Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: In Feindes Hand. Das Verfahren gegen Nadija Sawtschenko | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: In Feindes Hand. Das Verfahren gegen Nadija Sawtschenko

Caroline von Gall

/ 11 Minuten zu lesen

"Über Schuld oder Unschuld entscheidet das Gericht." Mit diesen Worten machte der russische Präsidentensprecher Dmitry Peskov am 13. Februar 2015 alle Hoffnungen zunichte, im Fall der in Russland angeklagten ukrainischen Pilotin Nadija Sawtschenko könne eine politische Einigung mit dem Europarat erzielt werden.

Die ukrainische Armeepilotin Nadija Sawtschenko wird von russischen Polizisten zum Gericht eskortiert. (© picture-alliance/dpa)

Einleitung

Peskovs Aussagen suggerieren Gewaltenteilung und eine unabhängige Rechtsprechung. Tatsächlich legen die Einzelheiten des Falls nahe, dass die Unabhängigkeit des Gerichts massiv bezweifelt werden muss. Vielmehr ist der u. a. von der Menschenrechtsorganisation Memorial vorgetragenen Analyse zuzustimmen, wonach das Verfahren Teil einer politischen und einer Medienkampagne ist, die dazu dienen soll, die ukrainische Politik und den ukrainischen Staat in den Augen der russischen Öffentlichkeit zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Mit einem gerichtlichen Urteil gewinnt das Narrativ vom gewalttätigen Kampf des ukrainischen Staates gegen die nach Unabhängigkeit strebende Zivilbevölkerung, vom Kampf gegen das eigene Volk im Osten des Landes, Legitimation und Glaubwürdigkeit. So wird das Verfahren ganz offensichtlich als Schauprozess genutzt, um für die russische Öffentlichkeit die Geschehnisse in der Ukraine "objektiv" zu überprüfen. Die Anklage folgt der Darstellung in den russischen kremlnahen Medien. Es geht darum darzulegen, dass nationalistische para-militärische Einheiten in der Ostukraine wehrlose Zivilisten "aus nationalistischem Hass" töten, wie die Anklage behauptet. Dass die "Täterin" eine junge Frau ist, macht die Geschichte besonders bemerkenswert.

Nadija Sawtschenko: das Porträt

Angeklagt ist die ukrainische Pilotin und Offizierin Nadija Sawtschenko. Sie ist heute eines der bekanntesten Mitglieder der ukrainischen Armee. Bis zum Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine hatte sie dort eine erfolgreiche Karriere absolviert. Berichten zufolge war sie die einzige weibliche Angehörige der ukrainischen Friedenstruppen im Irak in der Zeit von 2004 bis 2008. Mit Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine schloss sie sich dem vom ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomoiskij finanzierten Freiwilligen-Bataillon "Aidar" im Kampf gegen die pro-russischen Separatisten an. Sowohl die OSZE als auch Amnesty International werfen den Mitgliedern des Bataillons Menschenrechtsverletzungen, u.a. Misshandlungen und den Tod von Zivilisten vor. Konkrete Vorwürfe gegen Sawtschenko finden sich hier allerdings nicht.

Das russische Ermittlungskomitee hatte indes im Juni 2014 Untersuchungen vorgelegt, nach denen Sawtschenko als Mitglied des Aidar-Bataillons Informationen über den Aufenthalt der russischen Journalisten Igor Korneljuk und Anton Woloschin sowie weiterer Zivilisten weitergegeben hatte. Aufgrund dieser Informationen seien die Journalisten am 17. Juni 2014 getötet worden.

Unbestritten ist, dass Sawtschenko am 17. oder 18. Juni 2014 von pro-russischen Separatisten der sogenannten Luhansker Volksrepublik gefangen genommen wurde. Dies belegt ein Video, das Sawtschenko als Gefangene im Kreis von Separatisten zeigt. Wenige Tage nach der Aufnahme des Videos wird bekannt, dass sich Sawtschenko in den Händen der russischen Strafverfolgungsbehörden befindet. Darüber, wie sie in russische Gefangenschaft geriet, besteht Uneinigkeit. Sawtschenko selbst gibt an, dass sie unfreiwillig von den Separatisten an die russischen Behörden übergeben wurde. Die Verteidigung wirft dem russischen Staat Kidnapping vor. Die russischen Behörden bestreiten dies und behaupten, dass Sawtschenko nahe der ukrainischen Grenze auf russischem Territorium angetroffen wurde und die Grenze aus freiem Willen, aber gegen die russischen Gesetze ohne Papiere übertreten hatte.

Die Anklage

Am 9. Juli 2014 gab das russische Ermittlungskomitee bekannt, dass Sawtschenko aufgrund der Weitergabe von Informationen wegen Beihilfe zur Tötung von zwei oder mehr Personen in Ausübung von Dienstpflichten, mit gemeingefährlichen Methoden und aus politischem Hass in einer Gruppe von Menschen nach Art. 33 Abs. 5 und Art. 105 Abs. 2 lit. a, б, е, ж, л StGB angeklagt wird. Nach Art. 12 StGB können Ausländer, die eine Straftat außerhalb des Territoriums der Russischen Föderation verübt haben, in Russland strafrechtlich belangt werden, wenn die Straftat gegen die Interessen Russlands oder gegen russische Staatsbürger gerichtet ist. Dies ermöglicht hier die Verfolgung. Die Anklage wird aber von einer ganzen Reihe von eindeutig voreingenommenen Behauptungen durchzogen, die einem fairen Verfahren entgegenstehen.

So sprechen die Dokumente der Staatsanwaltschaft, aber auch die Entscheidung des Haftgerichts vom 3. Juli 2014 von der Luhansker und der Donezker Volksrepublik, als wären diese bereits anerkannte völkerrechtliche Gebilde. Diese Sichtweise entspricht der Ansicht der Separatisten, ist aber weder völkerrechtlich noch von offizieller russischer Seite akzeptiert.

Insgesamt ist interessant, dass die Anklage, die grundsätzlich allein die individuelle Schuld der Angeklagten belegen muss, mit einer allgemeinen politischen Einordnung der Geschehnisse in der Ostukraine beginnt. Darin wird dem Innenminister der Ukraine Awakow sowie dem Oligarchen und Gouverneur des Oblasts Dnipropetrowsk, Kolomoiskij, und zahlreichen Amtsträgern des ukrainischen Verteidigungsministeriums vorgeworfen, "zum Ziel der Tötung unzähliger Menschen" "aus dem Motiv des politisches Hasses" und unter Verletzung der Genfer Konvention zum Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten, deren I. und II. Protokoll sowie des Übereinkommens über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, im Bereich der Städte Slowjansk, Kramatorsk, Donezk, Mariupol und "anderer Siedlungen in den abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk" kriegerische Handlungen zu organisieren. Dabei wird unterstrichen, dass in diesen Regionen am 11. Mai 2014 ein Referendum über die staatliche Selbstbestimmung stattgefunden habe. In der Folge seien mehr als 100.000 Zivilisten auf das Gebiet der Russischen Föderation geflohen.

Diese Behauptungen werden alle nicht näher erläutert oder belegt. Es wird deutlich, dass im Verfahren eigentlich die ukrainische Führung angeklagt wird. Die Behauptungen sind klar voreingenommen, sie geben allein die Sichtweise der Separatisten im Konflikt wieder. Argumente für den Waffeneinsatz durch den ukrainischen Staat werden nicht vorgetragen. Überhaupt wird nicht erwähnt, dass von den Separatisten Gewalt ausgeht. Die Darstellung suggeriert, dass die Bevölkerung einheitlich die Unabhängigkeit möchte und dass dies militärisch niedergeschlagen wird, wobei der ukrainische Staat massiv Zivilisten tötet. Entsprechende Darstellungen verbreitet das russische staatliche Fernsehen.

Erst nach dieser Einleitung wird Sawtschenkos Beteiligung an diesem Einsatz diskutiert. Auch für die Beteiligung Sawtschenkos an den Verbrechen des ukrainischen Staates braucht das Ermittlungskomitee keine konkreten Beweise. Weder für die Zurechnung des Todes der Journalisten zu Handlungen der Angeklagten noch für den Tötungswillen aus politischem Hass werden Beweise vorgetragen. Entgegenstehende Aussagen der Angeklagten werden ignoriert. Die Variante, dass der Tod der Journalisten nicht beabsichtigt war oder von Dritten verantwortet wird, steht nicht zur Debatte.

Insofern ist der große Kritikpunkt am Verfahren, dass die Anklage ihre Version der Geschichte nicht belegt und nach Auskunft der Vereidigung Beweise für die Unschuld ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Darüber hinaus rügt die Verteidigung zahlreiche Verfahrensverstöße.

Die Haft

Problematisch ist vor allem, dass auch das Gericht, das über die Untersuchungshaft entschieden hat, die Argumente der Verteidigung bisher nicht beachtet hat, sondern deutlich der kaum belegten Anklage gefolgt ist.

Dies alles widerspricht der vom Gesetz verlangten Waffengleichheit der Parteien im Strafverfahren.

Die fehlende Waffengleichheit, aber auch die Bedeutung des Falls als Teil einer Medienkampagne wurden auch deutlich, als der Sprecher des Ermittlungskomitees, Vladimir Markin, am 25. Juli 2014 im Sender Lifenews seine Version der Geschichte präsentieren durfte, ohne dass gleichwertig die Angeklagte zu Wort kam. Dieses Interview zeigt, dass das Verfahren bewusst in die Öffentlichkeit getragen werden soll.

Es fehlen nicht nur Beweise für die konkrete Tat, sondern auch für eine rechtmäßige Verhaftung auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Diese reguläre Verhaftung in Russland nach einem freiwilligen Grenzübertritt Sawtschenkos ist Voraussetzung für einen regulären Strafprozess, wie er gegenwärtig stattfindet. Anderenfalls würde noch mehr dafür sprechen, dass Sawtschenko als Kriegsgefangene zu behandeln ist. Allerdings gibt es keinerlei Beweise für einen freiwilligen Grenzübertritt. Vielmehr erscheint die Vorstellung, dass Sawtschenko von den Separatisten freigelassen oder aus deren Händen befreit wurde und dann aus eigenem Antrieb nach Russland eingereist ist, kaum nachvollziehbar. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die sie als Mitglied der ukrainischen Streitkräfte zu einer Flucht nach Russland motiviert haben könnten.

Seit Juli 2014 sitzt Nadija Sawtschenko nunmehr in Untersuchungshaft. Das Haftgericht verlängert die Untersuchungshaft regelmäßig. Aufgrund der "besonders brutalen Art des Verbrechens" wurden in der Folge von den Behörden "Zweifel an der geistigen Gesundheit" Sawtschenkos vorgetragen und sie wurde zwangsweise im berüchtigten Serbski-Institut in Moskau untersucht, das bekannt dafür ist, dass hier in sowjetischen Zeiten zahlreiche Dissidenten für geisteskrank erklärt wurden.

Während des Verfahrens wurde noch in einem weiteren Punkt Anklage erhoben. Zusätzlich angeklagt wurde der illegale Grenzübertritt. Seit dem 22. Dezember 2014 befindet sich Sawtschenko aus Protest gegen das Vorgehen der russischen Justiz im Hungerstreik.

Völkerrechtliche Immunität

Eine neue Wendung nahm der Fall, als Sawtschenko für die ukrainischen Parlamentswahlen im Herbst 2014 als Kandidatin der Partei Vaterland auf Listenplatz 1 aufgestellt und gewählt wurde. Als neugewählte Abgeordnete wurde sie anschließend vom ukrainischen Parlament als ukrainische Vertreterin in die Parlamentarische Versammlung des Europarats entsandt.

Dies hat zur Folge, dass ihr nunmehr grundsätzlich völkerrechtliche Immunität zukommt. Dieses Vorgehen kann nicht automatisch als Rechtsmissbrauch kritisiert werden. So ist der demokratische Wille des ukrainischen Volkes zu respektieren, das wissentlich eine Kandidatin gewählt hat, die im Ausland in Untersuchungshaft sitzt.

Die Immunität der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung ist zum einen funktionell, sie schützt sie in Ausübung ihrer Funktionen als Abgeordnete. Dies ergibt sich aus Art. 40 der Satzung des Europarats, Art. 13ff. des Allgemeinen Abkommens über die Vorrechte und Befreiungen des Europarates (ETS Nr. 2, 1949) und Art. 3 des Zusatzprotokolls zum Allgemeinen Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen des Europarates (ETS. Nr. 10, 1952). Nach Art. 40 der Satzung des Europarats genießen die Vertreter der Mitgliedstaaten "in den Gebieten der Mitgliedstaaten die für die Ausübung ihrer Amtstätigkeit erforderlichen Immunitäten und Privilegien". Insbesondere können sie "auf Grund dieser Immunität innerhalb der Hoheitsgebiete aller Mitgliedstaaten weder verhaftet noch strafrechtlich belangt werden." Dies bezieht sich aber nicht auf jedwede Handlung, sondern allein auf Handlungen im Zusammenhang mit der Ausübung des Mandats, also auf "im Laufe der Verhandlungen in der Versammlung, in ihren Komitees oder Ausschüssen geäußerte Meinungen oder abgegebene Stimmen". Abgeordnete sollen nicht für die Tätigkeit im Europarat bestraft werden.

Darüber hinaus ist aber in Art. 15 b der grundlegenden Vereinbarung über Privilegien und Befreiungen geregelt, dass die Mitglieder der Versammlung während der Sitzungsphase auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten von Haft und Strafverfolgung befreit sind. Diese Immunität beginnt mit der Ausübung des Amtes, bezieht sich aber auch auf Taten, die vor der Amtszeit liegen.

In diesem Sinne hat die Parlamentarische Versammlung am 28. Januar 2015 in der Resolution 2034 (2015) Sawtschenko die völkerrechtliche Immunität zugesprochen und gleichzeitig ihre Freilassung gefordert:

"The Assemlby expresses serious concern about the imprisonment and indictment by the Russian Federation of Ms Nadiia Savchenko, who is now a member of the Assembly. The Assembly considers her transfer by Ukrainian insurgents to the Russian Federation and subsequent imprisonment by the Russian authorities to be in violation of international law amounting to her defacto kidnapping. It demands that the Russian Federation respects its obligations under international law, as a Party to the General Agreement on Privileges and Immunities and its Protocol, according to which Ms Nadiia Savchenko, as a member of the Parlimentary Assembly, enjoys European parliamentary immunity. The Assembly calls upon the Russian authorities to release Ms Savchenko within 24 hours and to ensure her return to Ukraine or hand her over to a third country."

Die Vereinbarung wurde von der Russischen Föderation im Rahmen des Beitritts zum Europarat am 23. Februar 1996 ratifiziert. Nach der russischen Verfassung ist die Regelung damit auch Teil des russischen Rechts und für die Staatsorgane bindend. Allerdings könnte Russland die Aufhebung der Immunität beantragen. Gleichwohl lehnt die Russische Föderation, deren Vertreter zuvor von der Teilnahme an der parlamentarischen Versammlung suspendiert worden waren, eine Freilassung ab.

Minsker Abkommen

Darüber hinaus wurde von ukrainischer Seite versucht, eine Freilassung im Rahmen der Minsker Vereinbarungen zu erzielen. Die Minsker Protokolle regeln nicht nur, dass die Verfolgung und Bestrafung von Personen in Verbindung mit den Ereignissen, die in einzelnen Kreisen der Donezker und Luhansker Oblaste stattfanden, durch Gesetz verboten werden sollen. Nr. 6 des II. Minsker Protokolls regelt auch die Freilassung und den Austausch "aller Geiseln und gesetzeswidrig festgehaltenen Personen" auf der Basis des Prinzips "aller gegen alle".

Im Hinblick auf Nr. 6 hat die ukrainische Seite eine ganze Reihe von ukrainischen Staatsbürgern vor Augen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ostukraine und auf der Krim strafrechtlich verfolgt werden. Dies betrifft vor allem die russischen Verfahren gegen die Ukrainer Oleh Senzow, Oleksandr Koltschenko, Hennadij Afanasjew und Oleksij Tschirnij, die gegen die Annexion der Krim protestiert hatten, in Russland.

Die russische Seite fühlt sich allerdings durch die Minsker Vereinbarungen nicht zur Freilassung Sawtschenkos verpflichtet. Tatsächlich sind die Minsker Protokolle im Hinblick auf den Fall äußerst unbestimmt. Nicht ausdrücklich geregelt ist, wieweit das Protokoll Russland überhaupt bindet. Letztlich wird es aber keine gemeinsame Verständigung über die Frage geben, wer Geisel ist und wer gesetzwidrig festgehalten ist.

Kriegsgefangenen-Status

Wäre anerkannt, dass es sich bei den Kampfhandlungen in der Ostukraine um einen internationalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine handelt, wäre Sawtschenko unzweifelhaft eine Kriegsgefangene. Dies hätte weitreichende Folgen für das Verfahren. Eine reguläre Strafverfolgung wäre nach dem III. Genfer Abkommen nicht zulässig.

Das Abkommen will verhindern, dass nach Kriegshandlungen nur die Soldaten einer Seite, die Kriegsgefangenen, abgeurteilt werden. Es fordert, dass für die Kriegsgefangenen von den Militärbehörden und den Gerichten des Gewahrsamsstaates nur solche Strafen verhängt werden können, die bei den gleichen Tatbeständen für die Angehörigen der bewaffneten Kräfte dieses Staates vorgesehen sind. Im vorliegenden Fall wäre indes nicht ausgeschlossen, dass Kriegsgefangene grundsätzlich für den Mord an Zivilisten bestraft würden (sofern aber natürlich entsprechende Beweise vorlägen), wenn auch die eigenen Soldaten entsprechend verfolgt würden. Russland müsste auch die Anschläge auf Zivilisten durch die Separatisten strafrechtlich verfolgen.

Darüber hinaus würden zahlreiche weitere prozedurale Garantien greifen. Unter anderem sagt Art. 103, dass die gerichtlichen Untersuchungen gegen Kriegsgefangene so rasch durchzuführen sind, wie die Umstände es gestatten, und zwar so, dass die Gerichtsverhandlung möglichst frühzeitig stattfinden kann. Ein Kriegsgefangener darf nur dann in Untersuchungshaft gehalten werden, wenn diese Maßnahme bei gleichen Vergehen auch für die Angehörigen der bewaffneten Kräfte des Gewahrsamsstaates vorgesehen ist oder wenn es die nationale Sicherheit verlangt. Die Untersuchungshaft darf auf keinen Fall länger als drei Monate dauern. Diese Vorschrift wäre klar verletzt.

Außerdem müssen Kriegsgefangene vor ein Militärgericht gestellt werden.

Allerdings bestreitet Russland, Konfliktpartei zu sein. Der Kriegsgefangenenstatus könnte aber auch dann gegeben sein, wenn anerkannt wäre, dass Sawtschenko von den Separatisten als Konfliktpartei direkt an die russischen Behörden übergeben worden wäre, wie Sawtschenko behauptet. Insofern argumentiert die Verteidigung, dass ihr der Status einer Kriegsgefangenen zusteht. Da sie im Rahmen einer militärischen Operation zur Evakuierung von Verwundeten in Uniform von den Separatisten gefangen genommen worden war, sei sie nach Art. 4 des III. Genfer Abkommens als Kriegsgefangene einzustufen, hat ihr Verteidiger, Mark Fejgin, argumentiert.

Die russischen Behörden haben es konsequent abgelehnt, Sawtschenko als Kriegsgefangene anzuerkennen. Dies wird damit begründet, dass Russland nicht Kriegspartei sei und dass Sawtschenko nicht durch die Separatisten (als mögliche Kriegspartei), sondern auf russischem Boden durch russische Behörden verhaftet wurde. Auch hier steht und fällt das Verfahren mit der Beweisfrage.

Fazit

Ein gerichtliches Urteil im Verfahren steht noch aus. Allerdings zeigt das Verfahren bereits mehrere Dinge: Der Fall ist einerseits ein erneuter Beweis für die Instrumentalisierung der russischen Justiz durch die Politik. Die Anklage ist deutlich voreingenommen und soll offensichtlich dazu dienen, die ukrainische Führung in der russischen Öffentlichkeit zu kriminalisieren. Die Nicht-Anerkennung der Immunität verletzt das Völkerrecht.

Das Verfahren zeigt aber auch, welche völkerrechtlichen Probleme durch die Leugnung Russlands entstehen, Konfliktpartei zu sein. Wäre anerkannt, dass es sich bei den Kämpfen in der Ostukraine um einen zwischenstaatlichen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland handelt, wäre ein solches Verfahren in vielen Punkten völkerrechtswidrig. Bereits der Streit darüber, ob Russland Konfliktpartei ist, legt nahe, dass über Schuld und Unschuld nicht vor einem russischen Gericht, sondern nur vor einem internationalen Gericht entschieden werden kann.

Sawtschenko hat bereits im Sommer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Er wird feststellen müssen, dass die Inhaftierung haftrechtswidrig und das Verfahren unfair verlaufen ist (Art. 5,6 EMRK).

Fussnoten

Prof. Dr. Caroline von Gall ist Juniorprofessorin am Institut für Osteuropäisches Recht der Universität zu Köln. Für die Analyse wurden die offiziellen Dokumente herangezogen, die von dem Verteidiger Sawtschenkos, Mark Fejgin, sowie von Memorial im Internet veröffentlicht wurden. Zahlreiche Informationen zu dem Verfahren finden sich auch auf der Internetseite der Charkiver Menschenrechtsgruppe.