Geschichte als Instrument: Variationen über ein schwieriges Thema
Einflussnahme und Zwang
Neben der Unterscheidung von Original und Fälschung bietet die Entgegensetzung von Zwang und Freiheit eine hilfreiche Orientierung, um Geschichte als Instrument fassbar zu machen. Dazu zählt in erster Linie die Unterdrückung oder Verzerrung historischer Erkenntnisse im öffentlichen Raum und in der Fachwissenschaft selbst. Die fortgesetzte Leugnung oder Marginalisierung des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei während des Ersten Weltkriegs liefert hier ein prominentes Beispiel. Nicht anders in Deutschland, wo zur staatlichen Kontrolle der Kriegsschulddebatte in der Weimarer Republik eigens ein Kriegsschuldreferat geschaffen wurde, das die Arbeit eines zur Klärung der Schuldfrage eingesetzten Untersuchungsausschusses des Deutschen Reichstags lenkte. Mit Blick auf die deutsche Verhandlungsposition gegenüber den Alliierten verhinderte es zudem eine geplante Aktenpublikation sowie die Veröffentlichung des im Parlamentsausschuss erstatteten Gutachtens, mit dem Hermann Kantorowicz die Kriegsunschuldslegende zerstört hatte.[1]Auch die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik kennt herausragende Fälle politischer Einflussnahme auf ihre Arbeit. Dies gilt namentlich für das vom Bundesvertriebenenministerium initiierte und finanzierte Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", das in den 1950er Jahren in starke Spannung zu den Interessen erst der Vertriebenenverbände und dann der Bundesregierung selbst geriet. Je mehr die Arbeit an der Dokumentation aus der fachlichen Eigenlogik heraus drängte, "den Vertreibungsvorgang in einen großen geschichtlichen Rahmen (zu) stellen" und somit in die Gesamtgeschichte der ethnischen Flurbereinigung des 19. und 20. Jahrhunderts einschließlich der nationalsozialistischen Volkstumspolitik einzubetten, desto mehr fürchtete der politische Auftraggeber, statt der gewünschten geschichtspolitischen Waffe der Anklage einen "Entschuldigungszettel" finanziert zu haben, der die Einmaligkeit der Deutschenvertreibung relativieren könnte. Ein geplanter Ergebnisband kam nicht zustande, nachdem der zuständige Staatssekretär die Publikation nach Lektüre der bereits verfassten Teile als "politischen Selbstmord" für sein Haus bezeichnet hatte.[2]
Geschichtspolitische Eingriffe in die Fachautonomie gingen auch vom Auswärtigen Amt aus. In der zu Beginn der 1960er Jahre wieder aufflammenden Frage nach der deutschen Schuld am Weltkriegsausbruch 1914 versuchte das Auswärtige Amt – am Ende vergeblich – eine Vortragsreise des engagierten Verfechters der Kriegsschuldthese Fritz Fischer in die USA zu verhindern. Auch in der Auseinandersetzung mit der untergegangenen SED-Diktatur ereigneten sich in den vergangenen Jahren im Hintergrund heftige Rangeleien, die bis in die angemessene Platzierung von Politikerzitaten an einzelnen Ausstellungsorten der Berliner Gedenklandschaft reichten.
Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand stand in den 1990er Jahren immer wieder unter heftigem politischem Druck, die Bilder von Repräsentanten des kommunistischen Widerstands wie Ulbricht und Pieck zu entfernen und das kommunistisch beherrschte Nationalkomitee Freies Deutschland aus der Würdigung des Widerstands auszuklammern.[3] Das Deutsche Historische Museum tauschte 2009 Zeitungsberichten zufolge in der Ausstellung "Fremde? Bilder von den ‚Anderen‘ in Deutschland und Frankreich seit 1871" auf Verlangen des Bundeskulturbeauftragten eine Tafel, die sich kritisch mit der Flüchtlingspolitik der EU auseinandersetzte, gegen einen unverfänglichen Text aus, der die erfolgreiche Integration von Zuwanderern in Deutschland lobte.[4]
Freiwillige Selbstinstrumentalisierung
Nicht immer geht es dabei nur um die Verletzung der Fachautonomie durch wissenschaftsfremden Eingriff; manches Mal macht die Historie sich durchaus auch selbst zum Instrument politischer Absichten. Schon der als preußischer Hofnarr berüchtigte und als brandenburgischer Landeshistoriker bedeutende Jacob Paul von Gundling beschwor seinen Landesherrn, den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., seine 1708 fertiggestellte Biografie des Großen Kurfürsten aus außenpolitischen Rücksichten nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen: "Ich kann nicht läugnen, es sind allhier unterschiedliche Geheime Sachen, deswegen diese Schrifft nicht kan gedrucket werden, sonderlich in denjenigen Dingen, so Schweden, Dännemarck, Polen und den Kayser angehen, dannenhero diese Schrifft einstens wol in acht genommen werden muß."[5]Auf der gleichen Linie bewegte sich die gelenkte Geschichtswissenschaft der sozialistischen Länder. Sie erhob den politischen Eingriff in den Gang der Wissenschaft gleichsam zum System, wenngleich der historische Herrschaftsdiskurs diese Einvernahme mit der Doktrin der Einheit von Parteilichkeit und Objektivität zum Ausweis von Wissenschaftlichkeit selbst erklärte und in ihrer Anstößigkeit weit weniger häufig aufscheinen ließ, als dies aus der Außenperspektive zu vermuten wäre. Besonders eklatante Beispiele einer verfälschenden Vereinnahmung bietet dabei insbesondere die SED-Parteigeschichtsschreibung, in der sich die politische Macht unverhüllt zur Geltung brachte: Walter Ulbricht selbst fungierte als Vorsitzender des Autorenkollektivs, das die historische Meistererzählung des Sozialismus schrieb und über den Charakter der Novemberrevolution 1918 ebenso autoritativ entschied wie über die Rolle der KPD im antifaschistischen Widerstand oder die Etappen der DDR-Geschichte.
Wie ungeniert gerade im Hinblick auf die Parteigeschichtsschreibung die historische Erkenntnis dem politischen Interesse unterworfen wurde, lehrt genauso etwa der parteiamtliche Umgang mit den Briefen und Kassibern, die Ernst Thälmann in den elf Jahren seiner nationalsozialistischen Haft verfasst hatte: Als 1950 ein umfängliches autobiografisches Schreiben des bis zu seiner Ermordung 1944 eingekerkerten Parteiführers auftauchte, besorgte Ulbricht eigenhändig die redaktionelle Einpassung des im "Neuen Deutschland" abgedruckten Lebenszeugnisses in den antifaschistischen Heldenmythos, damit es "Ernst Thälmann trotz Kerkerhaft als unbeugsamen Kämpfer und gleichzeitig auch von einer starken menschlichen Seite zeigt".[6] Und als 15 Jahre später das Institut für Marxismus-Leninismus (IML) sich anschickte, eine größere Auswahl der Briefe Ernst Thälmanns zu publizieren, listete es in einer Mitteilung an Ulbricht nicht nur die erfolgten Streichungen (etwa zur Rolle Stalins) und "redaktionellen Veränderungen" auf, sondern sperrte auch im gleichen Zug die im Parteiarchiv liegenden Originale, damit niemand den Editionsbetrug durch einfachen Textvergleich aufdecken könne.[7] Doch auch an der fachlich ungleich besser angesehenen Akademie der Wissenschaften regierte jedenfalls im Konfliktfall häufig das Opportunitätsparadigma, wenn etwa der Direktor des Zentralinstituts für Geschichte noch 1986 autoritativ feststellte: "Übereinstimmung mit Parteigeschichte muß gewahrt bleiben. Wenn Parteiführung Entscheidung trifft, ist sie durchzuführen, auch wenn es uns nicht in allen Punkten gefallen sollte."[8]
Freilich kannte und kennt auch die nicht diktatorisch beherrschte deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert das Phänomen der Selbstinstrumentalisierung. So argumentierte der konservative Historiker Gerhard Ritter vor allem politisch, als er 1931 den mit einer marxistisch inspirierten Studie zum Wilhelminischen Imperialismus und seinem Schlachtflottenbau hervorgetretenen Eckart Kehr als einen "für unsere Historie ganz gefährlichen 'Edelbolschewisten'" ausgrenzte, der sich "lieber gleich in Rußland als in Königsberg habilitieren" solle.[9] Nicht anders verfuhr auch der linksliberale Historiker Hans Mommsen, als er sich 1962 als Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) dafür einsetzte, dass ein vom IfZ in Auftrag gegebener Artikel von Hans Schneider zum Reichstagsbrand von 1933, der sich gegen die auch von Mommsen selbst vertretene Alleintäterschaftsthese richtete, nicht zur Publikation gelangte. Mommsen hielt in einer Aktennotiz fest, dass "aus allgemeinpolitischen Gründen" eine Publikation "unerwünscht zu sein scheint", und ventilierte darüber hinaus die Möglichkeit, auch eine anderweitige Veröffentlichung der Studie "durch Druck auf Schneider" zu verhindern.[10]
Wandel der Geschichtskultur
Doch dies blieben in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach bisherigem Kenntnisstand bloße Einzelfälle. Historische Instrumentalisierung in dem vorgestellten Sinn stellt im Selbstverständnis unserer Zeit hierzulande keine herausragende fachwissenschaftliche Bedrohung mehr dar, sondern grassiert vornehmlich in Ländern mit schwächeren demokratischen Traditionen. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die 2006 vom iranischen Außenministerium veranstaltete "Holocaust-Konferenz" in Teheran, die in pseudo-wissenschaftlicher Verbrämung antisemitische Hetze betrieb und zur Leugnung der Shoah aufrief. Zu wach ist dagegen hierzulande die Öffentlichkeit, zu stark die Macht der Medien, zu plural der fachliche Diskurs, als dass eine allzu grobe politische Indienstnahme der Geschichte vorstellbar wäre. So kannten, um nur ein Beispiel zu nennen, die Enquetekommissionen des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zwar parteipolitische Deutungslager, aber sie unterdrückten weder abweichende Voten, noch suchten sie die Abfassung der von ihnen bestellten Fachexpertisen zu beeinflussen.Gewiss: Die nach 1989 ausgetragenen Kabalen um die Besetzung von Leitungsposten im Bereich der politischen Bildung und der Gedenkstättenarbeit, aber auch einiger außeruniversitärer Zeitgeschichtseinrichtungen wie dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung künden in Fülle von der so ungenierten wie unheilvollen Einmischung politischer Instanzen. Aber alle Bemühungen um eine politisch lancierte Verhinderung historischer Arbeit und Unterdrückung gewonnener Erkenntnis haben in der bundesdeutschen Fachkultur mit ihrem System der selbstgesteuerten Forschungsförderung, der akademischen Forschungsfreiheit und der innerfachlichen Selbstbeobachtung gegenwärtig doch eher geringe Durchsetzungschancen. Der gewachsene Respekt der Politik vor der Autonomie der historischen Forschung resultiert weniger aus der gewachsenen Macht der akademischen Fachwissenschaft – die im Gegenteil ihr über lange Zeit behauptetes Deutungsmonopol längst mit den unterschiedlichen Akteuren, Formaten und Medien des Geschichtsdiskurses teilen lernen musste. Die bereitwillige Aufnahme auch belastender Forschungsergebnisse folgt vielmehr vor allem dem paradigmatischen Wandel der deutschen Geschichtskultur, die sich von einer mimetischen Traditionspflege hin zu einer kathartischen Aufarbeitungsbereitschaft gewandelt und in der Anerkennung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs ihren nationalen Grundkonsens gefunden hat.
Wie es scheint, hat sich das seit den 1960er Jahren gegen den anfänglichen Schweigekonsens der deutschen Mehrheitsgesellschaft anrennende Projekt der zeithistorischen Aufklärung über eine heillose Vergangenheit kraftvoll durchgesetzt. Der Wille zur historischen Offenlegung ist noch in der Bonner Republik erfolgreich gegen alle Schlussstrichforderungen angegangen, er hat mit Hilfe der aufkommenden Zeitzeugen, der massenmedialen Thematisierung und der akademischen Forschung den zunächst übermächtigen Wunsch nach historischer Selbstversöhnung und Schuldentlastung gebrochen, und er hat den in der Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung Mitte der 1990er Jahre zum letzten Mal machtvoll aufgeflammten Vorwurf der nationalen Nestbeschmutzung endgültig hinter die Grenzen des gesellschaftlich ungestraft Sagbaren verbannt.
Die Bereitschaft zur schonungslosen Auseinandersetzung mit dem noch kein Menschenalter zurückliegenden Grauen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs trägt der vereinigten Bundesrepublik weltweit Anerkennung ein. Noch auf der anderen Seite der Weltkugel, wie etwa in Kapstadt, haben sich der Auseinandersetzung mit dem deutschen Völkermord gewidmete Lernorte als nicht zuletzt von der Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes gern genutzte Foren der kulturellen Begegnung etabliert – das Holocaust Centre gleichsam als moderne Form der Goethe-Gemeinde, wie sie Friedrich Meinecke nach dem Zweiten Weltkrieg als Mittel einer geistigen Erneuerung nach der "deutschen Katastrophe" hatte initiieren wollen.