerhalb von sechs Monaten betragen, gezählt vom ersten Tag der Einreise. Die erste Erlaubnis wird für zwei Jahre erteilt, jede weitere für fünf Jahre.

Der Vertrag über den Kleinen Grenzverkehr zwischen Polen und Russland ist ein untypischer Vertrag, denn er geht in seinen Grundlagen über den Standard der zugrunde liegenden Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1931/2006 hinaus, die das Funktionieren eines Kleinen Grenzverkehrs regelt. Beschlossen wurde eine günstigere Lösung als die bisherigen Verträge dieses Typs, was erlaubte, ein deutlich größeres Territorium in den Kleinen Grenzverkehr einzubeziehen. Im genannten EU-Dokument wird als Grenzzone ein Gebiet bestimmt, das nicht mehr als 30 Kilometer, in bestimmten Fällen nicht mehr als 50 Kilometer, von der Grenze entfernt ist. Dagegen überschreiten die Gebiete des Kleinen Grenzverkehrs sowohl auf der polnischen als auch der russischen Seite diese Distanz. Allein die Oblast Kaliningrad ist insgesamt 205 Kilometer lang und 108 Kilometer breit, also deutlich größer als in der Verordnung 1931/2006 vorgesehen.

Die Vereinbarung eines Kleinen Grenzverkehrs und sein Inkrafttreten waren eines der Ereignisse, die bestätigten, dass trotz der schwierigen Nachbarschaft und der vielen Probleme in den Beziehungen zwischen Polen und Russland beide Länder seit Beginn der 1990er Jahre zu Aktivitäten in der Lage sind, die die Entwicklung von Zusammenarbeit ermöglichen. Schlüsselbedeutung für die Konzeptionierung des Kleinen Grenzverkehrs hatten die Diskussionen während der Treffen der Außenminister Polens, Russlands und Deutschlands im Format des "Kaliningrader Dreiecks". Das erste Treffen der drei Chefdiplomaten fand im Jahr 2011 statt; dort wurde über die Entscheidung verhandelt, einen Kleinen Grenzverkehr zwischen Polen und der Oblast Kaliningrad einzuführen.

Leider haben sich seitdem die Beziehungen zwischen Russland und Polen deutlich verschlechtert, was offenkundig von der aktuellen Politik der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine beeinflusst wird. Die gegenwärtige politische Lage ist auch für das Funktionieren des Kleinen Grenzverkehrs von Bedeutung. Nach über zwei Jahren des Inkrafttretens des Kleinen Grenzverkehrs lassen sich zwei Phasen dieser Initiative erkennen. Die erste begann im Juli 2012, als der erste Ausweis für den Kleinen Grenzverkehr ausgegeben wurde, und dauerte bis März 2014, als Russland sich zur Annexion der Krim entschloss. In dieser Zeit erlangte der Kleine Grenzverkehr Popularität beiderseits der Grenze. In den Beziehungen Polens zu Russland insgesamt ist der Kleine Grenzverkehr ein wichtiges, aber nicht das einzige Element zur Verbesserung des Verhältnisses zum östlichen Nachbarn. Seit März 2014 bis heute lässt sich von der zweiten Phase sprechen, in der die aktuelle Situation zwischen dem offiziellen Warschau und dem offiziellen Moskau seinen negativen Stempel auch den polnisch-russischen Grenzbeziehungen aufdrückt. Der Kleine Grenzverkehr ist dabei eines der letzten Instrumente, das ein Funktionieren der beiderseitigen Zusammenarbeit immer noch ermöglicht.

Ziele: Einkäufe und Tourismus in Polen

Erwartungsgemäß wurde der Verkehr an der polnisch-russischen Grenze durch die Einführung des Kleinen Grenzverkehrs im Juli 2012 sehr belebt und wurden die Ziele der Fahrten ins Nachbarland rasch deutlich. Die Russen kommen vor allem wegen günstigerer und häufig qualitativ besserer Lebensmittel nach Polen, sie nutzen polnische Dienstleistungen (Friseure, Autowerkstätten) und zunehmend wählen sie Polen auch als touristisches Reiseziel für ein (verlängertes) Wochenende.



Für viele war die so motivierte Präsenz der Russen in Polen zunächst eine gewisse Überraschung. Noch vor einigen Jahren fuhren die Einwohner der Oblast Kaliningrad nach Polen, um auf den in Grenznähe gelegenen Basaren ihre Produkte zu verkaufen. Nach dem Inkrafttreten des Kleinen Grenzverkehrs fand eine Umkehrung der Rollen statt. Die Russen kommen nach Polen mit größeren Mengen Bargelds und mit dem Ziel, es dort auszugeben.

Die Russen, die aus der Oblast Kaliningrad nach Polen reisen, lassen sich generell in zwei Gruppen einteilen. Die einen leben im Grenzstreifen und fahren in die nächstgelegenen polnischen Städte wie Braniewo (Braunsberg) und Bartoszyce (Bartenstein). Dort tauchen meistens Russen auf, deren einziges Ziel ist, so schnell wie möglich Einkäufe zu erledigen, mit möglichst geringem finanziellem Aufwand. Sie kaufen vorwiegend Lebensmittel, Schulartikel und ähnliches. Die Nachfrage nach polnischen Produkten ist so groß, dass in der Grenzregion in den Jahren 2012 bis 2014 massenhaft neue Geschäfte eröffneten. Die Ladenangestellten unterstrichen damals, dass die Mehrheit der Kunden Russen wären und sie deutlich mehr Geld als die Polen ausgäben.

Die zweite Gruppe der Russen, die nach Polen im Rahmen des Kleinen Grenzverkehrs fahren, sind vor allem Einwohner Kaliningrads, wobei sich ihre Reisen nicht nur auf die nächstgelegenen Lebensmittelgeschäfte auf polnischer Seite beschränken. Sie tätigen ihre Einkäufe in den größten Handelszentren, die in den Woiwodschaften Ermland-Masuren und Pommern zu finden sind. Dabei erfreut sich die Woiwodschaft Pommern mit ihren großen und populären Einkaufsmöglichkeiten in der "Dreistadt" Gdańsk-Sopot-Gdynia (Danzig-Zoppot-Gdingen) größerer Beliebtheit. Die Russen fahren auch nach Olsztyn (Allenstein), aber dort sind es deutlich weniger als in Danzig.

Außer für Einkaufsfahrten wählen viele Russen aus der Oblast Kaliningrad die polnischen Städte innerhalb des Kleinen Grenzverkehrs als touristische Ziele. Um russische Touristen anzuziehen, werden verschiedene Initiativen von Tourismusorganisationen in Zusammenarbeit mit Vertretern der Branche wie zum Beispiel Hotels oder Restaurants unternommen, häufig in Kooperation mit einer professionellen Werbeagentur. Dies sind zum einen Produkt- und Imagekampagnen wie die Vermarktung von stadtspezifischen Geschäften, Restaurants oder Hotels in Polen, die in der Oblast Kaliningrad zu so wichtigen Anlässen wie zum Jahreswechsel, zum Frauentag oder als Maiausflüge initiiert werden. Um einen möglichst großen Effekt zu erzielen, werden die Werbekampagnen im Kaliningrader Radio und Fernsehen geschaltet und auf russischsprachigen Internetportalen, deren Zielgruppe die Einwohner der Oblast sind, sowie, etwas seltener, in der Presse. Zum anderen wird mit Happenings in der Stadt Kaliningrad für die polnische Region geworben. Beispielsweise wurde auf dem zentralen Platz in Kaliningrad ein "Fernrohr" installiert, mit dem Informationen und Werbung über die Woiwodschaft Pommern und ihre interessantesten Orte vermittelt wurden. Diese Aktion begeisterte nicht nur die Massen, sondern auch die lokalen Medien. Die dritte Maßnahme, Touristen aus Russland nach Polen zu führen, sind die Tourismusmessen. Dies ist sicher die typischste Form in dieser Branche, Klienten zu werben.

Benzin, Alkohol und Zigaretten in der Oblast Kaliningrad

Während Russen vor allem nach Polen fahren, um einzukaufen und polnische Dienstleister in Anspruch zu nehmen, wozu auch die Tourismusbranche gehört, sind die Ziele der Polen für Fahrten in die Oblast Kaliningrad ganz andere. Die Einwohner der polnischen Zone des Kleinen Grenzverkehrs fahren in die Oblast, um Benzin zu kaufen, das dort deutlich billiger ist als in Polen. Mancher kauft auch Alkohol und Zigaretten. Wie die Statistiken zeigen, sind über 80 Prozent der Ausgaben, die Polen in der Oblast Kaliningrad tätigen, für den Kauf von Benzin bestimmt.

Die Benzinkäufe der Polen weckten von Beginn des Inkrafttretens des Vertrags über den Kleinen Grenzverkehr ernstzunehmende Kontroversen vor allem auf polnischer Seite. Unter anderem unter den Vertretern der Zollbehörde traten Zweifel über den Verbleib des nach Polen eingeführten Benzins auf. Vorwürfe wurden laut, dass das Benzin nicht für den Eigenbedarf bestimmt sei, sondern über die Grenze gebracht werde, um es anschließend illegal weiterzuverkaufen. Diese Vorwürfe waren in vielen Fällen berechtigt, zumal das Prozedere des Benzintransports folgendermaßen aussah: Tägliche Einreise in die Oblast Kaliningrad mit einem Auto, das einen großen und fast leeren Tank hat, Fahrt zur nächsten oder einer der nächsten Tankstellen, Rückkehr mit mehr als 100 Liter Benzin im Tank und in Kanistern. Insgesamt konnten auf diese Art und Weise mehrere Tausend Liter Benzin im Monat nach Polen gebracht und dort verkauft werden.

Nach Ansicht der Vertreter der polnischen Zollbehörde war das Problem des illegalen Benzinverkaufs so schwerwiegend, dass im Mai 2013, ein knappes Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags über den Kleinen Grenzverkehr, eine erste Verschärfung hinsichtlich der Grenzübertritte (maximal zehn Mal pro Monat) eingeführt wurde. Im Juni 2014 wurde diese Beschränkung abermals verschärft (vier Mal im Monat, andernfalls wird auf das eingeführte Benzin Zoll erhoben). Diese Maßnahmen stießen auf große gesellschaftliche Unzufriedenheit in der Region, nicht nur bei den gewöhnlichen Bürgern, sondern auch bei Politikern. Manche argumentierten, dass die neuen Vorschriften nicht mit dem Vertrag über den Kleinen Grenzverkehr übereinstimmen würden und zur Folge hätten, dass viele Reisende wie potentielle Straftäter behandelt werden, auch wenn sie keine sind. Andere Kommentatoren wiesen geradeheraus darauf hin, dass das Verbot die Einwohner einer Region trifft, die sich seit Jahren mit dem Problem der Arbeitslosigkeit, eine der höchsten Quoten in Polen, beschäftigen muss, und dass der Benzinhandel für viele Menschen die einzige mögliche Einnahmequelle war.

Noch kaum Tourismus nach Kaliningrad

Die offiziellen Vertreter und die Einwohner der Oblast Kaliningrad sind sich dessen bewusst, dass die Einwohner der polnischen Regionen des Kleinen Grenzverkehrs gegenwärtig vor allem zum Benzinkauf in die Oblast kommen, weitere Einkäufe tätigen sie allenfalls an der Tankstelle. Allseits verbreitet ist allerdings die Meinung, dass die Zeit gekommen sei, diese Situation zu ändern. Nun will man dahingehend aktiv werden, dass die Polen für mehr als drei Stunden nach Kaliningrad kommen – so lange dauert nach Meinung eines Experten der durchschnittliche Aufenthalt eines Einwohners von Bartenstein oder Allenstein in der Exklave. Die Vertreter der regionalen Behörden sind überzeugt, dass nach polnischem Muster auch Kaliningrad als interessantes touristisches Ziel beworben werden kann. Hier stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Offenbar überwiegt aktuell das Konzept, das touristische Potential Kaliningrads aus der Vorkriegsgeschichte der Stadt zu schöpfen, das bedeutet eine Rückkehr in die Zeit, als Kaliningrad noch Königsberg hieß und als Hauptstadt Ostpreußens Teil des deutschen Staates war. Nach der Phase der Isolation in der Zeit der Sowjetunion, als es nicht einmal erlaubt war, an die Geschichte der Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern, wächst seit 1991 unter den Einwohnern das Interesse an der Vergangenheit Kaliningrads. Dies manifestiert sich unter anderem an der verbreiteten Nennung des deutschen Stadtnamens zur Bezeichnung verschiedener Objekte oder Institutionen, so "KenigAuto" als Name für eine Transportfirma. Weiter zeigt es sich an der Allgegenwart von Publikationen über die Geschichte und Topographie Kaliningrads/Königsbergs sowie von alten Stadtansichten, die beispielsweise in Hotels aufgehängt werden. Mit Stolz und Ehrerbietung wird auch Immanuel Kants, des deutschen Philosophen der Epoche der Aufklärung, gedacht, der in Königsberg geboren wurde und sein ganzes Leben dort verbrachte.

Nach der Epoche des Verschweigens der Geschichte der Vorkriegszeit treten aber jetzt auch Stimmen auf, dass die Werbung für Kaliningrad als touristisches Ziel in eine andere Richtung gehen und das Erbe der sowjetischen Kultur nutzen sollte. Eine Gestaltung der Marke Kaliningrad als "neue sowjetische Stadt" könnte mehr Touristen anziehen als die Berufung auf die deutsche Vergangenheit. Jene Akzentuierung könnte zusätzlich attraktiv sein, da Kaliningrad zur Zeit der Sowjetunion eine abgeschlossene und stark militarisierte Zone war, mit beschränktem Zugang nicht nur für Ausländer, sondern auch für die Russen. Ausgehend von der sowjetischen Vergangenheit, ließe sich so ein spannendes Angebot für an unkonventionellen Reisen Interessierte entwickeln.

Trotz der Versicherungen der lokalen Behörden, dass die Arbeiten an der Entwicklung der "Marke Kaliningrad" laufen, und zwar auch in recht enger Zusammenarbeit mit der polnischen Seite, zweifeln viele daran, ob es überhaupt möglich sei, Touristen aus Polen zu gewinnen. Dieser Pessimismus angesichts des touristischen Potentials Kaliningrads stützt sich auf einige Argumente. Das grundlegende Problem ist, dass eine entsprechende Infrastruktur für Touristen fehlt. Hier geht es sowohl um den öffentlichen Nahverkehr mit seinen alten und defekten Bussen und Straßenbahnen, den fehlenden Fahrplänen und dem Problem, Quittungen für Taxifahrten zu bekommen, als auch um das Hotelgewerbe. Im Vergleich zum polnischen Angebot sind viele Hotels in Kaliningrad teurer oder zumindest gleich teuer, aber dafür von viel schlechterer Qualität. Des Weiteren mangelt es an einem professionellen Einsatz der Werbung vonseiten der Kaliningrader Werbebranche. Während die Polen sehr wirksame Werbestrategien nicht nur an die Russen, die schon in Polen sind, richten, sondern auch mit Hilfe von Fernsehen, Radio, Internetportalen und Plakatwerbung an die Einwohner der Oblast Kaliningrad, sind russische Aktivitäten dieser Art fast nicht zu bemerken. Ein wichtiges Problem hierbei ist, dass vielen Vertretern der Tourismusbranche ein langfristiges Denken fehlt; vielmehr haben sie sich von Anfang an auf große Gewinne in kurzer Zeit eingestellt, was einen überproportionalen Preisanstieg für Dienstleistungen in der Tourismusbranche zur Folge hatte. Diese Einstellung mag mit der Ungewissheit im Geschäftssektor in Russland zu tun haben, die nahelegt, so schnell wie möglich zu verdienen, weil "man nie weiß, was morgen passieren kann".

Kaliningrad im Schatten der Krim

Angesichts des russisch-ukrainischen Konfliktes stehen sich Warschau und Moskau in gegnerischen Lagern gegenüber. Polen unterstützt die territoriale Integrität der Ukraine und erkennt die Annexion der Krim nicht an. Die polnische Regierung kritisiert entschieden die Aktivitäten Russlands gegenüber dem ukrainischen Staat und verurteilt das Engagement Russlands in dem Konflikt, der in der Ostukraine ausgetragen wird. Die Ereignisse der letzten Monate zeigten, dass Probleme auf internationaler Ebene einen wesentlichen Einfluss auch auf andere Bereiche der Zusammenarbeit zwischen Polen und Russland haben und somit auch auf die Situation in der Region, für die der Kleine Grenzverkehr gilt: Hier sind sowohl die gesellschaftliche Situation, die zwischenmenschlichen Kontakte, als auch die wirtschaftliche Lage der Region des Kleinen Grenzverkehrs betroffen.

Die gegenseitige Wahrnehmung der Polen und Russen

Noch bevor der Kleine Grenzverkehr in Kraft trat, hatten sich unterschiedliche Meinungen über den Einfluss desselben auf den Alltag der Einwohner Pommerns und Ermland-Masurens herausgebildet. Viele befürchteten, dass die Einführung des Kleinen Grenzverkehrs zu einem Anstieg von Straftaten führen würde, zu verstärktem Schmuggel und sogar Präsenz der russischen Mafia in Polen. Solche Ängste hatten sowohl gewöhnliche Bürger, die mit dem Thema des Kleinen Grenzverkehrs nicht näher vertraut waren, als auch die Angestellten der lokalen Behörden und Politiker. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Befürchtungen nicht von der Realität bestätigt wurden.

Die Anwesenheit von Russen wurde in vielen Städten und Orten der Woiwodschaften Pommern und Ermland-Masuren zu einer Selbstverständlichkeit und gewöhnlich waren die Beziehungen der Polen zu den Russen und der Russen zu den Polen positiv. Sowohl die Russen als auch die Polen urteilten in der großen Mehrheit der Fälle, dass sie von der anderen Seite keinerlei Unannehmlichkeiten erfahren hätten, im Gegenteil habe gegenseitiges Wohlwollen geherrscht. Die angespannte Situation im Zusammenhang mit der Krim und ihre spätere Annexion sowie die scharfe Reaktion Polens angesichts der russischen Aktivitäten verursachten allerdings, dass unter den Einwohnern der Region des Kleinen Grenzverkehrs Unsicherheit auftrat, wie sich diese Initiative weiterentwickeln und auf welche Weise sich die aktuelle politische Situation auf die Beziehungen zwischen Polen und Russen in der Region auswirken würde. Die Atmosphäre auf russischer Seite wurde durch mehrere Artikel angeheizt, in denen mehr oder minder brutale Angriffe auf Russen beschrieben wurden – zerkratzte und bespuckte Autos, eingeschlagene Scheiben oder sogar ein Schuss aus einem Luftgewehr auf ein Fahrzeug. Später stellte sich heraus, dass ein Teil der Ereignisse tatsächlich geschehen war, aber es gab keine Beweise, dass es sich um einen plötzlichen Ausdruck von Abneigung gegenüber den Russen gehandelt hat und nicht um irgendwelche Zufälle. Andere Geschichten waren vollständig ausgedacht.

Einige Symptome von Unsicherheit, was die Zukunft des Kleinen Grenzverkehrs betrifft, kann man auch in Polen beobachten. Einerseits wurden Versuche sichtbar, mit lokalen Instrumenten Einspruch gegen das Vorgehen der russischen Machthaber zu erheben. Beispielsweise wurde im Zusammenhang mit einer Erklärung der Pommerschen Regionalen Tourismusorganisation im März 2014 aus Anlass der politischen Situation eine Werbe- und Informationskampagne in der Oblast Kaliningrad zum Frauentag (8. März) abgesagt. Dies stieß auf breite Kritik; viele Menschen unterstrichen, dass politische Probleme keinen negativen Einfluss auf die Beziehungen zwischen gewöhnlichen Menschen haben sollten. Die Pommersche Regionale Tourismusorganisation distanzierte sich daraufhin rasch von ihrer Erklärung. Andererseits informierten manche regionalen Internetportale darüber, dass auch unter den Polen Ängste in Hinblick auf Reisen nach Kaliningrad auftraten. Das Internetportal Elblag.net zitierte einen Gesprächspartner folgendermaßen: "Wir haben Bekannte in Kaliningrad. Wir besuchen sie häufig, zwei, drei Mal im Monat. Ich tanke dort günstigeres Benzin und kaufe Zigaretten. Wir kennen uns schon zig Jahre, von gemeinsamen Segeltörns auf dem Frischen Haff. Das letzte Mal war ich dort in der vergangenen Woche. Meine Bekannten warnten mich, dass ich auf der Straße nicht zu erkennen geben sollte, dass ich Pole bin. Die Mehrheit der Russen ist uns gegenüber positiv eingestellt. Aber in Kaliningrad gibt es auch viele Menschen mit nationalistischer Haltung. Vor denen sollten wir uns in Acht nehmen."

Der März 2014 war ein Monat, in dem besonders intensiv über die Zukunft des Kleinen Grenzverkehrs diskutiert wurde. Die russische Seite reagierte stärker als Polen – die "schwarze Berichterstattung" über die Behandlung der Einwohner der Oblast Kaliningrad in Polen im Zusammenhang mit dem Verfall des Rubelkurses im Vergleich zu Euro und Dollar bewirkten, dass sich die Zahl der Russen, die nach Polen fuhren, verringerte. Beispielsweise überschritten im Januar 2014 62.000 Russen die Grenze am Übergang in Grzechotki, in der Zeit vom 1. bis zum 21. März 2014 dagegen nur knapp 15.000. In den Folgemonaten normalisierte sich die Situation wieder; die Artikel über attackierte Russen verschwanden aus der Presse und die Aktivitäten auf beiden Seiten gingen deutlich in die Richtung, politische Ansichten von anderen Lebensbereichen zu trennen. Einen solchen Versuch unternahm unter anderen der damalige Ministerpräsident Donald Tusk während seines Besuchs in Bartenstein im April 2014. Bei einem Treffen mit Einwohnern der Stadt stellte er fest, dass "wir sehr präzise das, was zwischen gewöhnlichen Menschen geschieht, die die Orte auf beiden Seiten der Grenze in touristischer Absicht oder zu geschäftlichen Zwecken besuchen wollen, von dem unterscheiden, was der Hintergrund und die Ursache für diese ernste Krise ist". Er fügte hinzu, dass "man [den nach Polen kommenden Russen] zeigen muss, dass die Beziehungen zwischen den Menschen, den Händlern, den Unternehmern überhaupt nicht von diesem Erdbeben tangiert werden müssen, nur weil jemand einen imperialen Einfall hatte."

Nach anfänglichen Spannungen verringerte sich der Einfluss der negativen Beziehungen auf der internationalen Ebene auf den Bereich der gewöhnlichen Menschen deutlich. Ein großes Verdienst daran hatten nicht zuletzt die Vertreter der lokalen Behörden der Gebiete des Kleinen Grenzverkehrs, die unentwegt die positiven Erfahrungen mit demselben unterstrichen und auf diese Weise bemüht waren, die Entwicklung der regionalen Zusammenarbeit von den offiziellen Beziehungen zwischen Warschau und Moskau abzukoppeln. Ähnlich gingen die regionalen Unternehmer vor. Allerdings muss auch festgestellt werden, dass trotz der Versuche, einer drastischen Abkühlung entgegenzuwirken, die Beziehungen und die Atmosphäre zwischen den Einwohnern der Region nicht mehr so gut sind wie noch im Jahr 2013.

Wirtschaftliche Beziehungen

Die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation in der Russischen Föderation bleibt nicht folgenlos für das Funktionieren der Oblast Kaliningrad und beeinflusst entsprechend auch den Wohlstand ihrer Einwohner und deren Bereitschaft, Geld auszugeben, unter anderem in Polen. Von Beginn des Inkrafttretens des Kleinen Grenzverkehrs bis Anfang 2014 war der Besuch eines Durchschnittsbürgers der Oblast Kaliningrad in Polen vorhersagbar. Ein fester Punkt waren die Einkäufe von Lebensmitteln, Haushaltswaren und Radio- und Fernsehgeräten. Die Einkaufswagen der Russen waren immer gefüllt, mit Waren im Wert von einigen Hundert Zloty, nicht selten bis an die 1.000 Zloty. Im Laufe des Jahres 2014 wurde die Lage jedoch zunehmend komplizierter, worauf zwei wirtschaftliche Faktoren Einfluss hatten: der Verfall des Rubelkurses gegenüber den europäischen Währungen (unter anderen dem Dollar, dem Euro und dem Zloty) und die Sanktionen, die von Russland als Importverbot für ausgewählte Produkte und Waren aus der lebensmittelproduzierenden Industrie der EU-Staaten, der USA, Kanadas, Australiens und Norwegens verhängt wurden.

Der erste Niedergang des Rubelkurses fand im März in der Zeit der Annexion der Krim und der damit einhergehenden steigenden Spannungen an der polnisch-russischen Grenze statt. Dies bewirkte einen Rückgang des Grenzverkehrs. Im August 2014 führte Russland seine Sanktionen gegenüber polnischen Agrarprodukten und Lebensmitteln ein. Da die Oblast Kaliningrad vom Import vieler Produkte aus dem Ausland, darunter aus Polen, abhängig ist (zum Beispiel stammten vor der Verhängung der Sanktionen 70 Prozent des Angebots an Äpfeln aus Polen), verursachte diese Initiative Moskaus, dass die Oblast nicht nur die Möglichkeit verlor, Agrarprodukte und Lebensmittel für den eigenen Bedarf einzuführen, sondern auch, diese weiterzuverarbeiten und später gewinnbringend in die übrigen Teile Russlands zu verkaufen. Als Reaktion auf die Probleme mit dem Nachschub sowie dem Preisanstieg in den Kaliningrader Geschäften vergrößerte sich wiederum die Nachfrage nach in Polen gekauften Produkten.

Aktuell haben wir es mit einer weiteren Phase wirtschaftlicher Wirren in der Oblast Kaliningrad zu tun. Der erhebliche Kursverfall des Rubel im Vergleich zu anderen Währungen, insbesondere sichtbar in den Monaten November und Dezember 2014, hat zur Folge, dass die Waren nicht nur in der Oblast selbst teurer wurden, sondern dass auch die Kaufkraft dieser Währung im Ausland deutlich sank. Dementsprechend machen sich für die Einwohner der Oblast Kaliningrad Einkäufe in Polen zurzeit deutlich weniger bezahlt. Die wirtschaftliche Logik ist in diesem Fall einfach und rücksichtslos – je schwächer die Position des Rubel gegenüber der polnischen Währung, desto weniger Russen aus der Oblast werden nach Polen zum Einkaufen fahren.

Das Potential des kleinsten gemeinsamen Nenners

Im Januar 2015 besteht der Vertrag des Kleinen Grenzverkehrs bereits zweieinhalb Jahre und erlaubt den Einwohnern der betreffenden Gebiete, ohne Visum ins Nachbarland zu fahren. Die sich in den Jahren 2012 und 2013 gut entwickelnde grenznahe Zusammenarbeit ging damit einher, dass die Russen häufige Gäste in Danzig, Bartenstein und anderen polnischen Städten auf dem Territorium des Kleinen Grenzverkehrs waren. Allerdings hatte die Abkühlung der Beziehungen zwischen Polen und Russland im Jahr 2014 zur Folge, dass die Initiative des Kleinen Grenzverkehrs auf eine harte Probe gestellt wurde. Nach der Annexion der Krim begannen Kommentare über Aggressionen vonseiten der Polen gegenüber den Russen aufzutauchen, was zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen zwischen den Einwohnern der Region führte. Es gelang, die Spannungen einzudämmen, aber die Atmosphäre in den beiderseitigen Beziehungen ist nicht mehr so gut, wie sie noch im Jahr 2013 war. Aufgrund der fatalen wirtschaftlichen Lage der Russischen Föderation gestaltet sich die Situation zusätzlich schwierig. Wegen der großen Schwächung des Rubel gegenüber anderen Währungen, unter anderem dem Zloty, werden Einkäufe in Polen viel kostspieliger, was dazu führt, dass ein Teil der potentiellen Käufer auf sie verzichten muss.

Trotz der zahlreichen Probleme weist der Kleine Grenzverkehr immer noch ein großes Entwicklungspotential auf, wovon die nach wie vor steigende Zahl der Grenzübertritte zeugt. Im Jahr 2012 passierten fast 4,1 Millionen Personen die Grenze zwischen Polen und der Oblast Kaliningrad. Im Folgejahr waren es schon fast 6,2 Millionen und im Jahr 2014 über 6,5 Millionen. Die Ausweise, die zum Grenzübertritt ohne Visum berechtigen, sind äußerst populär. In den zweieinhalb Jahren des Kleinen Grenzverkehrs überstieg die Anzahl der ausgegebenen Ausweise für Russen 250.000 – fast ein Viertel der Einwohner der Oblast Kaliningrad besitzt also ein solches Dokument. Allerdings ist es für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Polen und Russen notwendig, den Rahmen des Kleinen Grenzverkehrs zu verlassen und andere Initiativen an der Basis zu stärken, Initiativen von NGOs, Kultur- und Sportinitiativen. Im Jahr 2014 rückten diese Ziele leider in weite Ferne, und es ist sehr wahrscheinlich, dass, solange der russisch-ukrainische Konflikt nicht geregelt sein wird, es für die polnische und die russische Seite schwer sein wird, aus der strikt offiziellen Zusammenarbeit herauszutreten. Das Wichtigste ist hier, die Zusammenarbeit nicht komplett zu unterbrechen, damit nach der Krisenphase noch ein Feld für Kooperationen offen ist. Wenn sich auch nicht das gesamte Potential des Kleinen Grenzverkehrs ausschöpfen lässt, sollte diese Initiative doch aktuell als kleinster gemeinsamer Nenner behandelt werden, der einerseits einer vollständigen Unterbrechung der Zusammenarbeit vorbeugt und andererseits bewirkt, dass Polen und Russland nach der Phase der Krise keine verbrannte Erde vorfinden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Der Text basiert auf zwei Publikationen des Autors:

  • Wenerski, Łukasz: Mały Ruch Graniczny pisany cyrylicą. Warszawa: Instytut Spraw Publicznych 2014.

  • Wenerski, Łukasz; Kaźmierkiewicz, Piotr: Krajobraz pogranicza. Perspektywy i doświadczenia funkcjonowania małego ruchu granicznego z obwodem kaliningradzkim. Warszawa: Instytut Spraw Publicznych 2013.

Fussnoten

Łukasz Wenerski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau (Instytut Spraw Publicznych, Warszawa) und dort Projektkoordinator des Europäischen Programms. Seine Forschungsgebiete sind die Ostpolitik der Europäischen Union, Russland, die Östliche Partnerschaft und die polnische Außen- und Europapolitik.