Rechtsaußen, die Große Rezession und die Europawahlen 2014
Die Europawahlen
Vor allem aus drei Gründen erwarten Kommentatorinnen und Kommentatoren bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 besonders bemerkenswerte Ergebnisse für die Rechtsaußenparteien: (1) die Wirtschaftskrise, (2) die zweitrangige Natur der Europawahlen und (3) der Anstieg des Euroskeptizismus.Wie die obige Analyse zeigt, stellt sich die "Krisentheorie" als nicht haltbar heraus, zumindest nicht für nationale Parlamentswahlen. Jedoch argumentieren Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, dass Europawahlen "Wahlen zweiter Ordnung" sind, die durch geringere Wahlbeteiligung und höhere Ergebnisse für Parteien außerhalb des Establishments gekennzeichnet sind.[9] Während dies oft so interpretiert wird, dass Protestparteien im Allgemeinen und Rechtsaußenparteien im Besonderen bei Wahlen zweiter Ordnung sehr gut abschneiden, ist dies nicht ganz korrekt. Der Zeitpunkt von Wahlen zweiter Ordnung in Bezug auf den Zyklus von Wahlen erster Ordnung beeinflusst die Wahlergebnisse stark:[10] Im Allgemeinen erzielen etablierte Parteien bei Wahlen zweiter Ordnung, die etwa in der Mitte zwischen Wahlen erster Ordnung stattfinden, die schlechtesten Ergebnisse, wenn Wählerinnen und Wähler die Gelegenheit dazu nutzen, den nationalen Eliten einen Denkzettel zu verpassen (voting with the boot). Allerdings schneiden Protestparteien bei Wahlen zweiter Ordnung, die kurz nach Wahlen erster Ordnung abgehalten werden, eher schlecht ab, da die Menschen hauptsächlich deswegen zur Wahl gehen, um ihre Partei zu unterstützen (voting with the heart). Angesichts der unterschiedlichen nationalen Wahlzyklen können sich deren Effekte auf EU-Ebene zum großen Teil ausgleichen. Folglich stellten die Politologen Michael Minkenberg und Pascal Perrineau fest, dass die Europawahlen 2004 in Bezug auf die radikale Rechte "überraschend unüberraschend" waren.[11]
Es stellt sich die Frage, ob Europawahlen im Jahr 2014 immer noch als zweitrangig zu betrachten sind. Der Politologe Hermann Schmitt hat bereits nach der Wahl 2004 angemerkt, dass sich ihr Charakter als zweitrangige Wahlen allmählich ändere, und er erwarte, dass sich dieser Prozess infolge der zunehmenden Sichtbarkeit der EU fortsetzen werde.[12] Die grundlegende EU-Dimension der Großen Rezession und insbesondere die hochgradig unbeliebten Rettungsaktionen haben die Sichtbarkeit der EU deutlich erhöht und sind der Hauptgrund für den "gesamtkontinentalen Anstieg des Euroskeptizismus".[13] Die Zunahme des Euroskeptizismus ist jedoch nicht nur auf der Ebene der breiten Bevölkerung sichtbar; immer mehr Außenseiter- und sogar Insiderparteien bringen weiche wie harte euroskeptische Kritik offen zum Ausdruck. Folglich steht Rechtsaußen mit einer wachsenden Zahl nationaler Gruppierungen im Wettbewerb um (weiche) euroskeptische Wählerstimmen.
Ich habe die voraussichtliche Anzahl der Sitze von Rechtsaußenparteien im nächsten Europäischen Parlament (EP) auf Grundlage der Ergebnisse der jüngsten nationalen Parlamentswahlen berechnet[14] – in sämtlichen Fällen fanden diese während der Wirtschaftskrise statt, in den meisten Ländern innerhalb der vergangenen zwei Jahre.[15] Ausgehend von diesen Ergebnissen würden Rechtsaußenparteien aus 13 der 28 EU-Mitgliedsstaaten ins Europäische Parlament einziehen. Sie würden insgesamt 34 Sitze (4,5 Prozent aller Sitze) gewinnen, drei Sitze weniger als im gegenwärtigen EP.[16]
Diese eher trüben Aussichten für Rechtsaußen sind hauptsächlich auf drei Faktoren zurückzuführen: (1) Rechtsaußen ist nur in gut der Hälfte aller EU-Länder relevant, (2) die Bedeutung von Rechtsaußen ist sogar in diesen Ländern bei Wahlen recht bescheiden, und (3) es handelt sich bei nur einem dieser Länder um einen großen EU-Staat mit vielen Sitzen im Europäischen Parlament (Frankreich). Auch wenn wir unseren Vorhersagen günstigere Meinungsumfragen zugrunde legen, verändern sich die Ergebnisse kaum. Wenn wir für den FN in Frankreich rund 24 Prozent und für die PVV in den Niederlanden 18 Prozent annehmen, würde die Gesamtzahl der Sitze für Rechtsaußen im Europäischen Parlament nur auf 45 Sitze (6,0 Prozent aller Sitze) steigen (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version).
Es ist wichtig, Folgendes festzuhalten: Auch wenn die Rechtsaußenparteien tatsächlich 45 Sitze erringen sollten, bedeutet dies nicht, dass es eine 45-köpfige Rechtsaußenfraktion geben wird. Die Kooperationsvereinbarung zwischen Marine Le Pen (FN) und Geert Wilders (PVV) garantiert zwar praktisch, dass die Rechtsaußenparteien in der Lage sein werden, im nächsten Europäischen Parlament eine offiziell anerkannte Fraktion zu bilden (wahrscheinlich unter dem Banner der Europäischen Allianz für Freiheit, EAF), zumal dafür nur 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten erforderlich sind. Aber diese Gruppe wird stark vom FN dominiert sein, der allein wahrscheinlich rund 20 Sitze stellen wird. Auch hat die Geschichte gezeigt, dass Rechtsaußenparteien in der europäischen Arena selten effektiv zusammenarbeiten und dass die Führungsrolle des FN häufig sowohl entscheidend als auch höchst kontrovers gewesen ist.[17]
Im Verlauf der verschiedenen Wahlperioden hat Rechtsaußen entweder keine offizielle Fraktion im Europäischen Parlament gebildet oder aber eine, die wegen (oft kleinlicher) interner Streitigkeiten auseinandergebrochen ist. In allen Fällen war Rechtsaußen auf verschiedene Fraktionen verteilt (etwa Europa der Freiheit und der Demokratie, EFD), während sich mehrere Rechtsaußen-Abgeordnete gar keiner Fraktion anschlossen. Was die Auswirkungen ihrer Anwesenheit auf das Funktionieren des Parlaments betrifft, kam eine jüngere Analyse zu dem Schluss, der an das Sprichwort "Bellende Hunde beißen nicht" erinnert: "Our analysis suggests that the populist radical right focuses its role on gaining publicity rather than participating in policy-making activities in the European Parliament."[18]
Fazit
Die Tatsache, dass die Große Rezession zu keinem signifikanten Zuwachs an Unterstützung für Rechtsaußen geführt hat, sollte eigentlich nicht überraschen. Wirtschaftskrisen haben in Europa selten zu Wahlerfolgen für Rechtsaußen geführt: nicht die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, nicht die Ölkrise der 1970er Jahre, nicht der Wandel von sozialistischer Diktatur zu kapitalistischer Demokratie in Osteuropa in den 1990er Jahren. Dies bedeutet nicht, dass Wirtschaftskrisen nicht zu politischer Unzufriedenheit oder (schweren) Wahlniederlagen von Regierungsparteien führen. Aber in den meisten Fällen kommt der Protest auf vielfältige Weise zum Ausdruck – durch Wahlenthaltung, Wählen einer etablierten Oppositionspartei oder die Stimmabgabe für eine der vielen alten und neuen Protestparteien. Dies wird zweifellos auch bei den bevorstehenden Europawahlen der Fall sein, bei denen die Präsenz von Rechtsaußen insgesamt wahrscheinlich um lediglich etwa acht Sitze (von derzeit 37 auf 45) zunehmen wird und die der "antieuropäischen populistischen" Stimmen um etwa 34 Sitze (von 92 auf 126),[19] was auf einen Anteil von etwa 17 Prozent aller Parlamentssitze hinausliefe.Die geschilderte Beziehung zwischen Wirtschaftskrisen und Wählerstimmen für Rechtsaußen mag der Intuition widersprechen, aber ihre Ursache ist implizit in Ingleharts berühmter Postmaterialismusthese dargelegt worden. Während einer Wirtschaftskrise wird die politische Debatte von soziökonomischen Themen dominiert, denen Rechtsaußenparteien wenig Beachtung schenken und bei denen sie nur wenig glaubwürdige Expertise aufweisen.[20] Wenn die Große Rezession jedoch erst einmal überwunden und die wirtschaftliche Situation stabilisiert worden ist, werden viele potenzielle Rechtsaußenwählerinnen und -wähler soziokulturelle Themen, die mit nationaler Identität und Sicherheit zu tun haben, wieder als wichtiger erachten. Und zu jenem Zeitpunkt wird die Unzufriedenheit mit nationalen und europäischen Eliten, die während der Großen Rezession noch weiter angestiegen ist, tatsächlich sichtbar, und zwar rechtsaußen wie in anderen Ecken des Protests gegen das Establishment. Ob dies jedoch geschieht oder nicht, wird mindestens so stark vom Handeln der Mainstreamparteien abhängen wie von dem der Rechtsaußenparteien.