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Ethik in der Technikfolgenabschätzung | Technik, Folgen, Abschätzung | bpb.de

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Ethik in der Technikfolgenabschätzung Vier unverzichtbare Funktionen

Christiane Woopen Marcel Mertz

/ 17 Minuten zu lesen

Technikfolgenabschätzung hat notwendigerweise auch etwas mit Werten und Normen zu tun. Ethik erfüllt in Abschätzungsprozessen vier wichtige Funktionen: Legitimierung, Konzipierung, Evaluation und Normenbegründung.

Kaum jemand, der in der Technikfolgenabschätzung (TA) tätig ist, und kaum eine Institution der TA stellen infrage, dass Ethik in der TA unverzichtbar sei. Im Gegenteil wird zumeist betont, dass TA notwendigerweise etwas mit Werten und Normen zu tun habe, diese konstitutiv für TA und nicht etwa nur ein Zusatz seien. So stellt der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) in seiner Richtlinie zur Technikbewertung heraus, dass das Ziel allen technischen Handelns die Sicherung und Verbesserung menschlicher Lebensmöglichkeiten sei und diese mit Werten wie "insbesondere Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität" verbunden seien. Er widmet den Ausführungen über die Werte mehr als ein Drittel seiner Richtlinie. In einer Umfrage des International Network for Agencies for Health Technologies 2003 antworteten rund 80 Prozent der befragten HTA-Institute (HTA = Health Technology Assessment), dass die Berücksichtigung ethischer Aspekte ein integraler Teil ihrer Arbeit sei. In einer neueren Befragung von Autorinnen und Autoren, die über HTA im "International Journal of Technology Assessment in Health Care" zwischen 2005 und 2007 geschrieben hatten, stimmten rund 58 Prozent (von 104 der 636 Angeschriebenen) zu, dass die Analyse ethischer Aspekte integraler Teil einer HTA sein sollte; rund 61 Prozent waren zudem der Meinung, dass wenigstens einer der beteiligten HTA-Mitarbeitenden auch eine formale Ausbildung in Ethik aufweisen sollte.

Dem Anspruch, die Analyse und Bewertung ethischer Aspekte als integralen Teil von HTA zu sehen, wird jedoch seit Jahrzehnten kaum entsprochen. Vielmehr stehen ökonomische Bewertungen sowie Aspekte der Sicherheit und Wirksamkeit im Vordergrund. Wo in HTA dennoch ethische Analysen enthalten sind, beziehen sich diese vorwiegend auf Probleme möglicher Folgen der Technikanwendung, zeichnen sich durch geringe Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand ethischer Theorie und Praxis aus und berücksichtigen nur selten die Perspektiven verschiedener "Stakeholder", insbesondere derjenigen, die von den möglichen Folgen einer Technologie unmittelbar betroffen sind. Die Unsicherheit im Umgang mit Ethik in der TA kommt nicht zuletzt in einer oft anzutreffenden Unterscheidung zwischen einer angeblich wertfreien (empirischen) Technikfolgenforschung und einer wertgebundenen (normativen) Technikbewertung zum Ausdruck.

Wenn Ethikerinnern und Ethiker bei TA beteiligt sind, ist bislang selten klar, in welcher Weise sie etwas beitragen oder beitragen sollen. Diese Schwierigkeit der systematischen Berücksichtigung von Ethik zeigt sich bereits darin, dass es bislang keine allseits akzeptierte methodische Vorgehensweise gibt, wie ethische Analysen in der TA vorgenommen werden sollen. Methoden für die Identifizierung und Beurteilung von ethischen Implikationen von Technologien sind eher unterentwickelt, vergleicht man sie mit anderen Bereichen von TA. Es existieren daher verschiedene Vorschläge, wie ethische Aspekte berücksichtigt werden können – je nach Ressourcen der TA-Institution, der zu bewertenden Technologie und der übergreifenden Methodologie der TA. Es handelt sich bei diesen Vorschlägen allerdings zumeist um Fragenkataloge, die theoretisch unterbestimmt und nicht systematisch zugeordnet sind.

Vor diesem Hintergrund wird hier der Versuch unternommen, anhand von vier Funktionen der Ethik im Rahmen der Institutionalisierung und Umsetzung von TA ihren systematischen Ort zu bestimmen. Dadurch soll eine Grundlage dafür geschaffen werden, ethische Expertise als integralen Bestandteil jeden TA-Prozesses ausdrücklich einbringen zu können. Dabei wird nicht zwischen der allgemeinen TA und der HTA unterschieden, da dies für die grundsätzliche Analyse des Zusammenhangs von Ethik und TA keinen wesentlichen Unterschied macht. Der Begriff TA umfasst hier auch die über eine reine Folgenabschätzung hinaus gehende Technikbewertung.

Legitimierungsfunktion

Die Geschichte der Ethik als einer philosophischen und später auch theologischen Disziplin reicht mit ihren Vorläufern bis in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurück. Spätestens seit Sokrates (469–399 v. Chr.), dessen Wirken uns durch seinen Schüler Platon übermittelt ist, fragt die Philosophie danach, wie der Mensch leben soll, um ein gutes Leben zu führen. Daraus wurde das systematische Nachdenken über das moralisch Gute, Richtige und Gerechte, aus dem sich über die Jahrtausende unterschiedliche Theorien und Methoden entwickelten.

Die Geschichte der TA ist dagegen deutlich jünger. Begriff wie auch Sache entstanden in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten. Ein zuvor breit geteilter Fortschrittsoptimismus wurde angesichts von nicht mehr zu ignorierenden Umweltproblemen und militärtechnologischen Entwicklungen wie vor allem der Atomwaffen durch eine zunehmende Technikkritik abgelöst. TA sollte prospektiv die zukünftigen Folgen der Entwicklung, Anwendung und Verbreitung von Technologien auf die natürliche Umwelt, die menschliche Gesundheit und auf gesellschaftliche Strukturen und Kulturen analysieren, prognostizieren und bewerten. TA wurde dabei auf Nachfrage der Politik entwickelt, um diese und die Gesellschaft insgesamt in den Orientierungskrisen, die sich durch unerwartete und schädliche Folgen ergaben, zu informieren und zu beraten; sie war keine Eigeninitiative der Wissenschaft. In den 1970er Jahren entstanden, am US-amerikanischen Vorbild orientiert, unterschiedliche Modelle der TA in Europa, der sich Gründungen von TA-Instituten anschlossen: in Deutschland beispielsweise 1990 das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB).

Die Relevanz von TA ist dabei in den vergangenen fünf Jahrzehnten nicht geringer geworden. Im Gegenteil hat die zunehmende Technikabhängigkeit von Industrie- und Wissensgesellschaften Entscheidungs- und Orientierungsprobleme verschärft, sodass TA als eine "Antwort (…) auf die durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt virulent gewordenen Ambivalenzen und Spannungen" angesehen werden kann. Diese Spannungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass eine Asymmetrie zwischen Entscheidern und Betroffenen besteht, wobei die Entscheider oft die Gewinner technischer Innovation zu sein scheinen, die Betroffenen die Verlierer. Zudem wird von einem Demokratieverlust durch technische Innovation gesprochen: Technik kann demokratische Strukturen unterlaufen, und ihre Entwicklung entzieht sich einer demokratischen Steuerung. Hier wird TA zu einem Instrument der Demokratisierung von Technikentwicklung und gezielter Technikgestaltung – ein Instrument, das zu Beginn vor allem als ein Instrument der Frühwarnung vor möglichen unerwünschten Folgen verstanden wurde, heute aber mehr als ein Instrument der Beratung dient, welches (idealerweise) erlaubt, von vornherein positive Effekte der Technik zu fördern und negative Folgen zu verhindern. "Sie ist damit befasst, das erforderliche Wissen verfügbar zu machen, die normativen Orientierungen zu reflektieren, politische Handlungsoptionen zu entwickeln und auch Wege zum Umgang mit der Unvollständigkeit und Unsicherheit des Wissens zu erarbeiten."

Mit der Reflexion normativer Orientierungen im moralischen Sinne beschäftigt sich die Ethik. Jedoch hatten Überlegungen zu moralischen Problemen und deren Lösungen ab etwa den 1920er Jahren mit dem Aufkommen des Logischen Positivismus und der Metaethik als einer Reflexion über Ethik ein Ende gefunden. Es wurde als unwissenschaftlich beziehungsweise als unphilosophisch betrachtet, normativ zu moralischen Problemen Stellung zu nehmen. Erst durch die moralischen Herausforderungen, vor die uns moderne Technik unter anderem in der Medizin gestellt hat, und durch einen artikulierten Bedarf an Orientierung hinsichtlich dieser Herausforderungen, differenzierte sich ab den 1970er Jahren – wieder zunächst in den USA – zunehmend eine "Angewandte Ethik" mit den "Vorreitern" Medizin- und Bioethik sowie Umweltethik aus, die Lösungsangebote für moralische Probleme entwickeln will. Diese Entwicklung steht in einem komplexen Wechselspiel mit der zunehmenden Institutionalisierung von Ethikberatung in Kommissionen und anderen individuellen, institutionellen und zum Teil politischen Beratungsformen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die technischen Entwicklungen vor allem der 1950er und 1960er Jahre mit ihren gesellschaftlichen und ökologischen, dadurch moralischen Herausforderungen und Konflikten zur Entwicklung sowohl der TA als auch des erneuten Anwendungsbezugs der Ethik geführt haben. Moralische Gefährdungen und der Wunsch nach ethisch fundierter und normativ verankerter Orientierung waren mithin die Motoren der TA. Hierin besteht historisch wie inhaltlich die konstitutive Legitimierungsfunktion der Ethik für die Institutionalisierung von TA. Gleichzeitig ergibt sich daraus eine Legitimierungsfunktion auch für die Gestaltung der TA.

Konzipierungsfunktion

Aus dieser Legitimierung ergibt sich notwendigerweise eine Aufgabe der Ethik auch für die Konzipierung von TA-Projekten. Sie bezieht sich auf die Auswahl und Priorisierung der zu untersuchenden Technologien, die formale Gestaltung des Prozesses der TA sowie die Folgen, die im Zentrum der Untersuchung stehen.

Die Auswahl derjenigen Technologie, die einer Bewertung unterzogen werden soll, hängt davon ab, welche Implikationen zum Beispiel eine Gesellschaft oder eine bestimmte Gruppe für die Frage eines guten individuellen und gesellschaftlichen Lebens für besonders relevant hält. Sind es zum Beispiel Umweltgefährdungen, Sicherheitsrisiken oder die Gesundheit der Bevölkerung, die im Vordergrund stehen? Da die Ressourcen der TA nicht für alle Themen ausreichen, muss es zu Priorisierungen kommen, die auf Präferenzen beruhen. Diese Präferenzen, seien sie ökonomischer, politischer oder anderer Art, beruhen notwendigerweise auf Abwägungen, die moralischer Natur sind, da TA letztlich Werte wie Gesundheit, Leben, Wohlergehen, Sicherheit, Gerechtigkeit oder den Einsatz knapper Ressourcen in den Blick nimmt. Vor diesem Hintergrund nehmen auch die bisher entwickelten Fragenkataloge zur Einbindung der Ethik in die TA berechtigterweise regelmäßig die Frage auf, mit welchen Gründen die zu untersuchende Technologie ausgewählt wurde.

Der formale Prozess der TA wird charakterisiert durch den Ablauf der einzelnen Schritte sowie die Auswahl der zu verwendenden Methoden einschließlich der damit verbundenen Beteiligung bestimmter Personen und Institutionen. Hierbei ist auch zu entscheiden, wer welche kurz- und längerfristigen Risiken in Kauf zu nehmen und Konsequenzen zu akzeptieren hat. Doch wer entscheidet hier – sollen das die Expertinnen und Experten der TA-Projekte tun oder auch die möglicherweise Betroffenen? Im Sinne einer partizipativen TA sollten die Betroffenen stärker berücksichtigt werden – und zwar nicht nur in Form quantitativ oder qualitativ erfasster Meinungen, sondern durch Mitgestaltungsmöglichkeiten am TA-Prozess, um Lösungen zu erzielen, die allseits akzeptabel sind. Nur in solchen "interaktiven" Prozessen können einerseits unterschiedliche Auffassungen von Risiko und Betroffenheit, der Interpretation von Fakten und von Interessen erfasst und andererseits Entscheidungen legitimiert werden (indem zum Beispiel geklärt wird, welche Kriterien eine neue Technologie erfüllen sollte, damit alle "Stakeholder" ihren Einsatz akzeptieren können). Auch wird damit dem beklagten Demokratieverlust entgegengewirkt. Die Auffassungen und Interessen von "Stakeholdern", vor allem von potenziell Betroffenen, sind unter anderem auch deshalb zu berücksichtigen, da selbst "irrationale" Ängste reale Schäden für Personen darstellen können. In einer nur von Experten betriebenen TA besteht die Gefahr, solche Betroffenheiten zu marginalisieren.

Gerade die Frage der anzuwendenden Methoden hat dazu geführt, dass die Integration der Ethik in die TA vor hohen Hürden steht. Ethische Aspekte implizieren philosophische Fragestellungen, die nicht (ausschließlich) mit den üblichen Methoden der TA beantwortet werden können, weshalb deren Analyse separat zu jenen der klinischen, ökonomischen und sozialen Aspekten zu erfolgen hat. Die Vielzahl an unterschiedlichen ethischen Theorien hat jedoch besonders in naturwissenschaftlichen Kontexten, in denen gefragt wird, was der Fall ist und – antizipierend – unter bestimmten Bedingungen in Zukunft sein könnte, zu einer Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit von Ethik geführt, die als normative Disziplin danach fragt, was der Fall sein soll. In der TA sind empirische Methoden – quantitativer und zum Teil qualitativer Art – und statistische Methoden gebräuchlich, während in der Ethik konzeptuelle Methoden (wie Begriffsanalyse und Begriffsexplikation oder der Gebrauch expliziter Argumentationsfiguren) üblich sind. Die Methoden der Ethik beziehungsweise der Philosophie werden daher zuweilen nicht als "wissenschaftlich" anerkannt, da TA insgesamt dazu tendiert, sich an einem naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftlichkeitsideal zu orientieren. Deshalb wird in der TA oft zwischen der "wissenschaftlichen Seite" – Sammlung, Bewertung und Zusammenstellung von Forschungsevidenz – und der "Werteseite" unterschieden. Der Ethik geht es mithin – so vielfach die Wahrnehmung – um "weiche" Daten wie Bewertungen und ihre Begründungen, den Naturwissenschaften um als "hart" angesehene Daten. Können in der Ethik zwei Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler aufgrund unterschiedlicher Prämissen oder Argumentationen gerechtfertigterweise zu unterschiedlichen Analysen kommen, werden zwei Genetiker bei der Untersuchung desselben Gens bei guter Untersuchungsqualität dieselbe Basensequenz identifizieren. Allerdings ist die Voraussage von Folgen der Einführung einer bestimmten Technologie wie der Präimplantationsdiagnostik Unsicherheiten ausgesetzt, die ebenfalls zu unterschiedlichen Einschätzungen führen können.

Es ist im Einzelfall zu prüfen, inwiefern unterschiedliche ethische Ansätze im Rahmen einer TA tatsächlich zu verschiedenen Ergebnissen führen. Eine 2011 veröffentlichte Untersuchung hat ergeben, dass sich unterschiedliche ethische Methoden wie die kasuistische Analyse, die Prinzipienethik oder die Kohärenzanalyse letztlich nicht auf das Ergebnis auswirken. Doch selbst wenn weitere und tiefergehende Analysen ergäben, dass es so wäre, hebt das nicht die Notwendigkeit einer integralen Berücksichtigung ethischer Aspekte in der TA auf, sondern führt lediglich zu dem Erfordernis, die angewendeten Methoden zu benennen und ihre Auswahl zu begründen – so wie dies auch bei den anderen beteiligten Disziplinen erfolgen sollte.

Worin die allermeisten ethischen Theorien übereinkommen werden, ist die Bedeutsamkeit der Abschätzung von Folgen einer Handlung oder Handlungsregel überhaupt: So messen etwa konsequentialistische Theorien die Moralität einer Handlung ohnehin an ihren Folgen. Aber auch die meisten deontologischen Theorien, die Handlungen an der Erfüllung einer vorgegebenen Pflicht messen, sind keineswegs blind für Folgen, stellen die Konsequenzen nur nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung. Und auch die Tugendethik verlangt für die Prüfung der Tugendhaftigkeit eines Handelnden, dass dieser die Folgen seines Handelns aus einer Haltung der Gerechtigkeit oder Besonnenheit heraus berücksichtigt.

Inhaltlich muss in der TA festgelegt werden, welche Arten von Folgen untersucht werden sollen. Grundsätzlich kommt hier eine Vielzahl an unterschiedlichen Arten von Folgen in Betracht: Sie können unter anderem ökonomischer, politischer, gesundheitlicher, psychologischer, sozialer, moralischer, rechtlicher oder pädagogischer Art sein. Ebenso wie bei der Auswahl der zu untersuchenden Technologie ist auch die Definition des Untersuchungsschwerpunktes wertgebunden. Aus der Erfahrung, dass moderne Techniken wie die Genomforschung oder die Reproduktionsmedizin eingeführt wurden, ohne dass eine systematische TA unter Einbeziehung möglicher ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte stattgefunden hatte, entstanden Programme zur sogenannten ELSI-Forschung (ELSI=Ethical, Legal and Social Implications), die genau diese Aspekte begleitend untersuchen soll, wofür in bestimmten Ausschreibungen zu Forschungsprogrammen oft etwa fünf Prozent des Budgets vorgesehen sind.

Evaluationsfunktion

Lässt sich bisher festhalten, dass ethische Implikationen bereits bei der Formulierung des Problems, der Wahl der Terminologie und der Methoden sowie der generellen Gestaltung des TA-Prozesses gegeben sind, folgt als weiterer Schritt die Bewertung dessen, was an unterschiedlichen Folgen im Sinne von Nutzenchancen und Schädigungsrisiken zusammengetragen worden ist. Die Bewertung, dass eine bestimmte technologische Option einer anderen vorzuziehen ist, ist ohne normativen Bezug unmöglich, weshalb sich TA nicht auf "bloßes Faktensammeln" reduzieren lässt. Doch die damit verbundene Normativität muss nicht zwangsläufig stets ethische Normativität sein, sondern kann instrumenteller oder ökonomischer Art sein.

Genuin ethische Normativität findet sich, wenn auf moralische Werte und ethisch relevante Güter wie Gesundheit, Wohlergehen oder Autonomie Bezug genommen wird (etwa wenn wertende Ausdrücke wie "gefährlich", "zumutbar" oder "unbedenklich" verwendet werden). Werturteile sind auch bei Schadens-/Nutzenrechnungen sowie beim Risikobegriff unvermeidbar, ebenso bei der Bestimmung der positiven und negativen Effekte von Technologien. So sind zum Beispiel "Todesfalläquivalente", das Abwägen von Menschenleben gegenüber Gütern wie Lebensqualität oder Kostenreduktion, zweifellos ethisch aufgeladen – nicht nur bei ihrer Auswahl im Sinne der Konzeption von TA, sondern auch in ihrer Aus- und Bewertung.

Die ethische Analyse und Bewertung der verschiedenen Folgen einer Entwicklung und Einführung von Technologie setzt eine entsprechende Expertise voraus, die in TA-Institutionen jedoch rar ist, möglicherweise deshalb, weil davon ausgegangen wird, dass es keine Expertise in der Ethik gibt, oder dass sie auch von anderen Fachrichtungen abgedeckt werden kann. Mit "ethischer Expertise" ist jedoch gemeint, normative Argumente und Rahmenwerke rekonstruieren, einordnen und bewerten zu können sowie mit ethischer Theorie konsistent zu verfahren. Da Technologien bestehende moralische Ordnungen einer Gesellschaft herausfordern können, ist eine Kenntnis von ethischen Konzepten und Traditionen unverzichtbar, um solche Herausforderungen erkennen, einordnen und reflektieren zu können. Ferner können ungewollte und indirekte Technikfolgen durch eine Analyse ethischer Implikationen aufgedeckt werden, etwa mittels Analogiebildung zu bekannten oder idealtypischen Fällen.

TA ohne ethische Kompetenz wird aufgrund des oben erwähnten Wissenschaftlichkeitsideals dazu tendieren, ethische Aspekte auf bloße Akzeptanzfragen zu reduzieren und so Werthaltungen als "externe empirische Daten" in die TA einfließen zu lassen. Derartige TA neigt dazu, bei Fragen der Bewertung auf die faktische Akzeptanz von Werten und Normen zurückzugreifen, die empirisch ermittelt wurden, was deshalb problematisch ist, weil diese nichts darüber aussagt, ob die Werte und Normen moralisch vertretbar sind. Diese auch als Deskriptivismus bezeichnete Einstellung geht letztlich davon aus, dass über Geltungsansprüche evaluativer und normativer Sätze nicht rational argumentiert werden kann, weshalb sie aber auch jegliche rationale Begründung ihrer eigenen Zwecke und Normen vermissen lässt.

Normenbegründungsfunktion

TA ist ein evaluativer Prozess, der zum Beispiel im Rahmen der Politikberatung wiederum einen normativen Prozess der Regelbildung unterstützen soll. Nur wenn die Empfehlungen der TA moralisch akzeptierbar und als ethische, nicht als "bürokratische" oder gar im eigenen Vorteilsinteresse erfolgende Entscheidungen erkennbar sind, ist auch TA öffentlich akzeptierbar. Dabei sind ethische Gründe von etwa rechtlichen, sozialen und ökonomischen Gründen zunächst zu trennen, wenngleich diese dann wiederum ethisch relevant werden können. Da das Ziel von TA in einem Beitrag zur Gestaltung von Gesellschaft und Lebenswelt liegt und auf eine Stärkung, zumindest Erhaltung von Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit ausgerichtet ist, ist das Erfordernis einer letztlich ethischen Begründung von Normen offensichtlich.

Es ist zudem sicherzustellen, dass TA-Berichte durch die Angabe von Gründen eine ethische Orientierung anbieten und nicht nur relevante ethische Aspekte listenartig aufzählen, ohne eine abwägende Analyse anzubieten, die aufzeigt, in welche Richtung die ethischen Implikationen der Technologie führen (können). Ohne die Angabe einer normativen Richtung – oder zumindest unterschiedlicher argumentativ ausgewiesener Optionen – bieten TA-Berichte keine ausreichend informierende Grundlage für die Entscheidungsfindung an und sind somit für die Nutzerinnen und Nutzer von TA mit Blick auf eine eventuelle Normgebung nicht hilfreich. Denn wenn TA durch eine "solide" ethische Analyse transparenter hinsichtlich der normativen Voraussetzungen, ethischen Konzepte und normativen Begründungen wird, ist sie auch nützlicher für diejenigen, die auf ihrer Basis politische Entscheidungen treffen sollen.

Vielleicht kann Ethik schließlich auch als eine lingua franca für TA in verschiedenen Ländern dienen, insofern ethische Konzepte und Prinzipien eine "gemeinsame Sprache" ermöglichen. TA ist oft von nationalen Politiktraditionen, Kulturen und Landessprachen beeinflusst, weswegen sich internationale Kooperationen schwierig gestalten können. Dies ist angesichts des Umstandes, dass Technologien heute kaum nur noch in ihren nationalen Auswirkungen zu bewerten sind, problematisch. TA sollte je nach Thema und Aufgabenstellung auch die globale Dimension in den Blick nehmen und, wo möglich, mit anderen Ländern zusammenarbeiten. Die ethisch informierte Verständigung über TA-Konzepte und Normen kann hier einen wertvollen Beitrag leisten.

Ausblick

Ethik hat mit Blick auf TA eine vierfache Funktion: Sie legitimiert TA als eine wichtige Institution in einer modernen, technisch geprägten Gesellschaft. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Konzipierung von TA-Projekten, indem sie sich an der Priorisierung von Themen und an der Gestaltung des Prozesses einschließlich der Auswahl zu involvierender Personengruppen und Fachdisziplinen sowie Methoden beteiligt. Sie stellt Maßstäbe für die Evaluation empirischer Ergebnisse und für Abwägungen im Fall von Konflikten und bei unterschiedlichen Handlungsoptionen zur Verfügung und trägt damit letztlich zu einer ethisch fundierten Normbildung bei.

Legitimations-, Konzipierungs-, Evaluations- und Normenbegründungsfunktion sind in ihrer Ausfüllung offen für unterschiedliche kulturelle Kontexte und wissenschaftliche Traditionen, und sie sind nicht auf eine bestimmte ethische Theorie angewiesen – wohl aber darauf, den ethischen Ansatz selbst auszuweisen und ihre Prämissen in ihren Argumentationen offenzulegen.

Da letztlich sowohl die Umsetzung der TA als auch alle Folgen, die eine TA untersucht, an ethische Werte gebunden sind, ist eine rein nachträgliche Würdigung ethischer Aspekte zu wenig. Ethik ist insofern zwar immer schon Bestandteil von TA, ihre explizite Anerkennung und Einbeziehung mit einer ausgewiesenen Expertise von Beginn bis Ende des TA-Prozesses ist gleichwohl ein Desiderat. Die systematische Berücksichtigung der hier vorgestellten vier Funktionen in TA-Projekten wird – so hoffen wir – zu einem Fortschritt auf diesem Weg beitragen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Verein Deutscher Ingenieure, VDI-Richtlinie Technikbewertung. Begriffe und Grundlagen, Düsseldorf 2000.

  2. Vgl. Amanda Burls et al., Tackling Ethical Issues in Health Technology Assessment, in: International Journal of Technology Assessment in Health Care (IJTAHC), 27 (2011) 3, S. 230–237, hier: S. 231.

  3. Vgl. Luis E. Arellano/Jeffrey M. Willett/Pascal Borry, International Survey on Attitudes Toward Ethics in Health Technology Assessment, in: IJTAHC, 27 (2011) 1, S. 50–54.

  4. Vgl. Dagmar Lühmann/Heiner Raspe, Ethik im Health Technology Assessment – Anspruch und Umsetzung, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 102 (2008), S. 69–76; Henk ten Have, Ethical Perspectives on Health Technology Assessment, in: IJTAHC, 20 (2004) 1, S. 71–76; Bjørn Morten Hofmann, Why Ethics Should Be Part of Health Technology Assessment, in: IJTAHC, 24 (2008) 4, S. 423–429.; Annette J. Braunack-Mayer, Ethics and Health Technology Assessment: Handmaiden and/or Critic, in: IJTAHC, 23 (2006) 6, S. 307–312.

  5. Vgl. H. ten Have (Anm. 4); Katherine Duthie/Kenneth Bond, Improving Ethics Analysis in Health Technology Assessment, in: IJTAHC, 27 (2011) 1, S. 64–70.

  6. Vgl. A.J. Braunack-Mayer (Anm. 4).

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. D. Lühmann/H. Raspe (Anm. 4); B.M. Hofmann (Anm. 4).

  9. Vgl. L.E. Arellano/J. M. Willett/P. Borry (Anm. 3).

  10. Vgl. Samuli I. Saarni et al., Ethical Analysis to Improve Decision-Making on Health Technologies, in: Bulletin of the World Health Organization, 86 (2008) 8, S. 617–623; INAHTA Ethics Working Group, Final Report, 2005, Externer Link: http://www.inahta.org/upload/Final%20report%20Ethics%20in%20HTA%20Nov%2007.pdf (14.1.2014); B.M. Hofmann (Anm. 4); A. Burls et al. (Anm. 2).

  11. Folgende Zusammenfassung nach Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, Berlin 20102. Siehe dazu auch den Beitrag von Armin Grunwald/Leonhard Hennen/Arnold Sauter in dieser Ausgabe.

  12. A. Grunwald (Anm. 11), S. 41.

  13. Ebd., S. 52.

  14. Eine Position, die, knapp zusammengefasst, besagt, dass nur wissenschaftlich und (zudem) sinnvoll ist, was sich empirisch, das heißt mittels Sinneserfahrung, bestätigen lässt.

  15. Vgl. zum Beispiel Stephan Toulmin, How Medicine Saved the Life of Ethics, in: Perspectives in Biology and Medicine, 25 (1982) 4, S. 736–750; Markus Düwell/Klaus Steigleder, Bioethik – Zu Geschichte, Bedeutung und Aufgaben, in: dies. (Hrsg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2002.

  16. Dies entsprach durchaus einer Haltung, wie sie oft (infolge von unter anderem Max Webers wissenschaftstheoretischer Auffassung) auch in den Sozialwissenschaften als sogenannter Dezisionismus vertreten wurde und zum Teil auch heute noch wird. Vgl. zum Beispiel Armin Grunwald, The Normative Basis of (Health) Technology Assessment and the Role of Ethical Expertise, in: Poiesis & Praxis, 2 (2004), S. 175–193. Siehe auch weiter unten das Problem des sogenannten Deskriptivismus.

  17. Vgl. S. Toulmin (Anm. 15).

  18. Siehe dazu auch den Beitrag von Ortwin Renn in dieser Ausgabe.

  19. Vgl. B.M. Hofmann (Anm. 4); S.I. Saarni et al. (Anm. 10); A. Burls et al. (Anm. 2).

  20. Vgl. Barbara Skorupinski/Konrad Ott, Technology Assessment and Ethics. Determining a Relationship in Theory and Practice, in: Poiesis & Praxis, 1 (2002), S. 95–122.

  21. Vgl. D. Lühmann/H. Raspe (Anm. 4); Julian Nida-Rümelin, Zur Rolle ethischer Expertise in Projekten der Technikfolgenabschätzung, in: Klaus Peter Rippe (Hrsg.), Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/Br. 1999, S. 245–266, hier: S. 261.

  22. Vgl. B. Skorupinski/K. Ott (Anm. 20); Gert Jan van der Wilt/Rob Reuzel/H. David Banta, The Ethics of Assessing Health Technologies, in: Theoretical Medicine and Bioethics, 21 (2000), S. 103–115.

  23. Vgl. Dieter Birnbacher, Ethische Dimensionen bei der Bewertung technischer Risiken, in: Hans Lenk/Matthias Maring (Hrsg.), Technikverantwortung. Güterabwägung – Risikobewertung – Verhaltenskodizes, Frankfurt/M. 1991, S. 136–147, hier: S. 137.

  24. Vgl. K. Duthie/K. Bond (Anm. 5).

  25. Jedoch haben die Strömungen der sogenannten empirical ethics in der Medizin- und Bioethik sowie der sogenannten experimental philosophy Ansätze hervorgebracht, die versuchen, systematisch empirische Datensammlung und Datenauswertung mit ethischer beziehungsweise philosophischer Analyse zu koppeln. Vgl. zum Beispiel Bert Musschenga, Was ist empirische Ethik?, in: Ethik in der Medizin, 21 (2009) 3, S. 187–199; Pascal Borry/Paul Schotsmans/Kris Dierickx, The Birth of the Empirical Turn in Bioethics, in: Bioethics, 19 (2005) 1, S. 49–71.

  26. Vgl. Carl Friedrich Gethmann/Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung. Konzeptionen im Überblick, Bad Neuenahr-Ahrweiler 1998.

  27. Vgl. A. Burls et al. (Anm. 2).

  28. Vgl. Samuli I. Saarni et al., Different Methods for Ethical Analysis in Health Technology Assessment, in: IJTAHC, 27 (2011) 4, S. 305–312.

  29. Vgl. B. Skorupinski/K. Ott (Anm. 20).

  30. Vgl. G.J. van der Wilt/R. Reuzel/H.D. Banta (Anm. 22).

  31. Vgl. D. Birnbacher (Anm. 23).

  32. Vgl. D. Lühmann/H. Raspe (Anm. 4), B.M. Hofmann (Anm. 4), A. Burls et al. (Anm. 2), B. Skorupinski/K. Ott (Anm. 20).

  33. Vgl. H. ten Have (Anm. 4).

  34. Vgl. D. Birnbacher (Anm. 23). Solche "Todesfalläquivalente", in denen Menschenleben in der Regel in Nutzen- oder Geldeinheiten verrechnet werden, können zum Beispiel bei Risikobewertungen in der Verkehrs- und Gesundheitspolitik vorkommen, aber auch bei der Bewertungen von Risiken von technischen Großprojekten wie Kernkraftwerken (GAU).

  35. Vgl. D. Lühmann/H. Raspe (Anm. 4).

  36. Vgl. K. Duthie/K. Bond (Anm. 5); S.I. Saarni et al. (Anm. 10).

  37. Vgl. A. Grunwald (Anm. 16).

  38. Vgl. K. Duthie/K. Bond (Anm. 5).

  39. Vgl. Dario Sacchini et al., Health Technology Assessment (HTA): Ethical Aspects, in: Medicine, Health Care and Philosophy, 12 (2009), S. 453–457.

  40. Vgl. B.M. Hofmann (Anm. 4).

  41. Vgl. Günter Ropohl, Das Risiko im Prinzip Verantwortung, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 5 (1994) 1, S. 109–120.

  42. Vgl. J. Nida-Rümelin (Anm. 21).

  43. Vgl. C.F. Gethmann/A. Grunwald (Anm. 26).

  44. Vgl. ebd.

  45. Vgl. B.M. Hofmann (Anm. 4); K. Duthie/K. Bond (Anm. 5); D. Sacchini et al. (Anm. 39).

  46. Vgl. Daniel Callahan, Health Technology Assessment Implementation: The Politics of Ethics, in: Medical Decision Making, 32 (2012), E13.

  47. Vgl. K. Duthie/K. Bond (Anm. 5); A. Burls et al. (Anm. 2).

  48. Vgl. K. Duthie/K. Bond (Anm. 5).

  49. Vgl. A. Grunwald (Anm. 11); D. Callahan (Anm. 46).

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Dr. med., geb. 1962; Professorin für Ethik und Theorie der Medizin, Leiterin der Forschungsstelle Ethik der Uniklinik Köln, Direktorin des Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (CERES) der Universität zu Köln; Vorsitzende des Deutschen Ethikrates; Uniklinik Köln, Herderstraße 54, 50931 Köln. E-Mail Link: christiane.woopen@uni-koeln.de

M.A., geb. 1979; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Ethik der Uniklinik Köln und am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizinischen Hochschule Hannover; Uniklinik Köln (s.o.). E-Mail Link: marcel.mertz@uk-koeln.de