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Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit | Ungleichheit, Ungleichwertigkeit | bpb.de

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Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Eva Groß Andreas Zick Daniela Krause Daniela Krause Andreas Zick / Eva Groß /

/ 15 Minuten zu lesen

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit widerspricht der Wertvorstellung von Gleichwertigkeit. Sie rechtfertigt Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können.

Einleitung

Zu den zentralen Werten einer demokratischen Gesellschaft gehören die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Sicherung der physischen und psychischen Unversehrtheit ihrer Mitglieder. Diese Prinzipien sollen ein möglichst angstfreies Zusammenleben von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, kultureller oder sozialer Herkunft sichern. Menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen, welche die Mitglieder von sozialen Gruppen abwerten und ausgrenzen, widersprechen der Norm- und Wertvorstellung von Gleichwertigkeit, gerade weil sie die Ungleichwertigkeit rechtfertigen und die Integrität von Gruppen und ihren Mitgliedern infrage stellen. Dabei beeinflussen zentrale gesellschaftliche Entwicklungen die Befürwortung von Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können. Wir haben in dem Bielefelder Projekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (GMF) in Deutschland über viele Jahre hinweg in jährlichen repräsentativen Umfragen beobachtet, wie beispielsweise eine zunehmende Ökonomisierung von sozialen Beziehungen oder wirtschaftliche Krisen negative Vorurteile gegenüber Gruppen und Diskriminierungsabsichten befördern. Im Folgenden beschreiben wir vornehmlich das Syndrom der GMF. Es basiert auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, die sich in der Abwertung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen manifestiert und soziale Ungleichheit zementiert. Zentral ist hier jene Ungleichwertigkeit, die sich in Stereotypen, Vorurteilen und Feindseligkeiten ausdrückt.

Syndrom der Ungleichwertigkeit

Menschenfeindlichkeit markiert und legitimiert die Ungleichwertigkeit von Individuen und Gruppen, sodass deren Diskriminierung wahrscheinlicher wird. Der Begriff Menschenfeindlichkeit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Gruppen und meint kein interindividuelles Feindschaftsverhältnis. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit umfasst Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen gegen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu schwachen Gruppen in unserer Gesellschaft, kurz: die Abwertung von Gruppen. Das besondere Kennzeichen unseres Begriffsverständnisses ist seine Spannbreite. Einerseits umfasst die Abwertung negative Stereotype, kognitiv überformte Vorurteile, aber auch emotionale soziale Distanzierungen oder Absichten, eine Fremdgruppe zu schädigen: Es markiert eine Differenz zwischen Gruppen. Andererseits ist die Spannbreite markiert durch die Reichweite der Abwertungen: Nicht nur Personen fremder Herkunft erleben Abwertung, Diskriminierung und Gewalt, sondern auch solche gleicher Herkunft, die als abweichend stigmatisiert werden.

Neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und der Abwertung von Menschen, die Asyl suchen oder Sinti und Roma angehören, umfasst das Konzept auch die Abwertung von Menschen mit religiösen Überzeugungen wie das Judentum und den Islam, also Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Einbezogen ist auch die Herabsetzung von Menschen mit anderem Geschlecht oder einer anderen sexuellen Orientierung sowie von Menschen, die obdachlos oder arbeitslos sind. Daneben umfasst das Konzept auch ganz allgemein die Abwertung von allen, die neu hinzugekommen sind, also Etabliertenvorrechte als Prototyp des Vorurteils.

Ein wesentliches Merkmal ist, dass diese Abwertungen, welche die Ungleichwertigkeit von Gruppen erzeugen und zugleich etablieren, in einem Syndrom verbunden sind. Die Abwertungen, die wir als Elemente des GMF-Syndroms verstehen, hängen untereinander zusammen und haben einen gemeinsamen Kern, der durch die generelle Ideologie, dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die Gesellschaft bestimmt und dies auch gut sei, beschrieben ist. Das bedeutet, dass eine Person, sofern sie Zustimmung zur Abwertung einer bestimmten Gruppe äußert, mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit dazu neigt, auch andere schwache Gruppen abzuwerten und zu diskriminieren.

Zweitens gehen wir davon aus, dass das GMF-Syndrom kein Phänomen ist, das allein am extremen Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist, sondern ein breites, weithin geteiltes Meinungsmuster in der deutschen Bevölkerung widerspiegelt. Drittens kann ein Element dann Teil des GMF-Syndroms werden, wenn die Gleichwertigkeit der entsprechenden Gruppe in der Gesellschaft zur Disposition gestellt wird. Mit Blick auf die Verbreitung der Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung und die Frage, wie sich empirisch die Abwertungen entwickeln, zählen wir seit 2011 zwölf soziale Gruppen zum GMF-Syndrom (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Zugleich entspricht die Abbildung einer empirischen Modellprüfung des Syndroms mit den Daten des repräsentativen Surveys aus dem Jahre 2011, welches die Passung des Modells unterstützt.

Ideologie der Ungleichwertigkeit und Ungleichheit

Die Ideologie der Ungleichwertigkeit stellt den gemeinsamen Kern aller Abwertungen von Gruppen dar. Da dies zentral ist, soll es im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit näher erläutert werden. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit stellt die prinzipielle Gleichwertigkeit von Gruppen oder Menschen, die Mitglieder von Gruppen sind, infrage. Menschen werden einer ausschließenden Bewertung ausgesetzt, sie sind mit Ungleichheitssemantiken konfrontiert, die im Gegensatz zu graduellen Klassifikationen solche kategorialer Natur erzeugen. Im Gegensatz zu graduellen Klassifikationen, worin Menschen und Gruppen nach quantitativen Differenzen beispielsweise in Bildung oder Einkommen beurteilt werden und welche in der Regel mit einer durchlässigen Statushierarchie einhergehen, fällen kategoriale Klassifikationen qualitative Urteile einer grundsätzlichen Andersartigkeit bestimmter Gruppen. Diese basieren häufig auf unveränderbaren Merkmalen wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit. Kategoriale Klassifikationen auf Basis der Ideologie der Ungleichwertigkeit bieten sich dafür an, soziale Ungleichheit kategorial exkludierend zu formen und eine starre, undurchlässige Statushierarchie zu etablieren und zu festigen.

Eine Ungleichwertigkeitsideologie ist zentral für das GMF-Syndrom, weil sie letztendlich danach trachtet, soziale Ungleichheit zwischen Gruppen herzustellen. Einerseits wird Ungleichheit durch sozioökonomische Traditionen und Entwicklungen verstärkt oder abgeschwächt. Andererseits bedarf die Ungleichheit einer Ungleichwertigkeitsideologie, die sie stabilisiert und legitimiert. Die materielle Verarmung statusniedriger Gruppen oder die ökonomische Schwächerstellung und Zuweisung von subdominanten Statuspositionen werden durch die Ungleichwertigkeit erzeugt und zugleich nachvollziehbar.

Neben die soziale Erniedrigung tritt das Urteil der moralischen Unterlegenheit mit der ideologischen Funktion, Hierarchien, Überlegenheit und Machtpositionen zu sichern. Soziale Ungleichheit kann in Ungleichwertigkeit transformiert werden und anders herum. Vorurteile beziehungsweise die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit erfüllen damit zentrale soziale Funktionen: Sie bestimmen und stabilisieren dominante und subdominante Verhältnisse zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe in einem gegebenen sozialen Kontext und begünstigen eine kategorial ausgrenzende soziale Ungleichheit. Insbesondere im Hinblick auf den gemeinsamen Kern von Vorurteilen, die Ideologie der Ungleichwertigkeit, tritt diese Funktion hervor. Sie stellt soziale Ungleichheit her, indem sie die Abwertung von Gruppen und ihren Mitgliedern von Grund auf legitimiert und im Speziellen, beispielsweise in Form der einzelnen Syndromelemente der GMF, erklärt. Homosexuellen wird mit dem Argument der "Widernatürlichkeit" oder des "Unmoralischen" Ungleichwertigkeit attestiert. Im Rassismus wird die Ungleichwertigkeit durch biologische Minderwertigkeit oder Andersartigkeit erklärt, bei Obdachlosen und Arbeitslosen durch gesellschaftliche und insbesondere wirtschaftliche "Nutzlosigkeit".

Menschenfeindliche Vorurteile werden kraft ihrer Verwurzelung in gesellschaftlich-kulturellen Diskursen und aktuellen Debatten zum festen Bestandteil des vermeintlichen Wissens einer Gesellschaft. Menschenfeindlichkeit ist kein Randphänomen. Durch ihren gemeinsamen Kern - die Ideologie der Ungleichwertigkeit - repräsentieren sie eine allgemein geteilte gesellschaftliche Überzeugung in Bezug auf soziale Gruppen und ihre Verhältnisse zueinander. In ihrer gesellschaftlichen Wissensfunktion repräsentieren Vorurteile im Rahmen eines allgemeinen Diskurses gesellschaftlich geteilte Mythen über eine bestimmte Eigengruppe (wie Gesellschaft, Kultur, soziale Klassen) in Bezug auf Fremdgruppen und deren Diskriminierung. Damit stellen die Elemente der Menschenfeindlichkeit, ähnlich wie andere gesellschaftliche Ideologien, Mythen dar, welche die soziale Hierarchie verstärken. Sie dienen also der Stabilisierung und Aufrechterhaltung der sozialen Hierarchie zwischen Gruppen und legitimieren damit die Diskriminierung niedriger Statusgruppen.

Wie eine spezifische Hierarchie beschaffen ist, ist (ähnlich wie der genaue Zusammenhang von Ungleichwertigkeitsideologie und sozialer Ungleichheit) eine Frage der gesellschaftlich historischen Situation und Entwicklung. Die Bewertungsstandards gegenüber den Gruppen, die als ungleichwertig etikettiert werden, sowie die Salienz der Ungleichwertigkeit bestimmter Gruppen variieren historisch. Der Soziologe Sighard Neckel diagnostiziert für Deutschland gegenwärtig eine zunehmend kategorial exkludierende Dichotomisierung der Sozialstruktur: In Kombination mit einer Entwicklung der Wirtschaft hin zu Winner-Take-All-Märkten führe die Vermarktlichung der Gesellschaft zu einer sukzessiven Aushöhlung des klassischen Leistungsprinzips in der Wirtschafts- und Arbeitswelt durch das gegenwärtige Erfolgsprinzip. Die Ökonomisierung "züchte" damit eine scharfe gesellschaftliche Unterscheidung in Gewinner und Verlierer. Auf der Verliererseite stünden neben den Arbeitslosen eine große Zahl von Erwerbstätigen wie Geringqualifizierte und der "industrielle Kern der Arbeitsgesellschaft", die eine Entwertung ihrer Arbeitsleistung erfahren würden. Am untersten Ende der Rangordnung stünden diejenigen, die kaum mehr Aussichten haben, in eine reguläre Erwerbsarbeit einzutreten oder zurückzukehren.

Trifft diese Diagnose zu, so müsste die Menschenfeindlichkeit in Deutschland zunehmend gegen "ökonomische Verlierer" wie beispielsweise Langzeitarbeitslose gerichtet sein, um die von Neckel diagnostizierte Statusordnung zu stabilisieren und zu reproduzieren. Allzu eindeutig ist die soziale Realität aber nicht, da in der Regel nicht nur eine einzige, festlegbare Gruppe die statusniedrige Position in der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung darstellt. Ganz in der Ungleichwertigkeitsrhetorik, die seit einigen Jahren in den öffentlichen Debatten mitschwingt, könnten sich die heutigen Verlierer auch aus einer Mischung aus "nutzlosen Sozialschmarotzern" und "angeboren Minderwertigen" aufgrund ihrer Herkunft zusammensetzen.

In Einklang mit der funktionalistischen Beschreibung von Vorurteilen als Stabilisatoren sozialer Ungleichheit konnten wir im Rahmen unseres Projektes empirisch zeigen, dass die Befürwortung von Leistungs- und Erfolgsprinzip, die als spezifische Gerechtigkeitsprinzipien einer fundamentalen Legitimation sozialer Ungleichheit in modernen westlichen Gesellschaften dienen, signifikant mit einer Menschenfeindlichkeit gegen gegenwärtig statusniedrige Gruppen zusammenhängen. Das Anrechtsprinzip - worin der Status weniger von individueller Anstrengung und Leistung abhängt als vielmehr von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Vererbung, das auf Statuswahrung zielt und mit seiner Berufung auf tradierte, zugeschriebene Ansprüche primär in feudalen Gesellschaften das Legitimationsprinzip für soziale Ungleichheit darstellt - geht verstärkt mit Rassismus, also einer als angeboren etikettierten Minderwertigkeit von Menschen, einher. Leistungs- und Erfolgsprinzip hängen dagegen insbesondere mit der Abwertung der als leistungsschwach und erfolglos etikettierten Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen zusammen.

Das spezifische Vorurteil scheint mit der passgenauen Gerechtigkeitsvorstellung zur sozialen Ungleichheit einherzugehen, um die spezifische Gerechtigkeitsideologie zu bestärken. Der Rassismus dient der Festigung des Anrechtsprinzips, während die gegenwärtigen erfolgs- und leistungsorientierten Gerechtigkeitsprinzipien sich der Abwertung von vermeintlich nutzlosen und leistungsschwachen Gruppen bedienen: ein Indiz für die Gültigkeit der beschriebenen sozialfunktionalen Bedeutung von Vorurteilen.

Ein weiteres Einstellungsmuster, das eine noch prinzipiellere Zustimmung zu oder Ablehnung von sozialen Hierarchien und damit sozialer Ungleichheit ausdrückt, ist die sogenannte Soziale Dominanzorientierung. Diese Einstellung wurde im GMF-Survey mit erhoben und ist über die gesamte Zeitspanne ein starker Erklärungsfaktor aller GMF-Syndromelemente.

Trends

Unsere Analysen der jährlich und repräsentativ erhobenen Umfragen unterstützen den Eindruck, dass viele soziale Gruppen im zurückliegenden Jahrzehnt kontinuierlich von der Mitte der Gesellschaft als ungleichwertig beschrieben werden. Die Zustimmung zu menschenfeindlichen Meinungen folgt dabei keinem linearen Auf- oder Abwärtstrend. Die Konjunktur der Menschenfeindlichkeit unterliegt sozialen Prozessen der Integration und Desintegration von Gruppen, die immer wieder durch historische Ereignisse zur Disposition gestellt werden.

Die meisten Abwertungen von Gruppen erscheinen seit dem ersten Erhebungszeitpunkt der GMF zyklisch, mit kontinuierlichen Auf- und Abwärtsbewegungen. Wesentlich für die Bewertung der Trends ist der Referenzpunkt, unter dem die Menschenfeindlichkeit betrachtet wird, um den dahinter liegenden Ursachen genauer nachzugehen. vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version zeigt jene Elemente, die von 2010 auf 2011 angestiegen sind. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Gruppen, die das Stigma der "verminderten Leistungsfähigkeit" und "ökonomischen Nutzlosigkeit" tragen. Ist dies ein Hinweis auf die Relevanz von Leistungs- und Erfolgsprinzip als Gerechtigkeitsideologien gegenwärtiger sozialer Ungleichheit?

Die Trends der islamfeindlichen Einstellungen sowie die Befürwortung von Etabliertenvorrechten weisen darauf hin, wie menschenfeindliche Meinungen durch historische Ereignisse geprägt werden können, die gesellschaftliche Entwicklungsphasen markieren. Islamfeindlichkeit stieg nach dem 11. September 2001 (bis 2006) leicht, aber kontinuierlich an. Der 11. September stellt eine Art Signalereignis dar, durch das eine Umstellung von ethnischen Kategorien auf religiöse (beispielsweise von Türken auf Muslime) entstanden ist. Damit geht eine Homogenisierung insofern einher, als dass seltener zwischen einem politisierten militanten Islam und dem alltäglichen Ausleben des Islams unterschieden wird. Dies hat eine Aktualität von Islamfeindlichkeit zur Folge.

Im Kontext der jüngsten Integrationsdebatten und der ökonomischen Krise seit 2008, die ebenfalls ein Signalereignis darstellt, stiegen Islamfeindlichkeit und die Zustimmung zu Etabliertenvorrechten erneut an, wobei die Krise weniger die religiöse Überformung von Abwertung, sondern vielmehr das Gefühl der Bedrohung des eigenen Status hervorgerufen haben dürfte. Dieser kann durch Muslime ebenso bedroht sein wie durch allgemein neu Hinzugekommene, wie sie die Etabliertenvorrechte fokussieren. Nach Abflauen der Krisenfolgen nahmen parallel beide GMF-Elemente wieder ab.

Bei anderen Elementen der GMF scheint auch eine Kommunikationslatenz, also die gesellschaftliche Repression allzu offener Abwertungen von Gruppen langfristig Wirkung zu zeigen. So verweisen die Zustimmungen zu offen antisemitischen oder sexistischen Meinungen oder auch die Zustimmung zu negativen Meinungen über Menschen mit homosexueller Orientierung auf eine langfristige Reduzierung dieser ungleichwertig machenden Meinungen.

Gesellschaftliche Entwicklungen

Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der GMF ist die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen. Dazu gehören strukturelle Entwicklungen und die damit einhergehenden sozialen Mentalitäten, welche die Ungleichwertigkeit befördern können. Einige zentrale Entwicklungen und Mentalitäten werden im Folgenden hervorgehoben.

Zweifelsfrei ist die

ökonomische Krise

für die Frage des Umgangs mit schwachen Gruppen in den vergangenen Jahren zentral gewesen. Die Krise hat signifikant die Zustimmung zu Stereotypen, Vorurteilen und ungleichwertig machenden Diskriminierungsintentionen gegenüber sozialen Minderheiten befördert - vor allem, weil Bürgerinnen und Bürger im Zustand der Bedrohung die Gleichwertigkeit von Gruppen zur Disposition gestellt haben. Auch unter Kontrolle anderer Einflussfaktoren zeigt sich, dass diejenigen Befragten, die sich von Wirtschafts- und Finanzkrisen bedroht fühlen, Abwertungen von Gruppen signifikant stärker zustimmen. Das Muster unterstreicht die sozialfunktionale Bedeutung der Menschenfeindlichkeit. Insbesondere Muslime, Asylbewerber und Zuwanderer, die - so wurde die Abwertung erfasst - scheinbar das soziale Netz belasten, werden von der Gruppe, die sich von der Krise bedroht sieht, abgewertet. Die Krise trägt damit indirekt, vermittelt über spezifische Vorurteile, zur aktuellen Formung sozialer Ungleichheit bei, indem die Ungleichwertigkeitssemantiken in Form der Menschenfeindlichkeit direkt von der subjektiven Krisenwahrnehmung beeinflusst sind.

Zugleich treibt die bundesrepublikanische Gesellschaft auch einen Prozess voran, der die klassischen Integrationsmodi wie Versagungen, die zur Menschenfeindlichkeit führen, konterkariert. Wir haben in der vergangenen Dekade beobachtet, dass sich eine zunehmend ökonomistische Grundauffassung in die soziale Orientierung der Bürgerinnen und Bürger eingeschrieben hat. Dies zeigt sich beispielsweise in einer signifikanten Zunahme von ökonomistischen Werthaltungen, also der Bewertung von Menschen und nicht-ökonomischen Institutionen nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien.

Wir bezeichnen den gesellschaftlichen Prozess, der mit subjektiven Einstellungen wie ökonomistischen Orientierungen einhergeht, als

Ökonomisierung des Sozialen

. Dieser Prozess zeichnet sich dadurch aus, dass sich in den gegenwärtigen Regierungsweisen unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Bereiche wie beispielsweise im Bereich der Arbeitsmarktpolitik oder auch in den Hochschulreformen, Markt- und Wettbewerbslogiken radikalisieren. Diese Logiken werden dabei nicht auf staatliches Handeln beschränkt, sondern dehnen sich auf alle Bereiche menschlichen Lebens und Handelns aus, auch auf individuelles Handeln. Während der klassische Liberalismus die Regierung anhielt, die Form des Marktes zu respektieren, sei der Markt in der gegenwärtigen Konzeption nicht mehr das Prinzip der Selbstbegrenzung der Regierung, sondern das Prinzip, das sich gegen sie kehre; eine Art "ständiges ökonomisches Tribunal", vor dem sich alles Handeln zu verantworten habe, beziehungsweise eine Kontrollverschiebung weg von der Politik und hin zum Kapital.

Die Rationalität neoliberalen Regierens läuft darauf hinaus, den Wettbewerbsmechanismus zu generalisieren und den Markt im Sinne der Humankapitaltheoretiker als universales Modell der Vergesellschaftung zu etablieren. Die Gesellschaft nimmt damit die Gestalt einer "generalisierten Konkurrenz" an. Da die Ökonomie hier nicht mehr als ein fest umrissener und eingegrenzter Bereich mit eigener Rationalität, eigenen Gesetzen und Instrumenten gilt, sondern prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns umfasst, verschwimmen aus dieser Perspektive die Grenzen zwischen Ökonomie und Sozialem. Diese Entwicklungen haben Folgen für jene Gruppen, die den verschärften Wettbewerbsbedingungen nicht standhalten und nach der Marktlogik wenig nützlich sind. Der Markt als Vergesellschaftungsmodus orientiert sich primär an der Nützlichkeit und weniger an der Moral. Dies schlägt sich subjektiv in den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger nieder. Unsere Analysen zeigen, dass jene, deren Lebensorientierung sehr viel deutlicher als bei anderen durch ökonomistische Orientierungen geprägt ist, nahezu alle Gruppen abwerten, die im Syndrom der GMF beschrieben sind.

Die Ökonomisierung des Sozialen trägt dazu bei, insbesondere Langzeitarbeitslose, als Konkurrenten und "Sozialschmarotzer" empfundene Ausländer, Muslime und Obdachlose über die entsprechenden Vorurteile auf ihre statusniedrige Position zu verweisen. Diese fundamentale gesellschaftliche Entwicklung festigt und formt so indirekt und vermittelt über Menschenfeindlichkeit eine aktuelle Form der sozialen Ungleichheit.

Gefühle von Bedrohung, Orientierungs- und Einflusslosigkeit verweisen auf die Bedeutung des ökonomischen Status für die Frage der Beurteilung von Gruppen. Ängste, Ohnmacht, ökonomische Unsicherheitsgefühle und Abstiegsängste machen Menschen anfällig, jene abzuwerten, die in der gesellschaftlichen Hierarchie unten lokalisiert werden. Dabei sind jene Bürger, die selbst prekären sozialen Schichten, Milieus oder Gruppen angehören, auf den ersten Blick anfälliger für die leichtfertige Zustimmung zu menschenfeindlichen und die Ungleichwertigkeit markierenden Einstellungen. Oft ist die prekäre Lage auch mit Bildungsdefiziten verbunden, die anfällig machen, Abwertungen zuzustimmen. Gemeinsam mit den Einflüssen der oben skizzierten subjektiven Einschätzung von Bedrohung und Verunsicherung spricht einiges für die klassische Beobachtung eines "Arme-Leute-Rassismus".

Das Bild täuscht allerdings gewaltig: Analysen über die Zustimmung zu abwertenden Meinungen in verschiedenen Einkommensgruppen zeigen einen seit 2009 teils sprunghaften Anstieg von Menschenfeindlichkeit in höheren Einkommensgruppen. Für diejenigen Gruppen, die im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen als Zielscheibe von Menschenfeindlichkeit an Konjunktur gewinnen, da sie für das Stigma der ökonomischen Nutzlosigkeit beziehungsweise verminderten Leistungsfähigkeit besonders passgenau infrage kommen (Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Ausländer, Menschen mit Behinderung, aber auch allgemein neu Hinzugekommene), ist sehr deutlich zu sehen, dass auch und insbesondere bei Befragten aus den höheren Einkommensgruppen in den vergangenen drei Jahren die Abwertungen signifikant angestiegen sind. Dies kann als Indiz für die Verteidigung bestehender Statushierarchien durch die starken Gruppen in Krisenzeiten, in denen diese ins Wanken geraten könnten, gewertet werden. Für die als "nutzlos" und "Minderleister" etikettierten Gruppen konnten wir zum letzten Erhebungszeitpunkt auch einen Anstieg der Abwertungen in der Gesamtbevölkerung beobachten (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version).

Möglicherweise spielen diese Beobachtungen eine zentrale Rolle in Bezug auf die sich abzeichnende soziale Hierarchie und damit auf die spezielle Beschaffenheit der gegenwärtigen oder zukünftigen sozialen Ungleichheit in Deutschland. Übernimmt die Ideologie der Ungleichwertigkeit gewissermaßen die Federführung in der Herstellung dieser Ungleichheit, so droht eine kategorial exkludierende Statusordnung, die besonders anfällig ist für ein Umschlagen in physische oder psychische Gewalt.

In der sozialen Hierarchie ganz unten stehen diejenigen, die aus ökonomischen Kalkülen wenig nützlich sind, wobei diese Kategorie freilich prinzipiell offen ist für neue Gruppen. Die neuen Arbeitsmigranten der globalisierten Wirtschaftsgemeinschaft, Teilzeit- und Kurzzeitarbeitskräfte, aber auch viele andere soziale Gruppen stehen auf der Agenda der Ungleichwertigkeit, welche die Ungleichheit erhält. Ob diese Form der sozialen Ungleichheit ihren Ursprung in sozialstrukturellen Entwicklungen hat, primär durch Vorurteilsideologien und -diskurse produziert wird oder ob diese strukturellen und kulturell-ideologischen Entwicklungen Hand in Hand gehen, ist dabei eine hoch interessante Frage, die des gesellschaftlichen Diskurses bedarf.

Ausblick

Wir finden die Weiterführung eines zeitdiagnostischen Monitors der Menschenfeindlichkeit für eine Gesellschaft wie die bundesrepublikanische - in deren Entwicklung sich immer wieder Ungleichwertigkeit einschleicht - hochgradig bedeutsam. Einerseits kann damit die demokratische Qualität der Gesellschaft, die sich bei aller Ökonomisierung auf die Gleichwertigkeit beruft, bemessen werden. Andererseits kann damit beobachtet werden, wie sich Entwicklungen im politischen, ökonomischen und sozialen Bereich auf den Umgang mit schwachen Gruppen und damit auf die moralische Qualität der Gesellschaft auswirken.

Dafür ist es neben den Untersuchungen zur objektiven Spaltung der Gesellschaft etwa anhand von objektiven Strukturindikatoren oder in Form von Studien zur Prekarisierung am Arbeitsmarkt nötig, soziale und politische Faktoren und Entwicklungen in Zusammenhang mit Ungleichwertigkeit und deren Folgen für Ungleichheit zu beobachten. Empirische Studien zeigen, dass dichotomes, also kategoriales Denken im Gegensatz zu graduell empfundenen Statusunterschieden, an Konjunktur gewinnt. Die Erfahrung zunehmender sozialer Spaltung in "die da oben" und "die da unten", "Leistungsträger" und "Minderleister", "Gewinner" und "Verlierer", "Nützliche" und "Nutzlose" oder die Wahrnehmung, selbst zu den "nutzlosen Verlierern" zu gehören, bestärken dieses Denken, das letztlich einen zivilisatorischen Rückschritt darstellt.

Die Ideologie der Ungleichwertigkeit, wie sie über die Vorurteile der GMF transportiert wird, stellt eine gefährliche Legitimationsbasis für eine solch kategorial desintegrative Gesellschaftsordnung dar. Welchen Einfluss gesellschaftliche Entwicklungen, seien sie schleichend oder mit Signalwirkung, auf solche desintegrativen Ideologien haben, und wie genau das Zusammenspiel zwischen Ungleichwertigkeit, Ungleichheit und Gewalt funktioniert, sind Fragen, denen sich eine Gesellschaft kontinuierlich stellen kann, möchte sie die Gleichwertigkeit von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, kultureller oder sozialer Herkunft herstellen, sichern und weiter vorantreiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Artikel basiert auf Daten aus diesem Projekt. Es wird von der Volkwagen-Stiftung, der Freudenberg-Stiftung und der Möllgaard-Stiftung gefördert. Leiter ist Wilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld). Vgl. Webseite: www.uni-bielefeld.de/ikg (2.3.2012).

  2. Vgl. Norbert Elias/John L. Scotson, The established and the outsiders, London 1965.

  3. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 1, Frankfurt/M. 2002; Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Heitmeyer, Prejudices and group-focused enmity, in: Anton Pelinka/Karin Bischof/Karin Stögner (eds.), Handbook of Prejudice, New York 2009.

  4. Vgl. Andreas Zick et al., The Syndrome of Group-Focused Enmity, in: Journal of Social Issues, 64 (2008) 2, S. 363-383.

  5. Vgl. Andreas Zick/Andreas Hövermann/Daniela Krause, Die Abwertung von Ungleichwertigen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012; Wilhelm Heitmeyer, Presseinformation, 12.12.2011, online: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf (15.2.2012).

  6. Vgl. Sighard Neckel/Ferdinand Sutterlüty, Negative Klassifikationen - Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit, in: Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch (Hrsg.), Integrationspotentiale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2005.

  7. Vgl. A. Zick/B. Küpper/W. Heitmeyer (Anm. 3).

  8. Vgl. Jim Sidanius/Felicia Pratto, Social Dominance: An Intergroup Theory of Social Hierarchy and Oppression, New York 1999.

  9. Vgl. Sighard Neckel, Flucht nach vorn, Frankfurt/M.-New York 2008.

  10. Ebd., S. 171.

  11. Vgl. Anna Klein/Eva Groß, Gerechte Abwertung, in: Bernd Dollinger/Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung?, Wiesbaden 2011.

  12. Vgl. J. Sidanius/F. Pratto (Anm. 8).

  13. Absolute Vergleiche zwischen den GMF-Elementen wie beispielsweise "Antisemitismus ist insgesamt geringer als Islamfeindlichkeit" sind nicht geboten, da die Aussagen zur Erfassung der GMF unterschiedlich hart oder weich formuliert sind. Relative Vergleiche hingegen wie beispielsweise "im Jahre 2002 wurde den antisemitischen Aussagen weniger zugestimmt als im Jahre 2009" sind dagegen möglich.

  14. Vgl. W. Heitmeyer (Anm. 5).

  15. Vgl. ebd.

  16. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, Frankfurt/M. 2007.

  17. Vgl. Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling, Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie, in: dies. (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M. 2000.

  18. Vgl. Michel Foucault zit. nach: U. Bröckling (Anm. 16).

  19. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus, in: Dietmar Loch/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt/M. 2001.

  20. U. Bröckling (Anm. 16), S. 84.

  21. Vgl. A. Zick/A. Hövermann/D. Krause (Anm. 5).

  22. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Ideologie der Ungleichwertigkeit, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 6, Frankfurt/M. 2008; Sighard Neckel, Die gefühlte Unterschicht, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hrsg.), Unterschicht, Freiburg i.Br. 2007.

Dipl.-Soz., M.A., geb. 1976; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld. E-Mail Link: eva_maria.gross@uni-bielefeld.de

Dr. rer. nat. phil. habil., geb. 1962; Professor an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld. E-Mail Link: zick@uni-bielefeld.de

Dipl.-Soz., geb. 1981; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (s.o.). E-Mail Link: daniela.krause@uni-bielefeld.de