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Ein kritischer Zwischenruf zur deutsch-französischen Kulturpolitik - Essay | Deutschland und Frankreich | bpb.de

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Ein kritischer Zwischenruf zur deutsch-französischen Kulturpolitik - Essay

Ansbert Baumann

/ 16 Minuten zu lesen

Es ist gerade erst ein Jahr her, da waren die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich von einer schier grenzenlos erscheinenden Harmonie geprägt: Die Zusammenarbeit auf Regierungsebene verlief vorbildlich, und Staatspräsident Nicolas Sarkozy bekundete zu Beginn des französischen Präsidentschaftswahlkampfs beharrlich seine Bewunderung für Bundeskanzlerin Angela Merkel und stellte Deutschland als leuchtendes Vorbild für die künftige französische Politik dar ("le modèle allemand"). Seit dem Amtsantritt von François Hollande scheint der deutsch-französische Motor eher ins Stottern geraten und von der Vorbildfunktion der deutschen Politik nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Vielmehr hat es den Anschein, als wolle der neue französische Staatschef Frankreich zum Vorreiter einer Umstrukturierung innerhalb der EU machen. Angesichts dieser Entwicklung bleibt abzuwarten, inwieweit die in der sogenannten Agenda 2020 anvisierten Ziele erreichbar bleiben. In diesen am 4. Februar 2010 vom Deutsch-Französischen Ministerrat verabschiedeten politischen Leitlinien für die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte man sich noch auf die "beispielhafte Einigkeit" der beiden Regierungen bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise berufen und eine verstärkte "Koordinierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen in den einschlägigen EU-Gremien" beschlossen.

Von einer aufeinander abgestimmten Wirtschaftspolitik ist man derzeit weit entfernt; immerhin sprach sich Hollande anlässlich des Festakts am 22. September 2012 in Ludwigsburg für den Ausbau des künstlerischen, wissenschaftlichen und universitären Austauschs zwischen beiden Ländern aus und bestätigte damit die Ziele der Agenda in einem vordergründig politisch unverfänglicheren Feld: Im Hinblick auf die kulturpolitische Zusammenarbeit bekundeten die beiden Regierungen dort nämlich den Willen, "Vorreiter bei der Schaffung eines gemeinsamen kulturellen Raums in Europa (zu) werden, der die kulturelle Vielfalt und den kulturellen Reichtum unseres Kontinents wahrt und fördert. Um den deutsch-französischen gemeinsamen Kulturraum zu stärken, werden wir uns unter anderem darum bemühen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der Freizügigkeit kreativer Menschen und Werke im Weg stehen, indem wir neue Förder- und Austauschprogramme für Künstler, Vertreter kultureller Einrichtungen und Mitarbeiter der Kulturministerien schaffen; der gemeinsame deutsch-französische Kulturraum kann in weiteren gemeinsamen Projekten seinen Ausdruck finden."

Eingedenk der Tatsache, dass die Interventionsmöglichkeiten im Bereich der Kultur ohnehin schon dadurch begrenzt sind, dass die Politik in demokratischen Staaten lediglich Rahmenbedingungen vorgeben sollte, innerhalb derer sich dann kulturelle Aktivitäten entwickeln können und sich im Fall des deutsch-französischen Austauschs weitere Schwierigkeiten aus dem Unterschied zwischen deutschem Föderalismus und französischem Zentralismus ergeben, bewirken vorschnell abgegebene Erklärungen im kulturpolitischen Bereich erfahrungsgemäß häufig eine Art Bumerangeffekt. Man kann sich deswegen durchaus darüber wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit gerade in Zeiten wirtschaftspolitischer Differenzen wagemutige kulturpolitische Ziele formuliert werden. Dies ist umso erstaunlicher, weil die grundsätzliche Bedeutung kultur- und bildungspolitischer Initiativen ja keinesfalls unterbewertet werden sollte und sich hierbei gerade im deutsch-französischen Verhältnis innerhalb der zurückliegenden Jahrzehnte eklatante Defizite auftun, die nicht gerade für eine Vorbildfunktion in Europa prädestinieren: Vielen wohlklingenden Verlautbarungen und Erklärungen steht eine Bilanz gegenüber, die wenige konkrete Fortschritte aufzuweisen hat, auch wenn im Anschluss an die Agenda 2020 einzelne Maßnahmen elanvoll in Angriff genommen wurden. So wird beispielsweise am 21. Januar 2013 bereits zum dritten Mal der von einer deutsch-französischen Jury ausgelobte Franz-Hessel-Preis an zeitgenössische Autoren aus beiden Ländern verliehen, um – so die offizielle Begründung – "den literarischen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich zu vertiefen (…) und damit einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des deutsch-französischen Kulturraums zu leisten".

Unterschiedliche Begriffstraditionen

Es ist durchaus lohnenswert, sich ein paar grundsätzliche Gedanken zu jenem immer wieder propagierten "Kulturraum" zu machen: Seit mit dem Vertrag von Maastricht 1992 die Zuständigkeit der europäischen Gemeinschaft erstmals auch auf den Bereich der Kultur ausgeweitet wurde, erlebte der Begriff in der Politik eine Renaissance: Beispielsweise verabschiedete das Europäische Parlament am 5. September 2001 den Beschluss "die kulturelle Zusammenarbeit sowohl auf politischer Ebene als auch auf der Ebene des Haushaltsplans (…) zu stärken, um die Schaffung eines ‚europäischen Kulturraums‘ zu ermöglichen".

Gerade im deutsch-französischen Kontext ist die Bezeichnung "Kulturraum" jedoch extrem problematisch: Entstanden ist der Begriff im Kontext der Institutionalisierung der Volkskunde in der Zeit nach 1800, Verbreitung fand er allerdings vor allem durch die Arbeit des Bonner Instituts für Rheinische Landeskunde, welches in den 1920er und 1930er Jahren eine führende Rolle innerhalb der sogenannten Westforschung spielte. Zu dieser gehörte, wie es ein Institutsmitarbeiter 1934 ausdrückte, beispielsweise auch die "Historikerschlacht um das linke Rheinufer". Den damaligen "Kulturraumforschern" – neben Historikern waren dies Geografen, Sprachwissenschaftler und Archäologen – ging es vor allem darum, Expansionsbestrebungen der deutschen Politik mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Argumenten zu legitimieren. Interessanterweise beschäftigten sich mehrere dieser Wissenschaftler nach 1945 nicht mehr mit dem deutschen, sondern mit dem "europäischen Kulturraum", womit der Begriff eine erste Rehabilitierung und Umdeutung erfuhr, die dann nach und nach auch in die Politik eindringen konnte.

Anhand der Herkunft des deutschen Begriffs "Kulturraum" lässt sich zudem ein wesentlicher Unterschied in der kulturellen Selbstwahrnehmung zwischen Deutschen und Franzosen festmachen. Die Idee eines "deutschen Kulturraums" entstammte nämlich letztlich dem im Vergleich zu Frankreich völlig unterschiedlichen Nationalbewusstsein: Die moderne Idee des Nationalstaats entstand bekanntlich im Zuge der Französischen Revolution, die ja indirekt 1806 auch zum Ende des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" führte. Angesichts der Tatsache, dass nach 1815 der Integralität des französischen Nationalstaats ein in 39 Einzelstaaten aufgeteiltes Deutschland gegenüberstand, entwickelte sich der deutsche Nationalismus quasi zwangsläufig gegen Frankreich: So wurden die Kriege gegen Napoleon im Nachhinein zu nationalen "Befreiungskriegen" deklariert, und im Kontext der sogenannten Rheinkrise von 1840, als die national-patriotische, antifranzösische Stimmung einen Höhepunkt erlebte, entstanden die bekanntesten patriotischen Lieder – nicht nur die "Wacht am Rhein", sondern auch das "Lied der Deutschen", unsere heutige Nationalhymne.

Hieran lässt sich exemplarisch zeigen, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland unterschiedliche Vorstellungen vom Nationsbegriff durchsetzten: Die französische Idee entwickelte sich nach 1789 in einem klaren staatlichen Rahmen; demnach stellt die Nation, wie es der Philosoph Ernest Renan in seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1882 definierte, ein "ständiges Plebiszit" dar, wodurch jeder Einzelne, indem er aktiv an ihr teilnimmt, zu einem integrativen Bestandteil von ihr wird und sich mit ihr identifizieren kann. Im Gegensatz dazu entstand das deutsche Nationalbewusstsein vor allem während der Romantik, und damit zu einer Zeit, als es keine staatlich-politische Identifikationsmöglichkeit gab; demzufolge ist der Einzelne ohne sein Zutun aufgrund von Herkunft, Geschichte, Kultur und Sprache Mitglied einer Nation. Für diese Sichtweise ist die Bezugnahme auf die Vergangenheit, die Kultur und die Sprache, also letztlich auf einen imaginären "Kulturraum" von entscheidender Bedeutung.

Zum "Kampfgebiet" dieser unterschiedlichen Vorstellungen wurde ab 1870 das Annexionsgebiet Elsass-Lothringen: Die dortigen Bewohner wollten ursprünglich mehrheitlich Franzosen bleiben, so dass es zu einem großen Diskurs zwischen deutschen und französischen Wissenschaftlern kam, in welchem die einen beweisen wollten, dass jene aufgrund von Geschichte, Kultur und Sprache eindeutig Deutsche seien, während die anderen auf die gegenwärtige Situation verwiesen, um damit den Gegenbeweis anzutreten.

Im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis sind Deutsche und Franzosen also eher Antipoden, in dem Sinne, dass sich die deutschen Vorstellungen außerhalb einer staatlichen Realität entwickelten und eine entsprechende kulturelle Überhöhung fanden. Unter diesem Gesichtspunkt stehen sich zum Beispiel Deutsche und Polen wesentlich näher als Deutsche und Franzosen.

In diesem Kontext sollte auch erwähnt werden, dass der deutsche Kulturbegriff Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bewusst in Opposition gegen die Civilisation française gestellt wurde: Während der westlichen "Zivilisation" ein politisches und gesellschaftliches Sendungsbewusstsein unterstellt wurde, wurde der deutschen, der "abendländischen" Kultur ein über der Politik und der Gesellschaftsordnung stehender, grundsätzlicher und unumstößlicher Anspruch zugesprochen. So erklärte Thomas Mann in seiner zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstandenen Vorrede zu den "Betrachtungen eines Unpolitischen": "Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. (…) Dieser Gegensatz bleibt auf Seiten des Deutschtums eine nur zögernd einzugestehende Tatsache des Gemütes, etwas Seelisches, nicht verstandesmäßig Erfaßtes und darum Unaggressives. Auf Seiten der Zivilisation aber ist er politischer Haß: Wie könnte es anders sein? Sie ist Politik durch und durch, ist die Politik selbst, und auch ihr Haß kann immer nur und muß sofort politisch sein. Der politische Geist als demokratische Aufklärung und ‚menschliche Zivilisation‘ ist nicht nur psychisch widerdeutsch; er ist mit Notwendigkeit auch politisch deutschfeindlich, wo immer er walte." In gleichem Sinn wandten sich 93 deutsche Professoren im Oktober 1914 in ihrem Aufruf "An die Kulturwelt" und forderten diese zur Unterstützung des deutschen Kampfes auf. Schon allein die Begriffe "Kultur" und "Kulturraum" deuten also auf relevante Unterschiede und lang währende Konflikte zwischen der "Staatsnation" Frankreich und der "verspäteten Nation" Deutschland hin.

Politik bestimmt, nicht Kultur

Natürlich ist es müßig, mehr oder weniger fragwürdige Interpretationen über die Verwendung eines Begriffs anzustellen: Man kann sich selbstverständlich ungefähr vorstellen, was in der Agenda 2020 gemeint ist: Der Kulturraum wird hier mit Sicherheit nicht primär im kulturanthropologischen oder gar nationalen Sinn interpretiert, sondern eher als ein soziologisch identitätsstiftendes Element. Allerdings drängt sich dabei der Verdacht auf, dass jener "deutsch-französische Kulturraum" vor allem die Beschwörung eines politischen Wunschgedankens darstellt und keineswegs eine vorhandene Realität beschreibt.

Man sollte nicht den Fehler begehen, die Uniformisierung, die derzeit in Frankreich und in Deutschland zu erleben ist, als Beweis für eine gemeinsame Kultur zu interpretieren. Diese Entwicklung hat viel mit Amerikanisierung und Westernisierung zu tun, aber eben auch mit den Konsequenzen aus einem gemeinsamen europäischen Markt – sie hat eben nicht nur die Verbreitung von McDonalds mit sich gebracht hat, sondern auch das Verschwinden der Bar-Tabacs, der französischen Landgasthöfe oder der charakteristischen deutschen Telefonzellen, dafür gibt es jetzt Aldi und Lidl in Frankreich und L’Occitane in Deutschland. Dies allein ist primär kein Indiz für eine gemeinsame kulturelle Basis, sondern für angeglichene Rahmenbedingungen, die aber lediglich eine Grundlage bilden, auf der sich ein kultureller Austausch entwickeln kann, jenen aber mit Sicherheit nicht determiniert.

Selbstverständlich haben Deutsche und Franzosen eine gemeinsame Vergangenheit, teilen viele gemeinsame kulturelle Werte. Aber gemeinsame kulturelle Werte bewirken nicht automatisch ein Gemeinschaftsgefühl. Gerade ein Blick auf die deutsche Geschichte kann dies verdeutlichen: Gemeinsame kulturelle Werte haben beispielsweise 1866 Bayern, Sachsen und Württemberg nicht daran gehindert, einen Krieg gegen Preußen zu führen. Dass Bayern, Sachsen und Württemberger fünf Jahre später in einem Deutschen Reich vereinigt waren, war das Resultat politischer Entscheidungen.

Auch die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945 war ein Akt des politischen Willens. Natürlich haben insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen Maßgebliches zu dem fortschreitenden Verständigungsprozess beigetragen, aber die Möglichkeiten, einen dafür notwendigen Handlungsspielraum zu haben, mussten von der Politik vorgegeben werden. Hier wurde eine wichtige Lehre aus der Zwischenkriegszeit gezogen, als es bereits ein bemerkenswertes zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten eines kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich gab; jenes blieb jedoch elitären Bevölkerungsgruppen vorbehalten und konnte keine größere Breitenwirkung entfalten, da die breite politische Unterstützung fehlte.

Für die Qualität aller Austauschbeziehungen – gerade auch der kulturellen – kommt den von der Politik festgesetzten Rahmenbedingungen also tatsächlich eine Schlüsselrolle zu. Wenn in einem zentralen politischen Programm von einem "deutsch-französischen Kulturraum" die Rede ist, sollte man sich daher schon die Frage stellen, was genau damit gemeint sein könnte und welche Maßnahmen möglicherweise im Laufe der zurückliegenden Jahre in der kulturpolitischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern ergriffen wurden, um einen solchen zu schaffen. Hier sieht die Bilanz, wie bereits angedeutet, leider nicht besonders positiv aus.

Zunehmende Sprachlosigkeit

Zunächst einmal kommt man nicht umhin festzustellen, dass eine wesentliche Grundlage für Kontakte in der Kommunikation besteht. Allerdings scheint sich in dem deutsch-französischen Paar zunehmend eine gewisse Sprachlosigkeit breit zu machen, da immer weniger Deutsche Französisch und immer weniger Franzosen Deutsch lernen.

Dabei besteht gerade im Hinblick auf die Bedeutung, die man der Sprache innerhalb der Kultur zuspricht, ein weiterer eklatanter Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich: Für die französische Politik stand stets außer Zweifel dass das entscheidende Medium zum Transport der französischen Kultur die Sprache ist, weshalb auch entsprechende politische Maßnahmen ergriffen wurden: Mit Gesetzen wie dem "Loi Bas-Lauriol" von 1975 und dem "Loi Toubon" von 1994 sollten die Amerikanisierungstendenzen zumindest im sprachlichen Bereich – und damit die Anwendung des "franglais" – zurückgedrängt werden, wohingegen in Deutschland der umfangreiche Gebrauch "denglischer" Worte (man denke nur an die pseudo-englische Bezeichnung "Handy") sogar eher als schick gilt.

Auch auf internationaler Ebene war Frankreich stets um die Stellung der französischen Sprache bemüht – dies kam nicht nur in der Förderung der Francophonie zum Ausdruck, sondern auch in Bezug auf die Bedeutung des Französischunterrichts beim deutschen Nachbarn: Nachdem Französisch bis zum Jahr 1937 an höheren Schulen in Deutschland die erste unterrichtete Fremdsprache gewesen und erst unter den Nationalsozialisten aus ideologischen Gründen an den Rand gedrängt worden war, war die französische Regierung nach 1945 beständig um eine Reetablierung des Französischunterrichts in Deutschland bemüht. Die Verteilung der Besatzungszonen erschwerte jedoch die Ausgangssituation, so dass Französisch zunächst lediglich in der französischen Besatzungszone und im Saarland zur ersten Fremdsprache wurde. Seit 1955 unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Bundesländer eine Reihe von Abkommen zur Vereinheitlichung des Schulwesens, in welchen sie sich stets auf das Englische als erste lebende Fremdsprache verständigten.

Die französische Regierung versuchte, dieser Entwicklung entgegenzutreten, indem sie in den politischen Verhandlungen, vor allem im Kontext der Unterzeichnung des deutsch-französischen Kulturabkommens von 1954 und des Élysée-Vertrags von 1963, auf der Forderung bestand, dass jeder deutsche Schüler die Möglichkeit haben müsse, Französisch als erste Fremdsprache zu erlernen; allerdings konnten sich beide Seiten bereits im Élysée-Vertrag lediglich darauf einigen, sich zu "bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen".

Tatsächlich ging der Unterricht in der Sprache des Partners seither in beiden Ländern kontinuierlich zurück, so dass inzwischen sogar der Spanischunterricht dies- und jenseits des Rheins eine größere Frequentierung erfährt. Bezeichnenderweise zeigt sich die Agenda 2020 in diesem Punkt eher zurückhaltend: Zwar sollen bis 2020 mindestens 200 zweisprachige deutsch-französische Kindertagesstätten eingerichtet und die Anzahl zweisprachiger Hochschulkurse verdoppelt werden, aber die allgemeine Aussage, die im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht gewählt wurde, bleibt sehr bescheiden: "Das Erlernen der Sprache des Partnerlands muss angeregt und gefördert und eine engere Verbindung beider Bildungssysteme angestrebt werden."

Kultureller Code in Gefahr

Auch im wissenschaftlichen Austausch, der ja ebenfalls eine wichtige Bedeutung für einen gemeinsamen Kulturraum haben müsste, sind die Kontakte insgesamt rückläufig – ein Indikator hierfür ist beispielsweise, dass immer weniger wissenschaftliche Werke in die Partnersprache übersetzt werden. Hinzu kommt, dass Wissenschaftsbeziehungen häufig direkt von politischen Entscheidungen abhängig sind: Viele wichtige Mittlerinstitutionen haben unter stark gekürzten Budgets zu leiden, und es ist schwierig zu sagen, ob die jeweiligen Mittelkürzungen einen rückläufigen Austausch verursacht oder berücksichtigt haben.

Weiterhin erschweren strukturelle Unterschiede in beiden Ländern – beispielsweise im Hinblick auf die Autonomie der Hochschulen, aber auch hinsichtlich der Kontakte zwischen Intellektuellen und Politik – häufig eine intensivere Annäherung. Schließlich haben gerade im wissenschaftlichen Bereich auch manche nationale Entscheidungen starke Rückwirkungen: Wenn beispielsweise in einem so zentralen Feld wie der Energiepolitik unterschiedliche Wege beschritten werden, hat dies zweifelsohne Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Austausch (zu denken ist hier etwa an die Verteilung staatlicher Fördergelder für wissenschaftliche Projekte).

Gerade anhand des Themas Energiepolitik wird, ebenso wie im Hinblick auf die derzeitigen europapolitischen Diskussionen, deutlich, dass sich die Politik in beiden Ländern stärker auf national ausgerichtete Ziele zu konzentrieren scheint. Dies ist eine Entwicklung, die auch im kulturellen Bereich greifbar wird, zumal die weltpolitischen Veränderungen der vergangenen 20 Jahre die großen ideologischen Fragen, welche zuvor einen grenzüberschreitenden Konsens begünstigt hatten, immer stärker in den Hintergrund gerückt haben. Demgegenüber hat eine profitable, unterhaltsame Massenkultur zunehmend an Boden gewonnen, die zwar im globalisierten Gewand in Erscheinung tritt, meistens aber nur nationale Inhalte transportiert. Diese breitenwirksame Variante der Kultur geht eher verächtlich mit als elitär empfundenen kulturellen Werten um.

Aber wie man es auch dreht und wendet: Die deutsch-französische Aussöhnung war, ebenso wie die europäische Integration, von Anfang an ein Projekt der Eliten. Der dem französischen Außenminister Robert Schuman zugeschriebene und vom Germanisten Pierre Bertaux überlieferte Satz "Man ist nicht Europäer von Geburt, sondern man wird es durch Bildung", ist heute noch genauso gültig wie vor 50 Jahren – gerade und besonders im Hinblick auf den kulturellen Austausch. Insofern wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass wenn der beispielsweise aus humanistischen Idealen und einem bestimmten Bildungskanon bestehende kulturelle Code der europäischen Eliten verloren zu gehen droht, dies Auswirkungen auf die europäischen und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen haben muss – auch hier ist die Bildungspolitik gefordert!

Grenzen und Perspektiven der Gemeinsamkeit

Wir erleben aber nicht nur eine Renationalisierung der Kultur, sondern auch der Geschichte und des Gedenkens: In Frankreich wird über ein Haus der französischen Nationalgeschichte gestritten und öffentlich über die Rolle des französischen Kolonialismus debattiert, in Deutschland erreichen Sendereihen zur Geschichte der Deutschen und Filme über Friedrich den Großen oder Erwin Rommel mit Starbesetzung Rekordeinschaltquoten. Diese Entwicklung ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Ernest Renan schon 1882 festgestellt hat, dass das gemeinsame Erinnern als identitätsstiftendes Element auch ein gemeinsames Verdrängen erfordert – hinsichtlich einer übernationalen oder gar europäischen Gedenkkultur sollte man daher eher skeptisch sein.

Auf übernationaler europäischer Ebene könnte so – nicht im Sinne einer Glorifizierung, sondern im Sinne einer gemeinsam erlebten und dadurch verbindenden Geschichte – durchaus an die Kreuzzüge, eventuell an die sogenannte Türkenabwehr, oder mit Abstrichen auch an den Kolonialismus gedacht werden; aber die kollektive Erinnerung an die Jahre 1940 bis 1945 wird beispielsweise in Deutschland und Frankreich mit Sicherheit noch für lange Zeit unterschiedlich konnotiert sein. Ob hier gemeinsame Projekte wie das deutsch-französische Geschichtsbuch auf lange Sicht eine Änderung bewirken können und ob ein solches gemeinsames Geschichtsbild überhaupt wünschenswert wäre, sei dahingestellt.

Um es nochmals klar zu sagen: Die Politik kann für den kulturellen Austausch lediglich die Rahmenbedingungen vorgeben – dies ist aber nicht wenig, und die Situation ist somit ähnlich der im wirtschaftlichen Bereich. Aber genauso wie im Laufe der 1990er Jahre politisch sehr viel unternommen wurde, um die Liberalisierung der Märkte voranzubringen und sich viele Politiker vor diesem Hintergrund heute vielleicht allzu oft auf die Allmacht der Märkte berufen, die ja primär ein Resultat von entsprechenden politischen Entscheidungen ist, so sollte sich die Politik auch im Bereich der Kultur nicht aus ihrer Verantwortung stehlen: Letztlich ist es eben doch eine politische Entscheidung, wie viele Französisch- oder Deutschlehrer eingestellt werden, wie die Lehrpläne aussehen, welche Projekte bezuschusst werden und anderes mehr.

Selbstverständlich ist beispielsweise die nachhaltige Förderung des Fremdsprachenunterrichts wesentlich kostenaufwendiger als ein spektakuläres Projekt wie das deutsch-französische Geschichtsbuch, und es ist auch klar, dass die Politik mit den finanziellen Ressourcen verantwortungsvoll umgehen muss. Daher mag es Gründe dafür geben, dass sowohl Deutsche als auch Franzosen nur noch Englisch lernen und sich dann möglicherweise auf diesem Wege verständigen können; man sollte aber den Mut haben, derartige Überlegungen offen anzusprechen, um einen gesellschaftlichen Diskurs über die Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts überhaupt erst zuzulassen.

Letztlich geht es bei den kulturellen Beziehungen ja um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir, Deutsche und Franzosen, leben und wie wir sie weiterentwickeln wollen. Eine konstruktive Debatte zu solch tief greifenden Fragen ist aber nur von unterschiedlichen Standpunkten aus möglich und verträgt mit Sicherheit keinen Relativismus und keine Nivellierungen. Schon allein deswegen ist die Vorstellung von einem "deutsch-französischen Kulturraum" wenig erstrebenswert und kein Vorbild für die "Schaffung eines gemeinsamen kulturellen Raums in Europa", zumal kultur- und ideengeschichtlich Deutschland und Frankreich in vielerlei Hinsicht eher Gegenmodelle sind. Europa hat seinen kulturellen Fortschritt dem fortwährenden Austausch kulturell unterschiedlich geprägter Menschen zu verdanken; ein "deutsch-französischer Kulturraum" und noch mehr ein "europäischer Kulturraum" wäre demgegenüber eine Schwächung des eigenen Potenzials. Das kann eigentlich niemand wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Deutsch-Französische Agenda 2020, online: Externer Link: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2010/02/2010-02-04-deutsch-franzoesische-agenda-2020.html (3.12.2012).

  2. Ebd.

  3. Pressemitteilung des Staatsministers für Kultur und Medien Bernd Neumann, 10.12.2010, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/2010/12/2010-12-10-bkm-literaturpreis-deutsch-franzoesisch.html (3.12.2012).

  4. Art. 128 EG-Vertrag. Vgl. Thomas Läufer (Bearb.), Europäische Union, Europäische Gemeinschaft. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleitgesetzen, Bonn 19965, S. 205f.

  5. Entschließung des Europäischen Parlaments zur kulturellen Zusammenarbeit in der Europäischen Union, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C72E vom 21.3.2002, S. 142–146, hier: S. 144.

  6. So der Historiker Leo Just in seiner Antrittsvorlesung "Lothringen und die Saar", zit. nach: Bernd-A. Rusinek, Das Bonner Institut für Rheinische Landeskunde, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 31–46, hier: S. 40.

  7. Vgl. Karl Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903–1993), in: Westfälische Forschungen, 46 (1996), S. 73–176.

  8. Vgl. Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden, Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn 2007.

  9. Vgl. Patrick Cabanel, Nation, nationalités et nationalismes en Europe, 1850–1920, Paris 1995, S. 81ff.

  10. Vgl. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt/M.–New York 1998, S. 483.

  11. Vgl. Ansbert Baumann, Die Erfindung des Grenzlandes Elsass-Lothringen, in: Burkhard Olschowsky (Hrsg.), Geteilte Regionen – geteilte Geschichtskultur(en). Muster der Identitätsbildung im europäischen Vergleich, München 2013.

  12. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1920, S. XXXIIIf.

  13. An die Kulturwelt!, 4. Oktober 1914, in: Klaus Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren in Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, S. 47ff.

  14. Vgl. Ansbert Baumann, Der sprachlose Partner. Das Memorandum vom 19. September 1962 und das Scheitern der französischen Sprachenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Revue d’Allemagne, (2002) 34, S. 55–76.

  15. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit, in: Bundesgesetzblatt II, 1963, S. 705–710, hier: S. 709.

  16. Deutsch-Französische Agenda 2020 (Anm. 1).

  17. Pierre Bertaux, Mutation der Menschheit 1963/64, in: Rüdiger Hohls/Iris Schröder/Hannes Sigrist (Hrsg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 304.

  18. Vgl. Andreas Wirsching, Die Ungleichzeitigkeit der europäischen Erinnerung, in: Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hrsg.), Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis, Göttingen 2011, S. 150–153.

  19. Deutsch-Französische Agenda 2020 (Anm. 1).

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Dr. phil., geb. 1967; Historiker, Dozent an der Sciences Po Paris; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen. E-Mail Link: ansbert.baumann@uni-tuebingen.de