Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vom Singular zum Plural: Männlichkeit im Wandel - Essay | Mannsbilder | bpb.de

Mannsbilder Editorial Für Männer, aber nicht gegen Frauen Vom Singular zum Plural: Männlichkeit im Wandel Entgrenzungsdynamiken: Geschlechterverhältnisse im Umbruch Männerforschung: Entwicklung, Themen, Stand der Diskussion Väter in der Familienpolitik (Nicht) Vater werden und (nicht) Vater sein heute Wie aus Jungen Männer werden

Vom Singular zum Plural: Männlichkeit im Wandel - Essay

Walter Hollstein

/ 16 Minuten zu lesen

In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!“ So formulierte der höchste Repräsentant des nationalsozialistischen Staates sein Männerbild, das dann während zwölf Jahren der faschistischen Herrschaft auch das allgemein gültige war. Die Folgen sind bekannt: zerstörte Landschaften und Städte, Millionen Tote im In- und Ausland, ein hoher Blutzoll vor allem bei jüngeren Männern, Hass und Misstrauen über lange Zeit.

Eine Aufarbeitung des Geschehens unter dem Stichwort der "Vergangenheitsbewältigung“ erfolgte zunächst nur zögerlich und allenfalls in moralischen Kategorien, da die pragmatische Bewältigung des Alltags alle Kräfte benötigte. Der notwendige Wiederaufbau fokussierte die Energie nach außen und beförderte damit auch die Reaktualisierung klassischer Männlichkeitsqualitäten wie Kraft, Leistung und Disziplin. Diese Entwicklung wurde später vorwurfsvoll mit dem Wort von der "Unfähigkeit zur Trauer“ belegt. Erst mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre setzte eine kritische Auseinandersetzung mit der Generation der Väter ein. Damit verbunden wurden auch sukzessive "heroische“, soldatische und schließlich generell traditionelle Männlichkeitsentwürfe problematisiert. Die erste umfassende Darstellung zu diesem Thema erschien 1977.

Traditionelle Männlichkeit

Die traditionelle Männerrolle besteht vor allem aus Erfolg, Leistung, Härte, Macht, Distanz, Konkurrenz und Kampf. James M. O’Neil, der einst in den USA Hunderte von Untersuchungen über den männlichen Erziehungsprozess geprüft und zusammengefasst hat, kam 1982 zum Ergebnis, dass Männer sozialisiert werden, wettbewerbsbetont, leistungsorientiert und sachkompetent zu sein. Bereits achtjährige Jungen hätten diese Maxime verinnerlicht und wüssten, dass sie kämpfen, sich anstrengen und arbeiten müssten und dass sie nicht schwach und passiv sein dürften, wenn sie Männer werden wollten.

Robert Brannon hat schon 1976 die herrschenden Erwartungen an das Mann-Sein in besonders plastischer Form auf den Punkt gebracht: Erstens, der Junge und spätere Mann müsse in seiner Sozialisation alles vermeiden, was den Anschein des Mädchenhaften hat ("No sissy stuff“). Zweitens, nur wer Erfolg hat, sei ein richtiger Mann. Der Weg zum Erfolg führe ausschließlich über Leistung, Konkurrenz und Kampf ("Be a big wheel“). Drittens, der Junge und spätere Mann müsse wie eine Eiche im Leben verwurzelt sein. Er müsse jedem Sturm trotzen, hart, zäh und unerschütterlich ("Be a sturdy oak“). Und viertens, der Junge und spätere Mann wage alles. Er sei per se ein Siegertyp ("Give ’em hell“).

Um Männlichkeit muss gerungen werden. Der große Berliner Soziologe Georg Simmel (1858–1918) bezeichnete in diesem Verständnis Weiblichkeit als ein "Sein“ und Männlichkeit als ein "Tun“. "Welche Rolle in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen jedem zukam, war eigentlich von der Natur her nur für die Frauen bestimmt (…) Dieser Mangel eines naturgegebenen Tätigkeitsinhalts wies (den Mann) auf schöpferische Freiheit, macht ihn zum Träger der Arbeitsteilung.“ Diese Männlichkeit ist eine über Jahrhunderte und Jahrtausende tradierte gesellschaftliche Festlegung von spezifischen Werten, Verhaltensweisen und Überzeugungen, die durch eine vielschichtige Dynamik von Institutionen wirkt: Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit, Militär, Religion, Sport, Massenmedien und soziale Beziehungen.

Der einzelne Mann muss seine eigene Lebensweise von Männlichkeit finden und auch immer wieder neu interpretieren. Der individuelle Freiheitsgrad ist aber durch die Tradition eingeschränkt. Dabei ist es zunächst einmal irrelevant, ob die Begründung für diese Traditionen heute als falsch oder unzeitgemäß bewertet wird. Entscheidend ist vielmehr, dass es diese Tradition gibt und dass sie über eine Vielzahl von gesellschaftlichen Zwängen und Interessen auch unsere Gegenwart bestimmt. Was unsere Vorfahren uns an Bildern von Männlichkeit weitergegeben haben, ist für uns vorgegebene Realität, an der wir uns orientieren und die wir in unserer Erziehung verinnerlichen. Diese Verinnerlichung bestimmt unsere Sichtweise von uns selbst und von den anderen; sie strukturiert überdies unser Erleben und ist damit in gewisser Weise unsere Wirklichkeit, was auch Veränderung – entgegen aller kognitiven Einsicht – so sehr erschwert.

Veränderte Männlichkeit

Die Männlichkeit ist seit den späten 1960er Jahren dabei, sich prinzipiell anders aufzufächern als in den Jahrhunderten zuvor. Das betrifft nicht nur ökonomische, politische und kulturelle Machtpositionen, sondern geht wesentlich tiefer. Getroffen ist der Androzentrismus, das heißt die absolute Selbstverständlichkeit, dass Männer herrschen, die Gesetze machen, die Welt erklären und alle darauf hören. Der Mann ist die längste Zeit der unbestrittene Herrscher der Außenwelt gewesen. Ökonomische Veränderungen bedingen diese Entwicklung.

Die landläufige Meinung, dass erst der moderne Feminismus die traditionelle Männlichkeit in Auflösung gebracht habe, ist irrig. Schon in den 1950er Jahren lebten in den USA die Beats neue Männlichkeiten. Die Literatur vor allem von Jack Kerouac dokumentiert dies ebenso wie die Werke von Allen Ginsberg oder Alan Watts. In Deutschland versuchten einige Jahre später die sogenannten Gammler Vergleichbares. Schon äußerlich unterschieden sie sich mit ihren langen Haaren und gewollt ungepflegter Kleidung von der traditionellen Männlichkeit. In ihrer Lebensauffassung klinkten sie sich bewusst aus der "männlichen“ Leistungsgesellschaft aus und beschworen "kontraproduktive“ Werte wie Müßiggang, Unordnung und Spontaneität. Bundeskanzler Ludwig Erhard versprach damals: "Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören.“ Die NPD verlangte "endlich Maßnahmen (…) um das ganze Problem (…) radikal und im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen“. Kurze Zeit später radikalisierten die Hippies den Lebensentwurf der Gammler. Ihre Kleidung war bunt und "weiblich“, auch Männer trugen Schmuck. Die Kritik an der "Männlichkeitsgesellschaft“ und deren Ausformungen wie zum Beispiel der Krieg in Vietnam verschärften sich. Im Gegensatz zu diesen und anderen Protestbewegungen wie den holländischen Provos oder dem englischen Underground konzentrierten sich Frauenbewegung und Feminismus vor allem auf die machtpolitische Kritik von Männlichkeit und deren Auswirkungen auf Krieg, Naturzerstörung und Sexualität.

Die erwähnten Veränderungen dokumentieren sich unter anderem in verschiedenen Befragungen. 1975 unternahm die Soziologin Helge Pross die erste "repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau“. Der Anspruch, Haus- und Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern demokratisch aufzuteilen, fand zu dieser Zeit noch kaum Zuspruch. Die Männer schätzten, dass sie kontinuierlich versorgt wurden; das Ideal war die mütterliche Frau. In der Sexualität beharrten die meisten Männer auf dem männlichen Initiativrecht und einer weiblichen Passivitätspflicht. Männlichkeit wurde noch deutlich höherwertig angesehen als Weiblichkeit, woraus ein Machtanspruch gegenüber Frauen abgeleitet wurde. Belastungen, welche die eigene männliche Rolle in sich birgt, wurden kaum wahrgenommen. Verändert hatte sich jedoch schon die Einstellung gegenüber der "Führungsfähigkeit der Frau in der Politik“; auch die alte Doppelmoral, sich als Mann Vergnügungen zu gönnen, die Frauen nicht zugebilligt werden, erodierte.

Zehn Jahre später erschien die "Brigitte-Studie“. Die Veränderung der Frauen hatten ihrzufolge zu einem stärkeren Einstellungswandel bei den Männern geführt: "Verunsichert sind sie (…). Aber der neue Mann ist noch eine geringe Minderheit“.Hausarbeit galt nach wie vor als Frauensache, aber die Anzahl mithelfender Männer erhöhte sich stetig. Die Bedeutung der weiblichen Erwerbstätigkeit hatte zugenommen und wurde von den Männern auch geschätzt. In der Sexualität wurde "auf die Partnerin Rücksicht genommen“. Generell wurde in der Studie eine "Entwicklung in Richtung auf 'sanftere‘ Männer“ konstatiert.

1988 erschien die Untersuchung "Geschlechtsrollen im Wandel“, die vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) im Auftrag des Bundesfamilienministeriums erstellt wurde. Diese Studie vermerkte zunächst ausführlich den "Terraingewinn der Frauen in Bildung und Beruf“. Trotzdem blieb die "Männerrolle – mit ihrer hohen Priorität für die Berufstätigkeit – vergleichsweise stabil“. Der deutsche Mann beteiligte sich vermehrt an Haus- und Erziehungsarbeit, "Entscheidungen über die Verwendung der finanziellen und zeitlichen Ressourcen des Haushalts werden gemeinsam getroffen.“ Das Machtgefälle in der Partnerschaft war demnach nahezu verschwunden. Beide Geschlechter stimmten allerdings nach wie vor der tradierten Ansicht zu, dass "männliche Selbstverwirklichung ohne Beruf schwer vorstellbar“ sei und die Erwerbstätigkeit der Männer "die höchste Geltung“ habe.

Dass die Männerwelt inzwischen stark in Bewegung geraten war, dokumentiert die Berliner Männeruntersuchung von 1990. Das Frauenbild der Männer und die Einschätzung und Anerkennung der Frauen hatten sich positiv verändert. Deutlich hatte sich die Mithilfe des Mannes im Haushalt und bei der Kindererziehung verstärkt. Auch das Bild, das sich die Männer von sich selbst machen, hatte sich "enthärtet“. Männer waren vor allem gefühlvoller, partnerschaftlicher und zu besseren Zuhörern geworden. Auffällig und in diesem Ausmaß erschreckend war aber eine generelle Unzufriedenheit der Männer mit sich und ihrer Situation. Auch die Männerrolle wurde nun kritischer gesehen.

Untersuchungen um die Jahrtausendwende und danach belegen, dass diese Trends sich gefestigt haben. "Männer im Aufbruch“ titelt eine Befragung von 1998 und macht einen steigenden Anteil "neuer Männer“ aus. Unterschiedliche Männlichkeiten können nun gelebt werden. Die traditionelle Männlichkeit hat ihre verbindliche Eindimensionalität verloren. Das gilt nicht nur für sexuelle Präferenzen, sondern auch für Rollenmodelle wie Hausmann, teilzeitarbeitender Vater und andere. Doch sollte diese Entwicklung nicht überschätzt werden. Männlichkeit bleibt eine Gratwanderung zwischen der Hardware-Männlichkeit, wie sie offiziell noch immer gelebt wird, und einer Software-Männlichkeit, wie sie inzwischen in bestimmten Milieus gefordert ist. Aber die Erwartung, leistungsstark, erfolgreich und kämpferisch zu sein, bleibt das Maß für Beruf und Karriere. Privat hingegen wird vermehrt eine Männlichkeit verlangt, die kooperativ, emphatisch, flexibel und irgendwie feminin ist. Das gilt vor allem für die Milieus der mittleren Schichten. Beides ist vor allem dann schwierig zu leben, wenn es simultan verlangt wird. In diesem Sinne merkte William Pollack an: "Wir fordern, dass unsere Jungen den sensiblen New-Age-Mann und den coolen Kerl gleichzeitig verkörpern.“

Der Schluss, dass die traditionelle Männlichkeit inzwischen überholt ist, wäre jedoch fahrlässig. Ebenso ist es eine Fehlannahme, von einer veränderten Sozialisation auszugehen. Empirische Studien konstatieren, dass für den Umgang mit Jungen noch immer der Verhaltenskodex der traditionellen Männlichkeit verbindlich ist. Der Kulturhistoriker George L. Mosse wies nach, dass die traditionelle Männlichkeit sich trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen behauptet hat und geht davon aus, dass sie es auch weiterhin tun wird.

Frauenfokussierung

Wenn man den Blick von der eindimensionalen Betrachtung der Männlichkeit auf die Gesamtlandschaft der Geschlechter lenkt, so wird man nicht nur das Ende des Androzentrismus konstatieren müssen, sondern damit eng verbunden auch eine generelle Entwertung von Männlichkeit und eine Fokussierung auf die Lebenswirklichkeit der Frauen. Der Mann galt über Jahrhunderte als Schöpfer von Zivilisation und Kultur; er war verantwortlich für Schutz und Fortbestand des Gemeinwesens. Mit dem Feminismus setzte eine grundlegende Umwertung von Männlichkeit ein. Männer werden seither vorgestellt als Zerstörer der Natur, Kriegstreiber, Gewalttäter, Kinderschänder oder – in der Werbung – als Trottel. In ihrem Buch "Pornographie“ postulierte die amerikanische Radikalfeministin Andrea Dworkin ebenso schlicht wie dezidiert: "Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Lebenszweck.“ Das Dworkinsche Lösungsrezept: "Ich möchte einen Mann zu einer blutigen Masse geprügelt sehen.“

Wurden früher Mut, Leistungswille oder Autonomie von Männern hochgelobt, so werden diese einstigen Qualitäten heute als Aggressivität, Karrierismus und Unfähigkeit zur Nähe stigmatisiert. In den USA haben Paul Nathanson und Katherine A. Young nachgewiesen, dass negative Bilder von Männlichkeit, die der Feminismus verbreitet hat, zunächst von der intellektuellen Kultur übernommen wurden und sich inzwischen in der Populärkultur (Fernsehen, Film, Zeitschriften) massiv verbreitet haben. Die Autoren machen dabei unterschiedliche Techniken der Misandrie aus wie etwa die "Verlächerlichung“, die Sündenbock-Rolle oder die Dämonisierung.

Nebst der Misandrie hat sich im Laufe dieser Entwicklung eine selektive Wahrnehmung zugunsten der Frauen und zuungunsten der Männer etabliert. Ein signifikantes Beispiel dafür ist der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2011. Männer kommen in diesem Dokument nur nominell vor; sie werden immer wieder leerformelhaft erwähnt, bleiben aber Phantome. So ist der Bericht letztendlich ein Frauenreport. Im Kapitel über Arbeit – für Männer nach wie vor die wichtigste Quelle ihrer Identität – werden ausschließlich das Thema "Frauen auf dem Arbeitsmarkt“ und die damit verbundenen Probleme behandelt. Folgerichtig gibt es dann auch nur Empfehlungen für eine effizientere Gleichstellungspolitik, die exklusiv Frauen betreffen: unter anderem Förderung, Geschlechterquote für Aufsichtsräte und Aufhebung der Lohndifferenz. Wurde einst die höhere Arbeitslosigkeit von Frauen als gesamtgesellschaftliches Skandalon bezeichnet, wird nun die statistisch registrierte höhere Arbeitslosigkeit von Männern wie selbstverständlich hingenommen.

Ein weiteres Beispiel ist die offizielle Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt: Danach sind grundsätzlich Frauen die Opfer gewalttätiger Männer. Die Realität zeigt hingegen, dass Frauen, legt man einen weiten Gewaltbegriff zugrunde, in gleichem Maße gewalttätig sind: In einer jüngeren Befragung erwiesen sich 34,5 Prozent der Männer und 30,4 Prozent der Frauen als gewaltaktiv, wobei Männer stärker zu (sichtbarer) physischer Gewalt tendieren und Frauen zu (unsichtbarer) Kontrollgewalt und verbaler Gewalt. Auch die Opfererfahrungen halten sich die Waage: 41 Prozent der Frauen und 45 Prozent der Männer gaben an, schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein. Von Partnergewalt zeigten sich beide Geschlechter mit etwa 20 Prozent gleichermaßen betroffen. Der Soziologe Jens Alber führt weitere Beispiele an und spricht zusammenfassend von "Doppelstandards der Gleichstellung“, die zunehmend bewirkten, dass Männer ignoriert oder diskriminiert werden.

Männliche Problemlagen

Inzwischen gelten Frauen als die eigentlichen Gewinnerinnen der Modernisierung; ihr Aufstieg im Laufe der vergangenen 30 Jahre ist eklatant. Sie machen die besseren Schulabschlüsse, studieren häufiger, dominieren ganze Fachbereiche und stellen die Mehrheit der kompetenten Berufsanfänger. Die Emanzipationsverlierer hingegen sind heute Jungen und Männer. Das lässt sich selbst in der Arbeitswelt dokumentieren, wo angeblich die Dominanz der Männer verankert ist. Die Entwicklung der Wirtschaft tendiert seit geraumer Zeit in Richtung des "weiblichen“ Dienstleistungsgewerbes und zur sukzessiven Schrumpfung der "männlichen“ Industriearbeit. Entsprechend steigt die weibliche Erwerbstätigkeit, während die männliche ebenso kontinuierlich abnimmt. Das alimentiert nicht gerade die Zukunftsperspektiven der nachwachsenden Generation. In den USA spricht man mittlerweile nicht mehr von Rezession, sondern von He-cession. Grundsätzlicher ausgedrückt: Die männliche Ernährerrolle ist die längste Zeit allgemein verbindlich gewesen. Das bedroht eine männliche Identität, die sich seit Jahrhunderten primär über die Arbeitsleistung bestimmt, und verunsichert ein männliches Selbstwertgefühl, das seine Energie aus dem Wissen bezogen hat, für die eigene Familie verantwortlich zu sein. Bricht dieses Verständnis von Männlichkeit zusammen, brechen auch die Grundfesten von Männlichkeit weg. Dieser Vorgang kann gar nicht dramatisch genug geschildert werden, zumal – trotz aller Veränderungen – das soziale Verständnis von Männlichkeit noch immer zentral an der Erwerbsarbeit festgemacht wird.

Andere Tatbestände werden öffentlich noch weniger zur Kenntnis genommen: Rund Dreiviertel der Suizidtoten in Deutschland sind Männer. Seit 2006 schwanken die Zahlen zwischen 74,5 und 78 Prozent. In der Adoleszenz sind gar 86 Prozent der Suizidtoten männlich. In den vergangenen vier Jahren ist die Suizidquote von Männern und männlichen Jugendlichen noch einmal signifikant angestiegen, während jene, die Frauen und Mädchen betrifft, kontinuierlich abnimmt.

Das fügt sich ein in eine gesamthaft desaströse Gesundheitsbilanz von Männern. Die moderne Gesundheitsforschung bezeichnet Männer inzwischen als das kranke oder das eigentlich schwache Geschlecht. Die Lebensqualität vieler Männer hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Beratungsstellen für Männer machen auf folgende Problembereiche aufmerksam: Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien, vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze, klagen über emotionale Probleme und leiden zunehmend an Impotenz.Eine öffentliche Problematisierung dieser Fakten ist bisher ausgeblieben. Ihr Leistungs- und Erfolgsprofil hindert Männer auch selbst daran, den eigenen Blick auf ihre Schwierigkeiten zu richten. Die Einseitigkeit deutschsprachiger Gleichstellungspolitik als Frauenpolitik zeitigt inzwischen kontraproduktive Tendenzen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Die wachsende Frustration von Männern äußert sich zunehmend in Gewalt.

Auch das viel beklagte Geburtenproblem hat einen engen Zusammenhang mit der Krise der Männlichkeit. Diverse Studien dokumentieren, dass der Familien- und Kinderwunsch bei jungen Frauen massiv höher ist als bei jungen Männern. Als Grund werden dabei häufig ihre gesellschaftlich unbearbeiteten Rollenkonflikte angeführt. Die vom Familienministerium in Auftrag gegebene und 2007 veröffentlichte Sinus-Studie über Lebensentwürfe, Rollenbilder und Haltungen zur Gleichstellung 20-jähriger Frauen und Männer belegt die großen Zukunftsängste der jungen Männer. Gleichzeitig äußern sie auch konservativere Zukunftsentwürfe als junge Frauen. Überdies "sind sie geplagt von einer fundamentalen Unsicherheit in Bezug auf gleichaltrige Frauen: Diese sind für sie zugleich attraktiv und suspekt, gerade weil sie ein massives Selbstbewusstsein demonstrieren, ein modernes Rollenbild haben und keine Schwäche (mehr) zeigen. Aber den Männern fehlen in Bezug auf ihre eigene ‚neue Geschlechtsidentität‘ die positiven Vorbilder zur Orientierung“. Die Modernisierungskluft zwischen den Geschlechtern wird sich noch verstärken. Die Shell-Jugendstudie von 2006 belegt, dass mehr als 70 Prozent der deutschen Schüler sich ausdrücklich keine emanzipierte Partnerin wünschen. Damit sind gravierende Partnerschaftskonflikte, Scheidungen und Kinderelend programmiert.

Entsprechend neuer Daten des Statistischen Bundesamtes ist seit 1991 die Quote der alleinlebenden Männer um 81 Prozent gestiegen. Diese Entwicklung betrifft vor allem junge Männer im heiratsfähigen Alter. 27 Prozent der 18- bis 34-Jährigen leben allein. Auch im "mittleren Alter“ – von 35 bis 64 Jahren – liegt der Anteil der alleinlebenden Männer signifikant über dem der alleinlebenden Frauen. 60 Prozent der alleinlebenden Männer im Alter von 35 bis 64 Jahren waren noch nie verheiratet; das Statistische Bundesamt bezeichnet sie als "echte Junggesellen“. Alleinlebende Männer haben deutlich häufiger soziale Probleme als Männer in Beziehungen. Knapp 17 Prozent der alleinlebenden Männer "mittleren Alters“ bestreiten ihren Lebensunterhalt mit staatlicher Unterstützung. Der Sozialhilfeanteil ist damit dreimal so hoch wie bei jenen, die nicht allein leben. Das sind erstaunliche Zahlen. Sie verweisen auf ein Stück Zukunfts-, auf jeden Fall aber Bindungsverweigerung vor allem jüngerer Männer.

Das unbekannte Geschlecht

Dass Männer in der offiziellen Geschlechterpolitik nur als Objekt der Kritik ins Visier geraten sind, ist problematisch. Grundsätzlich läuft es der demokratischen Verfasstheit eines Staatswesens zuwider, wenn ein ganzes Geschlecht aus politischen Bemühungen ausgespart bleibt. Zwar ist die Männerfrage seit längerem gestellt, aber öffentlich und offiziell bisher noch nicht angekommen. Das scheint partiell nun auch in politischen Kreisen wahrgenommen zu werden.

Im April 2011 brachten die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag den Antrag "Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ ein. Dieser konstatiert zunächst einmal grundsätzlich: "Moderne Gleichstellungspolitik muss gezielt die Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und Männern, von Mädchen und Jungen berücksichtigen. Lange Zeit standen berechtigterweise Mädchen und Frauen im Fokus der Gleichstellungspolitik. Entsprechend wurde das Ziel der Gleichberechtigung vornehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgt. Aktuelle Entwicklungen zeigen aber, dass sich die Gleichstellungspolitik zusätzlich den Jungen und Männern zuwenden muss. In den letzten Jahren sind die Geschlechterrollen in Bewegung geraten, viele junge Männer sind auf der Suche nach Perspektiven jenseits traditioneller Lebensentwürfe und stereotyper Erwartungen.“ Konkret wird gefordert, im schulischen und außerschulischen Bereich stärker auf die Bedürfnisse von Jungen einzugehen, "bestehende Väterprojekte zu fördern, die Männer in ihrer Aufgabe als Väter stärken und hier insbesondere auch alleinerziehende Väter einzubeziehen.“ Neben weiteren Maßnahmen sollen Studien in Auftrag gegeben werden, "die untersuchen, wie typische Vermittlungsprozesse von Geschlechterrollen und Handlungsmustern bei Jungen und jungen Männern verlaufen“. Kindertageseinrichtungen und Schulen käme eine besondere Aufgabe zu: "Hier könnten Jungen von der Anwesenheit männlicher Pädagogen profitieren: Diese könnten Jungen ein erweitertes Spektrum an gelebten Vorbildern bieten und gegebenenfalls das Fehlen männlicher Bezugspersonen im familiären Bereich abfedern.“ Schließlich wird sogar zur Prüfung vorgeschlagen, "ob §16 des Bundesgleichstellungsgesetzes dahingehend zu ändern ist, dass es sowohl Frauen als auch Männern offensteht, die Funktion einer oder eines Gleichstellungsbeauftragten wahrzunehmen“ .

Das deutet auf einen Perspektivwechsel hin, der bisher allerdings noch nicht eingelöst wurde. Generell wird man bemerken müssen, dass es seit geraumer Zeit an Empathie für das männliche Geschlecht fehlt. Jungen und Männer haben – wohlgemerkt für ihre geschlechtsspezifischen Anliegen – keine Advokaten. Das gilt auch für das, was sich als Männerforschung etikettiert; letztere hat sich von Anfang an explizit als feministisch oder zumindest pro-feministisch verstanden. Entsprechend argumentiert sie nicht nur häufig an den pragmatischen Bedürfnissen der Männer vorbei, sondern nimmt auch deren vielfache Bedürftigkeiten nicht wahr. Das ist pikanterweise auch das Problem bei männerpolitischen Organisationen wie beispielsweise dem Bundesforum Männer. Dieser Mangel befördert den Antifeminismus, der in den vergangenen Jahren stark aufgekommen ist.

Freuds Diktum von den Frauen als dark continent hat sich historisch gedreht. Die Welt der Frauen ist heute differenziert erforscht, während Männer eher das unbekannte Geschlecht repräsentieren. Dazu haben sie allerdings auch selbst beigetragen, weil sie sich – im Gegensatz zu den Frauen – um ihre eigene Verfasstheit zu wenig kümmern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Adolf Hitler am 14. September 1935, Der Parteitag der Freiheit vom 10. bis 16. September 1935, München 1935, S. 183.

  2. Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Reinbek 1977.

  3. Vgl. James M. O’Neil, Gender-Role Conflict and Strain in Men’s Lives, in: Kenneth Solomon/Norman B. Levy (eds.), Men in Transition, New York 1982.

  4. Vgl. Robert Brannon, No "Sissy Stuff“, in: Deborah S. David/Robert Brannon (eds.), The Forty-Nine Percent Majority. The Male Sex Role, Reading, MA 1976. S. 12f.

  5. Georg Simmel, Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen, in: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt/M. 1985, S. 177.

  6. Beide Zitate nach: Gammler. Schalom aleichem, in: Der Spiegel, Nr. 39 vom 19.9.1966, S. 72.

  7. Vgl. Walter Hollstein, Der Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher Protestbewegungen, Neuwied–Berlin 1969.

  8. Vgl. Helge Pross, Die Männer, Reinbek 1978.

  9. Vgl. Sigrid Metz-Göckel/Ursula Müller, Der Mann. Die Brigitte-Studie, Weinheim–Basel 1986, S. 19.

  10. Ebd., S. 148.

  11. Ebd., S. 152.

  12. Vgl. Wolfgang Hartenstein et al., Geschlechtsrollen im Wandel. Partnerschaft und Aufgabenteilung in der Familie, Stuttgart u.a. 1988.

  13. Ebd., S. 23.

  14. Vgl. Walter Hollstein, Die Männer – vorwärts oder zurück?, Stuttgart 1990.

  15. Vgl. Paul M. Zulehner/Rainer Volz, Männer im Aufbruch, Ostfildern 1998.

  16. William F. Pollack, Richtige Jungen, Bern 1998, S. 13.

  17. Vgl. ebd.; Klaus Hurrelmann, Leistungsdefizite junger Männer – was sind die Ursachen und Hintergründe?, in: Matthias Franz/André Karger (Hrsg.), Neue Männer – muss das sein?, Göttingen 20112, S. 191–207.

  18. Vgl. George L. Mosse, Das Bild des Mannes, Frankfurt/M. 1997.

  19. Andrea Dworkin, Pornographie. Männer beherrschen Frauen, Frankfurt/M. 1997, S. 93f.

  20. Vgl. ausführlich: Walter Hollstein, Was vom Manne übrig blieb. Das missachtete Geschlecht, Stuttgart 2012.

  21. Vgl. Paul Nathanson/Katherine A. Young, Spreading Misandry, Montreal–London 2001.

  22. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, Erster Gleichstellungsbericht, Berlin 2011, online: Externer Link: www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=174358.html (5.9.2012).

  23. Vgl. Peter Döge, Männer – die ewigen Gewalttäter?, Wiesbaden 2011.

  24. Vgl. Jens Alber, Doppelstandards der Gleichstellung, 25.3.2011, online: Externer Link: www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/geschlechterdebatte-doppelstandards-der-gleichstellung-13100.html (5.9.2012).

  25. Vgl. Statistisches Bundesamt, Todesursachen, Wiesbaden 2012; ausführlich: Telefonseelsorge Berlin, Sprachlos in der Krise – Hilfesuche hinter männlicher Maske, Berlin 2012.

  26. Vgl. die Jahresberichte der Männerberatungen, zum Beispiel Göttingen, München und Wien; Herb Goldberg, Der verunsicherte Mann, Reinbek 1986; Wayne A. Ewing, Changing Men, Denver 1978; M. Franz/A. Karger (Anm. 17).

  27. Vgl. Oliver Tabino, Die schöne neue Männerwelt, in: Sinus Sociovision Navigator, (2006) 5.

  28. Vgl. Sinus Sociovision, 20-jährige Frauen und Männer heute, Heidelberg 2007; Statistisches Bundesamt, Alleinlebende in Deutschland, Wiesbaden 2012.

  29. Vgl. Sinus Sociovision (Anm. 28), S. 9.

  30. Vgl. Shell Holding (Hrsg.), 15. Shell Jugendstudie, Frankfurt/M. 2006.

  31. Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 28).

  32. Vgl. Walter Hollstein, Die Männerfrage, in: APuZ, (1993) 6, S. 3–14.

  33. Antrag "Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ vom 13.4.2011, Bundestags-Drucksache 17/5494, online: Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/054/1705494.pdf (5.9.2012). Bemerkenswert ist, dass sämtliche Anfragen und Initiativen der vergangenen Jahre in männerpolitischer Richtung ausnahmslos von der CDU/CSU eingebracht worden sind, während sich SPD, Grüne und Linke ausschließlich auf die Belange von Mädchen und Frauen konzentrierten.

Dr. phil., geb. 1939; Professor i.R. für politische Soziologie, Begründer mehrerer Männerprojekte, Gutachter des Europarates für Männerfragen. E-Mail Link: w.hollstein@bluewin.ch