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Angstunternehmer. Zur Karriere eines amerikanischen Rollenmodels

Bernd Greiner

/ 17 Minuten zu lesen

Jeder hätte es wissen können, und doch taten alle überrascht, als ab Anfang Juni 2013 über die Sammelwut des amerikanischen Militärgeheimdienstes National Security Agency (NSA) berichtet wurde. Es liegt in der Natur der Sache, dass in diesem Fall nur ein Bruchteil der Wahrheit aufgedeckt werden wird. Dennoch ergibt sich bereits ein klar konturiertes Bild. Die NSA will auf alle Kommunikationsdaten Zugriff haben – und sie verfügt über die technischen Mittel, um im In- und Ausland herauszufinden, wer mit wem wie lange von wo aus telefoniert oder E-Mails ausgetauscht hat, wie und in welchem Umfang online Bankgeschäfte getätigt, Urlaube gebucht oder Informationen zu diesem und jenem abgerufen wurden. Kurz: Es geht um das Speichern aller elektronischen Daten, die im Alltag anfallen – um Informationen zur Aufklärung von Verbrechen, die noch nicht geschehen, ja noch nicht einmal geplant sind, und um Bewegungsprofile von Verdächtigen zu Zeiten, als diese sich noch gar nicht verdächtig gemacht hatten. In den Worten eines ehemaligen Mitarbeiters des US-Justizministeriums: "Nicht alle Daten sind relevant, aber die Datenbank ist relevant. Sie muss alles beinhalten, sonst ist sie wertlos."

Weil kein Geheimdienst dieser Welt Derartiges alleine bewerkstelligen kann, kooperiert die NSA mit Privatunternehmen wie dem Telefonanbieter Verizon, mit Internet-Größen wie Google, Facebook, Microsoft, Yahoo und Apple. Und nicht zuletzt mit einer Vielzahl vergleichsweise unbekannter IT-Firmen, deren Hauptgeschäft in der Beschaffung und Bearbeitung einschlägiger Informationen besteht. Auf diese Weise ist seit Herbst 2001 ein privater Spionagemarkt riesigen Ausmaßes entstanden. Ungefähr 500000 Beschäftigte privater Anbieter erhielten staatlicherseits die höchste Sicherheitsfreigabe und haben damit Zugriff auf alle Daten. Und die Profitmargen sind astronomisch: Der Technologiedienstleister Booz Allen Hamilton beispielsweise soll 2012 allein mit Regierungsaufträgen fast sechs Milliarden Dollar Umsatz gemacht haben. Wie alle Unternehmer haben auch diese ein doppeltes Interesse: dass mit ihrem Produkt ein Bedürfnis befriedigt wird und dass dieses Bedürfnis nicht versiegt. In anderen Worten: Wer Vorsorge gegen die Angst trifft, muss den Ängsten ständig neue Nahrung geben, um nicht bankrott zu gehen.

US-Präsident Barack Obama ging derweil zur Tagesordnung über. Bürgerrechte? Überwachungsstaat? Verfassungsbruch? Von wegen. Der Präsident war noch nicht einmal um Schadensbegrenzung bemüht, sondern verteidigte die Politik der NSA als notwendigen Beitrag zur "nationalen Sicherheit" und zur Rettung von Menschenleben. Und das in einem Tenor, der amerikanische Journalisten fast spöttisch über die dritte und vierte Amtszeit von George W. Bush schreiben ließ. In der Tat: Sobald national security auf der Agenda steht, gelten eigene Regeln. Auf diesem Terrain treten Parteien, Kongress und Wähler in eine Art Überbietungswettbewerb ein: Je mehr Geld investiert wird, je größer die Behörden und Institutionen und je schärfer das Vokabular, desto besser. Selbst für eingefleischte Republikaner, die ansonsten mit ihrer Staatsskepsis kokettieren, kann der national security state gar nicht stark und abwehrbereit genug sein. Wer als Meinungsforscher nach dem Vertrauen in Geheimdienste und Militär oder nach der Legitimität geheimdienstlicher Praktiken fragt, notiert regelmäßig Zustimmungsquoten von weit über fünfzig Prozent. Politiker, die auf diesem Terrain auch nur den Eindruck von Schwäche erwecken, haben gemeinhin verspielt.

Dass die Gewährleistung von Sicherheit zur raison d’être eines jeden Staates gehört, ist ein naheliegender, aber gleichwohl an der Pointe vorbei zielender Einwand. Denn im amerikanischen Fall steht national security für eine Art kollektiver Obsession. Für ein Denken und Fühlen nämlich, das keinen Unterschied zwischen Innen und Außen macht, das äußere und innere Feinde in einem überdimensionierten Tableau der Bedrohung wie Gleich und Gleich nebeneinanderstellt – genauer gesagt: amalgamiert. In dieser Vorstellungswelt sind ausländische Feinde von Haus aus viel zu schwach, um dem starken Amerika etwas anhaben zu können; bedrohlich werden sie erst, wenn Amerika im Inneren Schwäche zeigt, wenn es unentschlossen auftritt, wenn Unzuverlässige Verwirrung stiften, sich dem Feind als Helfershelfer anbieten oder gar zu ihm überlaufen. 1798 in den "Alien and Sedition Acts"erstmals aktenkundig, gehört die Phobie vor dem Feind im Inneren seither zum festen Bestandteil des politischen Lebens in den USA. Mitunter verdichtete sich das Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung zu regelrechten Hysterien, die in den 1920er Jahren als "Red Scare" oder im frühen Kalten Krieg als "McCarthyismus" bekannt geworden sind. Die Exzesse dauerten nur wenige Jahre, das Grundrauschen indes blieb. Es konserviert verlässlich die vorauseilende Legitimation eines Staates, der den Schutz des Einzelnen vom Generalverdacht gegen alle abhängig macht.

Verängstigte Nation

Woher rühren diese Angstfantasien, die stets präsenten und oft ins Maßlose übersteigerten Diskurse über Bedrohung und Verletzlichkeit? Unter dem Eindruck von "9/11" beschäftigen sich Historiker und Sozialwissenschaftler mehr denn je mit dieser klassischen Frage an die amerikanische Geschichte. So unterschiedlich ihre Ansätze und Ergebnisse auch sind, in einer Beobachtung sind sie sich offenkundig einig: Wer einen Schlüssel zum Verständnis des Problems sucht, sollte als Erstes einen genauen Blick auf die nationale Meistererzählung der Vereinigten Staaten werfen.

Ein derartiges Herangehen überrascht und irritiert zugleich. Denn Liberalismus und Exzeptionalismus – die beiden Grundpfeiler des amerikanischen Welt- und Selbstbildes – signalisieren im landläufigen Verständnis alles Mögliche. Nur mit Selbstzweifel, Verunsicherung oder Angst werden sie nicht in Verbindung gebracht, eher mit Selbstbewusstsein und Vertrauen. Liberalismus oder die Vision von der größtmöglichen Freiheit des Individuums ist untrennbar mit der Zuversicht verbunden, Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religion und Ethnie zu souveränen Bürgern einer Nation machen zu können. E pluribus unum ("Aus Vielen, Eins"), so wie es im Siegel der Vereinigten Staaten steht, steht zugleich für die staatsbürgerliche Neutralisierung sozialer Unterschiede: Gleichberechtigung wiegt auf Dauer schwerer als soziale Differenz, das Angebot zur Inklusion entschärft die Gefahren gesellschaftlicher Exklusion. Auf diesen Prämissen fußt auch die Idee von der Einzigartigkeit Amerikas. Sie kann bekanntlich mit religiösen wie mit säkularen Gedanken begründet werden: mit dem Auftrag Gottes an sein auserwähltes Volk, ein "neues Jerusalem" aufzubauen und dafür Sorge zu tragen, dass die Freiheit nicht vom Erdboden verschwindet. Oder mit der Gründungsakte der Republik, in der erstmalig in der Weltgeschichte Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung als leitende Maximen staatlichen Handelns festgeschrieben wurden. Wenn der Historiker William E. Leuchtenburg von einem "quasi religiösen Glauben an Amerikas demokratische Mission" als einem überzeitlichen Phänomen spricht, so bezieht er sich auf das gemeinsame Dritte von Liberalismus und Exzeptionalismus – auf die unbedingte Überzeugung vom Gelingen des Experiments Amerika. Umgangssprachlich ausgedrückt: Failure is not an option.

Trotz alledem gehört eine angstbesetzte Schattenseite zu dieser Meistererzählung: die Dystopie vom ewigen Fremden oder unversöhnlichen Feind. Im Exzeptionalismus ist dieses Narrativ von vornherein ausbuchstabiert. Wer zum Vorbild berufen ist, so die Unterstellung, weckt den bösen Willen Anderer und wird umso verwundbarer, je erfolgreicher er ist. Und weil ausländische Neider und Hasser auf dem offenen Marktplatz der Ideen nicht bestehen können, verlegen sie sich auf die besonders hinterhältige Politik innerer Unterwanderung. Seit dem späten 19. Jahrhundert kommen derlei Ängste zunehmend als Zweifel an der Integrationskraft der Vereinigten Staaten zur Sprache. Wiewohl im liberalen Diskurs über "Rassenintegration" und Einwanderung die Vorstellung freiwilliger oder paternalistisch gesteuerter Assimilation stets präsent bleibt, kann von einem ungetrübt selbstbewussten Auftreten keine Rede sein. Im Gegenteil: "Nationale Sicherheit" gilt zunehmend als prekäres Gut, weil sich mit jeder Einwanderungswelle die Frage nach der Zuverlässigkeit der Fremden, nach ihrer Bereitschaft zur Anpassung, neu stellt – und weil auch dem Liberalismus die stereotype Zuschreibung innewohnt, dass bestimmte Ethnien zu diesen Anpassungsleistungen überhaupt nicht fähig sind. Das Selbstgespräch ist mithin ein Klagelied über unabänderliche Webfehler des liberalen Modells: Gerade wegen seiner Toleranz und Weltoffenheit setzt sich Amerika einem Belastungstest voller Unwägbarkeiten aus. Der Nährboden für hypertrophe Fantasien über Anfälligkeiten jedweder Art, über den Feind im Inneren zumal, könnte kaum fruchtbarer sein.

Posse Comitatus

Das Bemühen, reale Bedrohungen oder imaginierte Ängste zu bändigen, hat im Laufe der amerikanischen Geschichte einen besonderen Typus des Staatsbürgers hervorgebracht: den "Angstunternehmer". Gemeint sind Individuen, die sich alleine oder in Gruppen für die Belange "nationaler Sicherheit" engagieren – stets auf eigene Rechnung und jenseits etablierter Parteien, mit fließenden Übergängen von Selbstmobilisierung zur Selbstermächtigung. In den staatsfernen Räumen des jungen Amerika – von den schutzlosen Siedlungen in Neuengland bis zur frontier im Westen – war das Engagement des Einzelnen ein für das Überleben notwendiger Dienst an der Gemeinschaft. Dass mit dieser Pflicht zur Selbstverpflichtung auch die gegenseitige Kontrolle und Überwachung der Bürger untereinander gemeint war, nahm man anstandslos hin. Daraus bezogen die "Vigilanten", Sicherheitswächter im eigenen Auftrag, Legitimation und Renommee – obwohl sie Gefahren nicht nur eindämmten, sondern zum Erhalt ihrer Deutungsmacht die Angst vor der Gefahr auch am Köcheln hielten.

Der zur Gefahrenabwehr sich selbst ermächtigende Staatsbürger war seinem Selbstverständnis nach aber kein staatsferner Bürger. Er sprang in die Bresche, wenn die Umstände es erforderten; und er stellte sich in den Dienst des Staates, sobald dieser danach verlangte. Damit genügte er dem von England in die Neue Welt mitgeführten common law, das bekanntlich zweierlei verlangt: dass sich jeder Einzelne in Zeiten der Gefahr den lokalen Sicherheitskräften für Hilfsdienste zur Verfügung stellt und dass dergleichen Dienste vom Staat jederzeit in Anspruch genommen werden können. Das von Juristen sogenannte Prinzip des posse comitatus oder der possible force konnte sich auf Dauer behaupten und wurde 1791 in der amerikanischen Verfassung in Gestalt des zweiten Zusatzartikels verankert, welcher es der US-Regierung untersagt, das Recht auf privaten Waffenbesitz einzuschränken. Genau genommen benennt "the right to bear arms" nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zum Tragen von Waffen. An die Unerlässlichkeit eines wehrhaften Bürgerschutzes appellierten beispielsweise die ehemals konföderierten Staaten in den Chaosjahren 1874 bis 1876, als die reconstruction beendet war und eine Restauration der alten Ordnung begonnen hatte. Letztmals berief sich 1977 ein Sheriff in Aspen, Colorado auf posse comitatus und ernannte mit eigenen Waffen ausgestattete Bürger bei der Fahndung nach einem Massenmörder zu Stellvertretern. Beispiele dieser Art illustrieren den Kern der Geschichte: die auf zwei Schultern verteilte Wahrnehmung des Gewaltmonopols, die zum Prinzip erhobene Arbeitsteilung zwischen Staat und Bürgern bei der Herstellung innerer Sicherheit.

Das 20. Jahrhundert wurde zur großen Bühne von "Angstunternehmern" jeder Couleur. Sie traten als Wehrbürger und Nachbarschaftskontrolleure in Erscheinung, als Privatagenten und Denunzianten, als Rüstungslobbyisten und Militärexperten. So unterschiedlich ihr Auftreten auch war, gemeinsam teilten sie eine ins Maßlose übersteigerte Angst vor einem hausgemachten Scheitern Amerikas und das brennende Bedürfnis, den Feind im Inneren mit allen Mitteln zu bekämpfen. Mitte Juni 1916 fanden sie in Präsident Woodrow Wilson einen ihrer prominentesten Fürsprecher: "Illoyalität grassiert in den Vereinigten Staaten. Sie muss vollständig zerschlagen werden."

Von Wehrbürgern, Privatagenten und Denunzianten

Zwischen 1914 und 1941, vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum japanischen Überfall auf Pearl Harbor, galt Einwanderung mehr denn je als Synonym für die Bedrohung "nationaler Sicherheit". Den politischen Anlass hatten aus Europa eingeschleuste beziehungsweise eingewanderte Terroristen geliefert: Agenten im Auftrag der deutschen Regierung, die am 30. Juli 1916 auf Black Tom Island vor New York City ein mit 2000 Tonnen Sprengstoff gefülltes Munitionsdepot der US-Streitkräfte in die Luft jagten; Anarchisten, die auf die Repression gegen die International Workers of the World und anderer Gewerkschafter mit einem Mordkomplott reagierten und von April bis Juli 1919 36 Paketbomben an führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft verschickten sowie in sieben Städten insgesamt neun Bomben zündeten – glücklicherweise ohne Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen; und vermutlich wiederum Anarchisten oder Sozialisten, die am 16. September 1920 den schwersten Terroranschlag in den USA vor "9/11" verübten, als sie an der Wall Street einen Pferdewagen voller Dynamit in Brand steckten und 38 Passanten töteten sowie 400 verletzten.

Damit kehrte eine Urangst ins öffentliche Leben zurück, die bereits im 19. Jahrhundert für erbitterte Kontroversen gesorgt hatte: das Szenario politisch und sozial nicht integrierbarer Immigranten, illegal im Land lebender Unruhestifter und radikalisierter Bürger, die unter sozial entwurzelten Neuankömmlingen angeblich leichte Beute machten. National security wurde folgerichtig als Dreiklang buchstabiert: Soziale Disziplinierung, politische Homogenität, kulturelle Amerikanisierung. Unter diesem Schlachtruf versammelten sich seit 1914 diverse Bürgerorganisationen in ihrem Kampf für einen wehrhaften Staat: Die Army League, die Navy League, das Plattsburgh Movement, die National Security League, die American Protective League und nicht zuletzt der im November 1919 auf Schlachtfeldern in Frankreich gegründete Veteranenverband American Legion. Dass es um die Existenz der Nation ging, war aus ihrer Sicht keine propagandistische Taktik, sondern eine realitätsnahe Beschreibung zeitgenössischer Zustände.

Während des Ersten Weltkrieges verwandelte sich die weit verbreitete Unsicherheit in eine kollektive Hysterie. Hatten die staatsbürgerlichen Sicherheitsaktivisten anfänglich noch darauf gesetzt, die Heimatfront durch militärische Ausbildungslager für Freiwillige, sodann durch eine militärische Ausbildung aller Männer im wehrfähigen Alter unter Kontrolle halten zu können, so verschärfte man unter Führung der American Protective League alsbald die Gangart. "Verteidigungsräte" und "Patriotische Gesellschaften" übernahmen vielerorts die Aufgaben von Stadt- oder Regionalparlamenten und erließen Verordnungen mit Gesetzeskraft. "Feindliche Ausländer" oder alle, die man dafür hielt, mussten landesweit mit allem rechnen: Sie wurden in ungekannter Zahl denunziert, registriert, eingesperrt und deportiert, in aller Öffentlichkeit verprügelt, geteert, gefedert und bisweilen auch gelyncht. Als Justizminister Alexander Mitchell Palmer zur Reinigung des Landes "von diesem ausländischen Abschaum" aufrief und lautstark seine Hoffnung äußerte, "dass die amerikanischen Bürger für uns in einer riesigen Organisation als freiwillige Agenten tätig werden", waren diese Agenten längst unterwegs – nämlich in den Reihen der 300000 Mitglieder starken American Protective League, die regelrechte Suchtrupps losschickte, um Mitbürger auszuspionieren, Razzien gegen Sozialisten, Anarchisten und andere Verdächtige zu organisieren und Informationen an das Justizministerium sowie den im Aufbau befindlichen Inlandsgeheimdienst, das spätere FBI, weiterzugeben.

Dass sich das Phantasma "totaler Sicherheit" am Ende des Ersten Weltkrieges nicht erschöpft hatte, sondern auf Dauer konserviert wurde, geht auf die dauerhafte Kooperation zivilgesellschaftlicher Akteure mit staatlichen Funktionsträgern und Eliten zurück. Der Veteranenverband American Legion spielte dabei eine Schlüsselrolle und begründete seinen jahrzehntelang zutreffenden Ruf als einflussreichster "Angstunternehmer" der Vereinigten Staaten. Vernetzt mit einer Vielzahl von Clubs, Verbänden und Vereinigungen – von Handelskammern bis zu kirchlichen Organisationen –, sah die "Legion" die "Subversion im Inneren" als hauptsächliche Bedrohung "nationaler Sicherheit". Im Zuge ihrer Kampagne für "100 Prozent Amerikanismus" forderte sie einen kompletten Einwanderungsstopp für die Dauer von zehn Jahren, die Deportation illegaler Immigranten sowie die Säuberung aller Schulen und Universitäten von unzuverlässigem Lehrpersonal und anstößigem Schrifttum – und zwar mit Erfolg, wie zahlreiche Entlassungen und die von vielen Lehrern seither geforderten Loyalitätserklärungen belegen. Auch bei der Einrichtung eines auf staatsfeindliche Umtriebe spezialisierten Kongressausschusses im Jahr 1938, dem später legendären House Committee on Unamerican Activities, zählte die "Legion" zu den treibenden Kräften. Diese überbordende Energie bewog das FBI zu einer verstärkten Rekrutierung informeller Informanten aus den Reihen des Veteranenverbandes. 33000 waren es in den frühen 1940er Jahren, weit über 40000 im darauffolgenden Jahrzehnt.

So gesehen stand die Paranoia des Kalten Krieges schon auf Abruf bereit, ehe die Konfrontation mit dem neuen Feind überhaupt begonnen hatte. Der taktgebende Impuls war und blieb derselbe: Der Kommunismus ist im Grunde schwach, erst die Immunschwäche liberaler Demokratien macht ihn stark. Geändert hatte sich indes die Identität des Feindes im Inneren. Fortan ging es nicht mehr in erster Linie um ideologisch verseuchte Einwanderer, sondern um unzuverlässige Eliten. Gemeint waren fellow travelers aus Kultur und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft – Gelegenheitskommunisten also oder hinterlistige Verräter, die auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen waren. Als nicht minder verdächtig galten entscheidungsschwache, zögerliche und zu Kompromissen geneigte Diplomaten – ein Vorwand, der zehn Jahre lang für die Entlassung Hunderter Mitarbeiter des Außenministeriums herhalten musste, denen man homosexuelle Neigungen, Alkoholismus oder hedonistische Vorlieben andichtete. Dass die staatliche Überwachung seit den frühen 1950er Jahren auf die Spitze getrieben wurde, ist das Eine. Dass sie aber ohne die tätige Mithilfe "von unten" in dem heute dokumentierten Umfang kaum möglich gewesen wäre, ist das Andere. Der Informant konnte sich in diesem gesellschaftlichen Umfeld sicher sein, dass Bespitzelung und vorauseilende Weitergabe von Informationen jedweder Art den Status eines vorbildlichen Staatsbürgers beglaubigten. Ob bestimmte Hinweise tatsächlich von Wert waren oder nicht, blieb im Grunde zweitrangig. Was zählte, war der als staatsbürgerliche Pflicht geadelte Akt des Ausspionierens – und das damit verknüpfte Versprechen sozialer Aufwertung.

Eben darin liegt das Vermächtnis der "Angstunternehmer" aus der Zeit des Kalten Krieges – in der unhinterfragten Bereitschaft, den national security state grundsätzlich anzuerkennen und ihm zuzuarbeiten. Hatten wortmächtige Kritiker in den 1930er Jahren, unter ihnen auffallend viele Konservative, noch vor einer Aushöhlung demokratischer Fundamente durch wuchernde Sicherheitsapparate gewarnt, so verloren sich diese Einwände unter dem Eindruck jahrzehntelang wirkmächtiger Droh- und Angstkulissen. Womit nicht gesagt sein soll, dass es keine realen Bedrohungen gegeben hätte. Aber in erster Linie zahlt Amerika bis heute den Preis einer inflationären Angst, die in seiner kollektiven Imagination entstanden ist und noch immer mit Hingabe gepflegt wird. Unablässig auf der Suche nach Monstern, die es zu zerstören gilt, sind der politischen Klasse wie auch der Öffentlichkeit offenkundig die Maßstäbe abhandengekommen, zwischen Risiko, Bedrohung und Gefahr zu unterscheiden. Das aber ist die politische Lebensversicherung für den "nationalen Sicherheitsstaat" und eine carte blanche für seine Zuarbeiter.

Transatlantische Gemeinsamkeiten

Die jüngsten Erkenntnisse über das flächendeckende Abzapfen von Kommunikationsdaten jeder Art zeigt einmal mehr, dass Europa wenig Grund hat, die Sicherheitsobsession in den USA als nationalen Sonderweg zu stigmatisieren. Gewiss gibt es amerikanische Spezifika, die besonderen historischen Umständen geschuldet sind und folglich einzigartig bleiben werden. Und dennoch befindet man sich diesseits des Atlantiks längst im Modus der Annäherung, wenn nicht der Nachahmung. Allein ein Blick in die Tagespresse zeugt von der Dynamik. Britische Geheimdienste stehen mit ihrem "Tempora"-Programm der NSA in nichts nach, der Bundesnachrichtendienst raunt von der Notwendigkeit eines "Technikaufwuchsprogramms", der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft erklärt den Schutz vor Terror zum "wertvollsten Bürgerrecht" und das von der NSA generierte Projekt "Prism" zum "Modell für Deutschland" und Europa. Und die Bundesregierung spielt das Problem nach Kräften herunter: "Wir müssen aktionsfähig bleiben" (Angela Merkel) – "Es (gibt) größere Bedrohungen für unsere Sicherheit als den amerikanischen Nachrichtendienst" (Wolfgang Schäuble).

Offenkundig hat das Denken in den Kategorien der Prävention auch in Europa seinen Siegeszug angetreten. Gemeint ist eine normative Zeitenwende, die traditionelle Maximen von Rechtsstaatlichkeit ebenso zur Disposition stellt wie konventionelle Vorstellungen über Aktion und Reaktion. Sobald man sich mit der Vision umfassender Sicherheit angefreundet hat, klingt der Grundsatz, erst im Nachgang einer Straftat die Ermittlungen aufzunehmen, in der Tat antiquiert. Wer nämlich danach strebt, dass Verbrechen – Terrorakte zumal – erst gar nicht begangen werden, plädiert für die Aufdeckung und Ahndung im Vorwege. Soll heißen: Ermittler nehmen auch ohne konkreten Verdacht ihre Tätigkeit auf, sie benötigen weder schlüssige Vermutungen noch tatsächliche Anhaltspunkte für eine Bedrohung. Die Frage ist nicht, ob oder wie wahrscheinlich ein Szenario ist; dass es potenziell vorstellbar ist und im Lichte vergangener Ereignisse nicht völlig abwegig erscheint, gibt den Ausschlag. Unter diesen Voraussetzungen wiegen die Risiken des Nichthandelns allemal schwerer als die Folgekosten einer vorzeitigen Intervention. In den Worten des amerikanischen Soziologen Cass Sunstein: "Nur oder vor allem dem schlimmstmöglichen Fall wird Beachtung geschenkt, selbst wenn dieser höchst unwahrscheinlich ist. (…) Das Vorsorgeprinzip (scheint) nur deswegen Orientierung zu bieten, weil die Frage der Wahrscheinlichkeit vernachlässigt wird." Darum dreht sich die politische Mobilisierung wider die Angst, die immer auch eine Selbstmobilisierung verängstigter Subjekte ist.

Im Zeichen eines vorbeugenden Bekämpfungsrechts sind die Fahndungsräume für imaginierte, fantasierte und konstruierte Gefahren jeder Art per definitionem unbegrenzt, im Prinzip kann und muss jederzeit gegen jedermann ermittelt werden. Wer aber die Unschuldsvermutung gegenüber einzelnen durch einen Generalverdacht gegen alle ersetzt, wer Personen nach Überzeugungen und Gesinnungen statt nach ihren Taten beurteilt und von Beschuldigten den Beweis ihrer Unschuld erwartet, verabschiedet sich von einer konstitutiven Prämisse des Rechtsstaates: dass der Staat fehlerhaft handeln kann und daher das Risiko eingehen muss, eher zehn Schuldige aus Mangel an Beweisen freizusprechen als einen Unschuldigen einzusperren. Ob der uralte Menschheitstraum von einer Welt ohne Gewalt dabei den Ausschlag gibt oder ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaates in Zeiten des Notstandes, sei dahingestellt. In jedem Fall ebnet die antagonistische Entgegensetzung von Freiheit und Sicherheit einem maßlosen Streben nach Prävention die Bahn.

Mission Creep

Nicht zuletzt klingt auch die politische Selbstnarkotisierung vieler Europäer vertraut amerikanisch: "Wir haben nichts zu verbergen." Dass sich die Suchkriterien staatlicher Fahnder jederzeit ändern können und darum morgen verdächtigt wird, wer heute noch unauffällig lebt, ist ein naheliegender, aber kein hinreichender Einwand. Zu kritisieren ist vielmehr die selbst verordnete Ignoranz gegenüber der Eigendynamik eines "nationalen Sicherheitsstaates". Was auf dem Terrain der Terrorbekämpfung ins Werk gesetzt wird, so eine weitere transatlantische Erfahrung, ist in der Regel nicht nur irreversibel; es neigt auch zu unkontrollierter Ausdehnung. Mission creep heißt dieses Phänomen im Amerikanischen. Man könnte von einer infektiösen Eigendynamik sprechen, von einer schwer zu kontrollierenden Übertragung auf alle möglichen Problemfelder. Vorbeugende Überwachungen bieten sich auch zur Bekämpfung von Bandenkriminalität und organisiertem Verbrechen an, verschärfte Ausweisvorschriften können problemlos auf Ausländergesetze und Einwanderungsbestimmungen übertragen werden. Wer als Politiker dennoch auf Korrekturen besteht, setzt sich im Falle eines neuerlichen Anschlags dem Vorwurf unterlassener Vorsorge aus und riskiert die politische Karriere.

Davon abgesehen sind die Interessen von Geheimdiensten und anderen Sicherheitsapparaten erfahrungsgemäß nur mit hohem Aufwand zu bändigen. Aus Furcht um die eigene Legitimität, wenn nicht Existenz neigen derlei Institutionen strukturell zu einer Konservierung des Ausnahmezustands – oder, anders gesagt: zu einer überdehnten Interpretation der ihnen gewährten Kompetenzen und zur Schaffung weiträumiger Grauzonen. Mit dem Ergebnis, dass Vorschriften zur ministeriellen oder parlamentarischen Kontrolle selten den Praxistest bestehen. Von diesen "strukturell unstillbaren Sicherheitsbedürfnissen" handelt die Klage über den schrittweisen Ausbau des Präventionsstaates, darauf bezieht sich die Kritik an der Mentalität und am Auftreten von "Angstunternehmern" – nicht nur in den USA.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Steven Bradbury, zit. nach: Nicolas Richter, Das neue Gold des US-Geheimdienstes, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 22./23.6.2013, S. 8; vgl. Bernd Greiner, 9/11: Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011, S. 228ff.

  2. Vgl. Matthias Rüb, Eine Truppe von mehr als 850000 Mann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.6.2013, S. 2.

  3. Vier Bundesgesetze, mit denen dem Präsidenten unter anderem weitreichende Befugnisse zum Vorgehen (Verhaften, Abschieben) gegen Ausländer eingeräumt wurden (Anm. d. Red.).

  4. Vgl. Peter N. Stearns, American Fear. The Causes and Consequences of High Anxiety, Hoboken, NJ 2006.

  5. Vgl. William E. Leuchtenburg, Progressivism and Imperialism: The Progressive Movement and American Foreign Policy, 1898–1916, in: The Mississippi Valley Historical Review, 39 (1952) 3, S. 483–504, hier: S. 500.

  6. Vgl. Lane Crothers, The Cultural Roots of Isolationism and Internationalism in American Foreign Policy, in: Journal of Transatlantic Studies, 9 (2011) 1, S. 21–34, hier S. 24; Stuart Creighton Miller, Benevolent Assimilation. The American Conquest of the Philippines, 1899–1903, New Haven 1982, S. 123–126, S. 137; Michael Patrick Cullinane, Liberty and American Anti-Imperialism, 1898–1909, New York 2012, S. 115–150.

  7. Vgl. Christopher Capozzola, Uncle Sam Wants You. World War I and the Making of the Modern American Citizen, Oxford 2008, S. 119.

  8. Vgl. ebd., S. 117–143, S. 207–214.

  9. Woodrow Wilson, Rede bei einer Parade am 14.6.1916 in Washington, DC, zit. nach: Justus D. Doenecke, Nothing Less Than War. A New History of America’s Entry into World War I, Lexington 2011.

  10. Vgl. W.E. Leuchtenburg (Anm. 5), S. 496.

  11. Alexander Mitchell Palmer, zit. nach: Tim Weiner, FBI. Die wahre Geschichte einer legendären Organisation, Frankfurt/M. 2012, S. 61.

  12. Vgl. ebd., S. 36. Zur Repression "feindlicher Ausländer" vgl. auch Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. "Feindliche Ausländer" und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs, Hamburg 2000, S. 354ff., S. 365, S. 392, S. 405, S. 413, S. 427ff.

  13. Vgl. William Pencak, For God and Country. The American Legion, 1919–1941, Boston 1989, S. 265, S. 277.

  14. Vgl. Eric Paul Roorda, McCarthyite in Camelot: The ‚Loss‘ of Cuba, Homophobia, and the Otto Otepka Scandal in the Kennedy State Department, in: Diplomatic History, 31 (2007) 4, S. 723–754, hier: S. 728, S. 751.

  15. Vgl. Olaf Stieglitz, Undercover. Die Kultur der Denunziation in den USA, Frankfurt/M. 2013.

  16. Vgl. Ira Chernus, Monsters to Destroy: The Neoconservative War on Terror and Sin, Boulder, CO 2006; sowie P. Stearns (Anm. 4), S. 188–191.

  17. Rainer Wendt zit. nach: Sascha Lobo, Das Recht, vor dem die anderen verblassen, 11.6.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/-a-904982.html (1.7.2013); Angela Merkel zit. nach: Merkel verteidigt Überwachungspläne, 17.6.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-906212.html (1.7.2013); Wolfgang Schäuble zit. nach: Der Tagesspiegel vom 7.7.2013, S. 3.

  18. Cass Sunstein, Gesetze der Angst: Jenseits des Vorsorgeprinzips, Frankfurt/M. 2007, S. 56 und S. 63. Vgl. ebd., S. 14, S. 62, S. 98 und S. 103ff.

  19. Vgl. Heribert Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht, München 2008, S. 118, S. 143–147; Stephan Büsching, Rechtsstaat und Terrorismus. Untersuchung der sicherheitspolitischen Reaktionen der USA, Deutschlands und Großbritanniens auf den internationalen Terrorismus, Frankfurt/M. 2010, S. 135ff.; Anna Oehmichen, Terrorism and Anti-Terror Legislation: The Terrorized Legislator? A Comparison of Counter-Terror Legislation and Its Implications on Human Rights in the Legal Systems of the United Kingdom, Spain, Germany and France, Antwerpen 2009, S. 347–352; Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, Berlin 2009.

  20. W. Hassemer (Anm. 19), S. 8. Vgl. B. Greiner (Anm. 1), S. 234ff.; Jörg Häntzschel, Süchtig nach Angst, in: SZ vom 22./23.6.2013, S. 15.

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Prof. Dr. phil., geb. 1952; Historiker, Amerikanist und Politologe; Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg und dem Hamburger Institut für Sozialforschung, Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg (Externer Link: www.berlinerkolleg.com ). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewalt, zur US-amerikanischen Geschichte und zu internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Darunter: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans (1995); A. World at Total War (hg. zusammen mit Roger Chickering und Stig Förster, 2003); Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam (2007); Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg (2010); 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen (2011) sowie seit 2006 Herausgeber (zusammen mit Christian Th. Müller, Tim B. Müller, Dierk Walter und Claudia Weber) einer sechsbändigen Reihe "Studien zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges". E-Mail Link: bernd.greiner@his-online.de