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Kartografie der Ungleichheit | Arbeiten in Europa | bpb.de

Arbeiten in Europa Editorial Kartografie der Ungleichheit: Wachstum, Arbeit und Einkommen in Europa Jugendarbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik in der EU Arbeitskräftewanderung zur Stabilisierung des Euroraums? Arbeitsmigration im Gesundheitswesen: Trends und Auswirkungen Europäischer Mindestlohn als Arbeitnehmerinteresse? Probleme gewerkschaftlicher Positionsbildung Zusammenarbeit in der Euroregion Elbe/Labe Neue Wege arbeitspolitischer Solidarität

Kartografie der Ungleichheit Wachstum, Arbeit und Einkommen in Europa

Michael Dauderstädt

/ 13 Minuten zu lesen

Vor der Krise 2009 wies Europa ein ordentliches Wachstum auf, bei dem Beschäftigung und Einkommen vor allem in den ärmeren Ländern rasch wuchsen. Nach der Rezession erholte sich Mittelosteuropa wieder, während die südliche Peripherie tiefer in die Krise geriet.

Europa – und damit ist hier die Europäische Union (EU) gemeint – ist verunsichert. Das Wachstum stockt, die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Ungleichheit der Einkommen beunruhigt die Öffentlichkeit. Dabei sind die Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich und addieren sich auch nicht einfach zu einem europäischen Gesamtbild. In den folgenden Abschnitten wird zunächst die Entwicklung und Struktur des Wachstums in Europa gezeigt, um danach die damit verbundene Beschäftigungsentwicklung zu untersuchen und schließlich die Auswirkungen auf die Entwicklung und Verteilung der Einkommen zu erläutern.

Wachstum: Von einer Krise in die nächste

Die EU erscheint derzeit nicht gerade als wirtschaftliche Erfolgsstory, tatsächlich hat sie aber im langfristigen Vergleich, etwa mit den USA, gar nicht so schlecht abgeschnitten. Während das reale Prokopfeinkommen in Amerika zwischen 1995 und 2013 um 30,1 Prozent stieg, nahm es in der EU nur etwas weniger, nämlich um 27,5 Prozent zu. Schaut man auf die Zeit vor der globalen Finanzmarktkrise zurück, so kehrt sich das Bild sogar um: Die EU wies da zwischen 1995 und 2008 30,2 Prozent auf, die USA nur 27,7 Prozent. Das schwächere Abschneiden der EU ist also jüngeren Datums und Folge der Krise und der europäischen Reaktionen auf die Krise. Das zeigt sich deutlich beim Vergleich in der Periode 2008 bis 2013: Das reale Prokopfeinkommen in der EU schrumpfte um 2,1 Prozent, in den USA stieg es um 1,9 Prozent. Angesichts ähnlicher Geldpolitik (Niedrigzinsen) dürfte der US-Erfolg vor allem der expansiven amerikanischen Fiskalpolitik zu verdanken sein.

Abbildung 1: Wachstumsraten des realen Prokopfeinkommens 1995–2013 (in Prozent)

Das Wachstum in der langen Perspektive verteilte sich allerdings sehr unterschiedlich auf die Mitgliedstaaten (siehe Abbildung 1). Spitzenreiter des Wachstums waren die ärmsten Länder in Mittel- und Osteuropa (MOE), die ab 1995 aus ihrer Transformationskrise kamen, sich dann schon mit vielfältigen Reformen und westlicher Hilfe auf den EU-Beitritt vorbereiteten und 2004 (acht Länder), 2007 (Bulgarien und Rumänien) und 2013 (Kroatien) der EU auch beitraten. Für diese Länder erfüllten sich also die Wachstumshoffnungen, die sie mit der europäischen Integration verbanden.

Unterdurchschnittlich (im Vergleich zur EU-27/28) schnitt die Eurozone ab, wobei von den großen Volkswirtschaften Italien besonders schwächelte, während Deutschland etwas über dem Durchschnitt der Eurozone (aber nicht der EU!) wuchs. Generell wäre es aber falsch, den Euro verantwortlich zu machen, denn auch einige Euroländer wuchsen relativ stark, allen voran Irland, aber auch Finnland oder die Slowakei.

Aber hinter dieser langfristigen Betrachtung verbirgt sich ein viel bedenklicherer Befund, wenn man die Auswirkungen der Krise genauer untersucht. Wie der Vergleich mit den USA zeigt, liegen gerade darin die Probleme Europas. Dabei ist es notwendig, drei Krisen zu unterscheiden: Die erste ist die Finanzmarktkrise von 2007/2008, die mit der Lehmann-Pleite im September 2008 zu einem Kollaps des globalen Finanzsystems führte, dessen totale Implosion nur durch massive Rettungsaktionen für die betroffenen Staaten vermieden werden konnte. 2009 folgte die durch die Bankenkrise ausgelöste große Rezession mit Einbrüchen beim Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent in der EU (3,6 Prozent in den USA). Während fast überall auf der Welt dank umfangreicher Konjunkturprogramme diese Rezession rasch überwunden wurde, folgte in der Eurozone eine dritte Krise, die Staatsschuldenpanik. Ausgelöst durch überraschend schlechte Haushaltsdaten in Griechenland kam es zur Ansteckung weiterer Euroländer wie Irland, Portugal und Spanien. Diese vier GIPS genannten Länder erhielten, wenn auch zögerlich und mit hohen Sparauflagen, europäische Finanzhilfen. Aber die Verteufelung der Schuldner, die kontraproduktive Austerität und die verspätete Intervention der Europäischen Zentralbank stürzten die Eurozone in eine weitere Krise, die nun in eine längere Stagnationsphase zu münden droht.

Dabei zeichnete sich auch die Eurozone bis zum Schock der Finanzkrise 2008 durch ordentliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Da sie überwiegend aus reicheren Mitgliedstaaten besteht, war ihre durchschnittliche Wachstumsrate mit 24 Prozent zwischen 1995 und 2008 niedriger als der EU-Durchschnitt von über 30 Prozent, der durch das aufholende Wachstum in MOE hochgezogen wurde. Aber gerade auch viele ärmere westliche Euroländer wuchsen überdurchschnittlich schnell: Irland um 80 Prozent, Griechenland um 49 Prozent, Spanien um fast 35 Prozent.

Die Finanzmarktkrise und die große Rezession trafen alle Länder heftig. Aber der Einbruch zwischen 2008 und 2009 (EU-weit: –5 Prozent) fiel sehr unterschiedlich aus. Er war im Euroraum sogar schwächer (–4,5 Prozent). Am schlimmsten waren die baltischen Länder betroffen, als die dort vom Ausland dominierten Banken den Kredithahn abdrehten. Ihre Volkswirtschaften schrumpften um etwa 15 Prozent. Griechenland, Spanien und Portugal hatten Rückgänge von "nur" etwa 3 Prozent zu verzeichnen. Irlands Volkswirtschaft, die eine dramatische Bankenkrise erlebte, brach um 7,4 Prozent ein. Als einziges EU-Mitgliedsland konnte Polen diese Krise relativ schadlos mit einem positiven Wachstum von 2,6 Prozent überwinden.

Ein gänzlich anderes Bild bot sich dem Betrachter ab 2009. Der V-förmige Verlauf der Rezession führte dazu, dass von 2009 bis 2013 das BIP der EU um 2,7 Prozent wuchs. Sie erreichte aber das durchschnittliche Prokopfeinkommen von 2007 (23.800 Euro) nicht mehr. Dies stieg bis 2011 nur auf 23.300 Euro, um anschließend zu stagnieren. Der Euroraum wuchs jedoch nur um 1,2 Prozent und sein Prokopfeinkommen blieb noch stärker hinter dem Niveau von 2007. Die Kartografie des Aufschwungs war aber äußerst vielfältig.

Die baltischen Länder erholten sich rasch mit einem Wachstum von etwa 20 Prozent, womit aber das Prokopfeinkommen in Estland und Lettland real immer noch unter dem Niveau von 2007 blieb. Allgemein kehrte MOE wieder auf den Pfad aufholenden Wachstums zurück (siehe Abbildung 1). Die Verlierer waren die ärmeren Euroländer, die unter dem Diktat der Haushaltskonsolidierung standen. Griechenland schrumpfte um 17 Prozent, Zypern um 12,3 Prozent, Spanien um 2,9 Prozent, Portugal um 2,1 Prozent, Irland immer noch um 0,5 Prozent. Diese Verluste kamen zu den oben dargestellten, direkt rezessionsbedingten Einbrüchen im Jahr 2009 hinzu.

Abbildung 2: Wachstum der Stundenproduktivität in Prozent

Was waren die Treiber des Wachstums und die Ursachen der Krise? Die hohen Wachstumsraten der europäischen Peripherie lassen sich durch den Aufholbedarf und die Aufholmöglichkeiten erklären. Die Menschen wollten mehr und bessere Konsumgüter, Wohnungen und Infrastruktur. Gleichzeitig gab es noch gewaltige Produktivitätsreserven. Da das BIP gleich der Stundenproduktivität (BIP/Stunde) mal der Anzahl der gearbeiteten Stunden ist, sind Produktivitätssteigerungen eine zentrale Quelle des Wohlstands. Sie erlauben Lohnsteigerungen, ohne dass die Lohnstückkosten zunehmen und damit die Wettbewerbsfähigkeit abnähme. Tatsächlich stieg die Arbeitsproduktivität in diesen Ländern ähnlich stark wie das BIP beziehungsweise Prokopfeinkommen (siehe Abbildung 2).

Tabelle 1: Indikatoren der Wirtschaftslage ausgewählter Euroländer vor der Krise (Durchschnitt der Jahre 1998–2008)

Auch in den GIPS-Ländern, denen nach der Krise unterstellt wurde, sie hätten nur ein schuldengetriebenes Scheinwachstum gehabt, kann man recht ordentliches Export- und Produktivitätswachstum vor der Krise feststellen (siehe Tabelle 1). Bis auf die griechische war auch deren Haushaltspolitik solider als in Deutschland. Alle Länder hatten aber Kapitalzuflüsse zu verzeichnen, die hohe Leistungsbilanzdefizite finanzierten, von denen der deutsche Export profitierte.

Die Kapitalzuflüsse in die Peripherie, die dort auch zu höheren Schuldenständen führten – weniger aber beim Staat als vielmehr im Privatsektor –, brachen in der Finanzmarktkrise ein. Mit Staatsschulden hatte dies außer in Griechenland wenig zu tun. Problematischer waren die Lohnanstiege, die über die Produktivität hinausgingen und die Wettbewerbsfähigkeit schwächten. Die Lohnstückkosten stiegen in der Peripherie stark, während sie im Überschussland Deutschland sanken, da die Löhne hinter der Produktivität zurückblieben. Insofern waren bestimmte Aspekte des Vorkrisenwachstumsmodells sicher korrekturbedürftig, aber ohne Finanzmarktkrise und Staatsschuldenpanik wäre diese Korrektur als soft landing ohne die dramatischen Verwerfungen, sozialen Kosten und die Krise der europäischen Integration möglich gewesen. Mitverantwortlich dafür war die falsche Reaktion der EU (vor allem auf Drängen Deutschlands), die die Panik viel zu spät durch klare politische Ansagen, vor allem der Europäischen Zentralbank, beendete.

Arbeit: älter und weniger

Wachstum entsteht durch Arbeit und schafft Arbeit. Denn das Prokopfeinkommen ist Stundenproduktivität mal Stunden pro Beschäftigten (pro Jahr) mal Beschäftigungsquote (gleich 1 minus Arbeitslosenquote) mal Erwerbsquote mal Demografiestrukturquote (Anteil der 15–64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung). Das Prokopfeinkommen kann also wachsen, indem man die Stundenzahl erhöht, die ein Beschäftigter pro Jahr arbeitet, oder die Arbeitslosigkeit senkt, oder die Erwerbsquote erhöht, also die Anzahl der Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Diese Variablen sind aber nicht unabhängig voneinander. Der Arbeitsinput wird nur wachsen – vor allem, wenn die Stundenproduktivität wächst – wenn für den wachsenden Output auch ein Markt da ist. Unter positiven Bedingungen kann dann gleichzeitig die Erwerbsquote steigen, die Arbeitslosigkeit sinken und vielleicht sogar die Teilzeitarbeit zurückgehen. Sind diese Bedingungen – wie beispielsweise über viele Jahre in Deutschland – nicht gegeben, dann wird die niedrigere Arbeitslosigkeit nur durch mehr prekäre Teilzeitarbeit erreicht, während sich die Anzahl der insgesamt gearbeiteten Stunden kaum verändert. Nur wenn der Output rascher als die Produktivität wächst, kann mehr Arbeit absorbiert werden. Obwohl also Produktivitätssteigerungen eigentlich die zentrale Wohlstandsquelle darstellen, bilden sie gleichzeitig die Beschäftigungsschwelle, die überwunden werden muss.

Tabelle 2: Arbeitsinput, Arbeitslosigkeit und Stundenproduktivität in der EU 1999–2013

Die europäische Kartografie der Arbeit weist erhebliche Disparitäten auf (siehe Tabelle 2). Die Zahl der durchschnittlich gearbeiteten Arbeitsstunden pro Beschäftigtem ist in den ärmeren Ländern der Peripherie mit über 2000 Stunden im Jahr viel höher als in den reicheren Ländern (etwa 1400 Stunden im Jahr), wo Teilzeitarbeit stark verbreitet ist. Aber die immer noch viel höhere Stundenproduktivität erklärt, warum die reicheren Länder trotzdem reicher sind. Gleichzeitig geht der Trend zu weniger Arbeit vor allem in den noch viel arbeitenden Ländern weiter. Wie sich in der letzten Spalte von Tabelle 2 zeigt, haben sich die Zustände in den Mitgliedstaaten außer beim Arbeitsinput bis 2008 angenähert. Bei der Produktivität hat sich das Verhältnis zwischen dem produktivsten und unproduktivsten Land sogar halbiert.

Das derzeit riesige Problem der Arbeitslosigkeit ist eng mit Wachstum und Krise verbunden. 2008, kurz vor deren Ausbruch, hatte die lange Wachstumsphase die Arbeitslosigkeit stark abgebaut, sodass der EU-Durchschnitt nur noch 7 Prozent betrug, um dann auf 10,8 Prozent 2013 anzusteigen. Das bedeutet einen Zuwachs um etwa 18 Millionen Arbeitslose (von 7 auf 25 Millionen). Im Euroraum war die Entwicklung noch schlechter: von 7,5 Prozent auf 12 Prozent. In Spanien, dem Land mit der höchsten Arbeitslosigkeit, halbierte sie sich von 2000 bis 2007 fast, um sich ab 2008 wieder zu verdoppeln. Die niedrigsten Arbeitslosenquoten weisen 2013 Deutschland und Österreich mit um die 5 Prozent auf. Das Auf und Ab vor und nach der Krise wird auch in Tabelle 2 sichtbar, wo sich die Max/Min-Verhältnisse bei der Arbeitslosigkeit bis 2008 verringert haben, um danach wieder zuzunehmen.

Die EU hat in ihrer Europa 2020-Strategie Ziele für eine Erwerbstätigenquote festgelegt, worunter der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren zu verstehen ist. Damit mischt sich hier das Ziel niedrigerer Arbeitslosigkeit mit höherer Erwerbsbeteiligung. Im EU-Durchschnitt soll bis 2020 ein Wert von 75 Prozent erreicht werden, wobei er länderspezifisch unterschiedlich ist: Skandinavien 80 Prozent, in Osteuropa oft unter 75 Prozent. Die aktuellen Werte differieren stark. Die Skandinavier, Deutschland, Österreich und die Niederlande liegen dank niedriger Arbeitslosigkeit und hoher Erwerbsbeteiligung auch der Frauen bei über 75 Prozent. In den GIPS-Ländern ist die Quote in der Krise massiv (Verluste von zehn Prozentpunkten) eingebrochen. Strukturell weisen die neuen Mitgliedstaaten niedrige Quoten um 65 Prozent auf.

Langfristig wird die Demografie das Ausmaß der Arbeit stark beeinflussen. Der Grundtrend zu einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung ist in allen Ländern zu beobachten, da auch die Lebenserwartung überall erfreulich zunimmt. Sie stieg seit 2005 in den ärmeren EU-Ländern von rund 57 auf über 60 Jahre und in den reicheren von 75 auf 77. Die Geburtenraten liegen fast überall unter 2 Prozent und sind in vielen ärmeren Ländern ähnlich niedrig wie in Deutschland. Die Demografiequote, also der Anteil der potenziell arbeitsfähigen 15 bis 64-Jährigen, beträgt etwa zwei Drittel – Tendenz abnehmend. Allerdings könnte bei Vollbeschäftigung und hoher Erwerbsbeteiligung eine Überlastung der aktiven Bevölkerung durch die Zahl der zu versorgenden Kinder und Senioren leicht vermieden werden.

Einkommen: Unterschätzte Ungleichheit

Wachstum und Arbeit bestimmen das Einkommen. Das durchschnittliche BIP/Pop der EU-28 lag 2013 bei 23.200 Euro, im Euroraum bei 25.400 Euro. Dahinter verbergen sich erhebliche Unterschiede: Gemessen in Wechselkursen betrug das Prokopfeinkommen im ärmsten Mitgliedstaat der EU, Bulgarien, nur 3.800 Euro pro Jahr, im reichsten (Luxemburg) 62.400 Euro, also mehr als sechzehnmal so viel. Die meisten neuen Mitgliedstaaten in MOE haben Einkommen von unter 10.000 Euro, die Mittelmeerperipherie zwischen 14.000 Euro und 20.000 Euro, die Skandinavier, UK, Irland, Deutschland, Österreich und die Niederlande über 30.000 Euro.

Misst man das Prokopfeinkommen in Kaufkraftstärken, so verringern sich die Unterschiede, da mit dem gleichen Eurobetrag in Bulgarien deutlich mehr gekauft werden kann als in Luxemburg. Vor allem Mieten und Dienstleistungen sind wegen der geringeren Löhne in ärmeren Ländern billiger, während sich die Preise von handelbaren Gütern weniger unterscheiden. Für Bulgarien bedeutet dies beispielsweise, dass das Einkommen auf 12.000 Euro steigt. Das Einkommensverhältnis zwischen Bulgarien und Luxemburg "verbessert" sich dann auf das nur noch gut Fünffache.

Zwischen den Regionen Europas sind die Unterschiede noch stärker. Die reichste Region (NUTS-2-Ebene) ist die Londoner City mit einem Prokopfeinkommen in Kaufkraftstärken von über 80.000 Euro gegenüber 7.200 in der rumänischen Grenzregion Nord-Ost. Das liegt daran, dass die regionalen Einkommensunterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten hoch und oft zunehmend sind, da sich wirtschaftliche Aktivitäten in Wachstumspolen, oft in der Hauptstadt, konzentrieren. In Großbritannien etwa liegt das Verhältnis zwischen ärmster (Wales) und reichster Region mit etwa 1:5 ähnlich hoch wie in der EU insgesamt.

Misst man die Ungleichheit mit dem Quintilverhältnis, das das Verhältnis des Einkommens des reichsten Fünftels zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung angibt, so reichten die Werte 2012 von unter vier für Schweden, Finnland, Niederlande, aber auch Slowenien, Slowakei oder Tschechien auf über sechs in Bulgarien, Rumänien, Lettland und Spanien, das mit einer Quote von 7,2 die höchste Ungleichheit in der EU aufweist. Noch 2003 hatte das Quintilverhältnis in Spanien bei 5,1 gelegen. Im Durchschnitt der EU-15 stieg der Wert von 4,5 im Jahr 2000 auf 5,1 im Jahr 2012.

Dieser Durchschnittswert, den die EU für die EU-28 mit 5,1 (2012) angibt, ist jedoch methodisch falsch und unterschätzt die wirkliche Ungleichheit in der EU massiv. Eurostat, das statistische Amt der EU, berechnet dieses Quintilverhältnis als mit der Bevölkerung gewichteten Durchschnitt aller nationalen Werte. Dieser Ansatz unterstellt, dass das reichste (beziehungsweise ärmste) Quintil der EU (etwa 100 Millionen Menschen) aus den reichsten (beziehungsweise ärmsten) Quintilen aller Mitgliedstaaten besteht. Tatsächlich leben aber die ärmsten 100 Millionen ganz überwiegend in MOE, vor allem in Rumänien und Bulgarien, wo nicht nur ein Fünftel, sondern eher vier Fünftel der Bevölkerung zum ärmsten EU-Quintil zählen (siehe Tabellen 3a und 3b).

Tabelle 3a: Die ärmsten (blau) und reichsten (rot) Quintile der EU 2012 (in Euro)

Tabelle 3b: Die ärmsten (blau) und reichsten (rot) Quintile der EU 2012 (in Kaufkraftstärken)



Diese Tabellen zeigen die Kombination von Ungleichheit innerhalb von Ländern und zwischen Ländern. Wenn man pro Land das Einkommen im reichsten Quintil (Q5) durch das im ärmsten (Q1) teilt, ergeben sich die nationalen Quintilverhältnisse. Die Spanne zwischen dem reichsten und ärmsten Quintil in der gesamten EU ist dramatisch. In Wechselkursen ist das Verhältnis des rumänischen Q1 zum Luxemburger Q5 755 Euro zu 67.837 Euro und damit fast das Neunzigfache und in Kaufkraftstärken noch gut das Vierzigfache! Dabei vernachlässigt diese Schätzung noch die Verteilung innerhalb der Quintile.

Abbildung 3: Entwicklung der Ungleichheit in der EU im Quintilverhältnis

Korrigiert man den falschen Eurostat-Ansatz, indem man die nationalen Quintile nach dem Prokopfeinkommen ordnet und dann für das reichste EU-Quintil von oben und für das ärmste EU-Quintil von unten so viele nationale Quintile addiert (wie in den Tabellen 3a und 3b geschehen), bis man jeweils 100 Millionen Menschen beisammen hat, so erhält man realistischere und deutlich höhere Werte, wie in Abbildung 3 ersichtlich. Auch hier liegen die Werte, die in Kaufkraftstärken gemessen sind, unter denen in Euro (zu Wechselkursen) geschätzten Werten. Für die EU-27 betrug der Wert 2012 9,4 und 6,4 in Kaufkraftstärken. Für andere große Länder liegen die entsprechenden Werte bei 4,9 für Indien, 7,3 für Russland, 8,4 für die USA und 9,6 für China. Zumindest zu Wechselkursen ist der Wirtschaftsraum der EU von höheren Einkommensdisparitäten gekennzeichnet als vergleichbare Volkswirtschaften.

Eurostat unterschätzt nicht nur die Ungleichheit in der EU gewaltig, es übersieht auch deren Rückgang zwischen 2005 und 2009, da es nur die relativ schwächeren Veränderungen der innerstaatlichen Ungleichheit berücksichtigt. Dank des Wachstums der ärmeren Länder in dieser Periode hat aber die gesamteuropäische Ungleichheit abgenommen, um allerdings in der Rezession 2009 kurz wieder anzusteigen. Seitdem setzt sich der vorherige Trend wieder durch, wenn auch langsamer.

Man kann das ärmste und reichste Quintil auch über Regionen konstruieren, indem man die NUTS-2-Gebiete nach ihrem Prokopfeinkommen sortiert und wiederum jeweils so viele der ärmsten und reichsten Regionen zusammenfasst, bis man etwa 100 Millionen Einwohner erhält. Dann ergibt sich ein regionales Quintilverhältnis von knapp 4 im Jahr 2000 und 2,8 2011. Auch hier hat das aufholende Wachstum in MOE dazu geführt, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern abgenommen hat.

Tabelle 4: Entwicklung der Armutsquote 2005–2012 in den EU-Ländern

Auch die Armutssituation hat sich bis 2008 verbessert, um danach wieder etwas schlechter zu werden. Die Armutsquoten – Anteile der Haushalte mit weniger als 60 Prozent des EU-Medianeinkommens – gingen vor allem in den ärmeren Ländern stark zurück (siehe Tabelle 4). Ab 2008 stiegen sie aber sowohl in den ärmeren als auch in den reicheren Mitgliedstaaten wieder an.

Eine der Ursachen der zunehmenden Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften ist der sinkende Anteil der Löhne am BIP und die wachsende Lohnspreizung. Im EU-Durchschnitt sank die Lohnquote von 1999 bis 2006 von 63 Prozent auf knapp 61 Prozent, in Deutschland von 65,5 Prozent auf unter 62 Prozent. Zwar kam es in der Rezession zu einem Wiederanstieg, da die Gewinne schneller einbrachen als die Löhne, aber inzwischen dürfte der alte Trend wieder greifen.

Kartografie der Ungleichheit

Die EU hat die doppelte Herausforderung von Erweiterung und Euroeinführung zunächst gut gemeistert. Kräftiges Wachstum in der Peripherie hat die gesamteuropäische Ungleichheit verringert, auch wenn sich die Einkommensverteilung innerhalb vieler Mitgliedstaaten verschlechtert hat. In Deutschland hat die wachsende Einkommensungleichheit dazu geführt, dass die Ersparnisse der reichen Haushalte exportiert wurden. Die Wachstumsmodelle waren aber mit Risiken behaftet: rasches Wachstum von Kapitalströmen (beispielsweise aus Deutschland) in die Peripherie, Wachstum von Schulden und Löhnen dort, wobei die reale Leistungsfähigkeit nicht immer Schritt hielt. Der äußere Schock der Finanzmarktkrise enthüllte die Schwächen der Wachstumsmodelle ebenso wie die Konstruktionsdefizite der Eurozone.

Die erneute Divergenz in der EU, die vor allem durch die schwere Depression in Griechenland, Spanien und Portugal bedingt ist, ist auch die Folge einer verfehlten Politik in der Eurozone, die einseitig auf die Staatsschulden und deren Abbau zielte. Der Befreiungsschlag von Mario Draghi 2012 kam zu spät. Er konnte zwar die Renditen der Staatsanleihen wieder kontrollieren, aber nicht das zerstörte Vertrauen von Konsumenten und Investoren wiederherstellen. Nun drohen Stagnation, anhaltende Arbeitslosigkeit und Armut, was angesichts steigender Vermögen am oberen Ende der Reichtumspyramide bitter aufstößt.

Dieser Artikel greift auf die Publikation des Autors "Konvergenz in der Krise. Europas gefährdete Integration" zurück, die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden ist, Externer Link: library.fes.de/pdf-files/id/ipa/10941.pdf (4. 12. 2014).

Dr. rer. pol., Dipl.-Math., geb. 1947; Geschäftsführer des Verlags J.H.W. Dietz und freiberuflicher Berater, bis 2013 Leiter der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. E-Mail Link: michael@dauderstaedt.de
Externer Link: http://www.dauderstaedt.de