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Ehrenamt statt Sozialstaat? | Engagement | bpb.de

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Ehrenamt statt Sozialstaat? Kritik der Engagementpolitik

Claudia Pinl

/ 13 Minuten zu lesen

Bürgerschaftliches Engagement ist in der Demokratie unverzichtbar. Diese Res¬source wird aber missbraucht, wenn sie dazu dient, die schwindende Finanzkraft von Kommunen, Bildungssektor oder Pflegeinstitutionen zu kompensieren.

Deutschland gehört zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohem freiwilligem Engagement. 23 Millionen Menschen sind hier Jahr für Jahr in irgendeiner Weise ehrenamtlich tätig, über ein Drittel der Bevölkerung über 15 Jahre. Die Begriffe "Ehrenamt", "bürgerschaftliches Engagement" oder "Freiwilligentätigkeit" sind nicht klar gegeneinander abgegrenzt. "Ehrenamt" verweist auf traditionelle Formen des Engagements in öffentlichen, das heißt gesetzlich geregelten Ehrenämtern, als Vereinsvorstand, Ratsmitglied oder Schöffin, wird aber umgangssprachlich für jede Form freiwillig und unentgeltlich geleisteter Arbeit benutzt. Mit dem Begriff der Freiwilligenarbeit, angelehnt an das englische volunteering, bezeichnet man in Deutschland vor allem das Engagement in den ebenfalls gesetzlich geregelten Diensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) oder dem Bundesfreiwilligendienst (BFD).

Das deutet schon auf eine inhaltlich große Bandbreite des Engagements hin. Unter zeitlichen Gesichtspunkten reicht das Spektrum vom Mitmachen bei der jährlichen Reinigung der städtischen Grünanlagen bis zur 40-Stunden-Woche des ehrenamtlichen Vereinsvorstands oder der Flüchtlingsbetreuerin. Rechnet man alle kleinen und großen Beiträge zum freiwilligen Engagement in Deutschland zusammen, wie es die Prognos AG für 2009 getan hat, kommt eine eindrucksvolle Zahl von 4,6 Milliarden Jahresarbeitsstunden zusammen, das entspricht der Arbeitsleistung von 3,4 Millionen Vollzeitbeschäftigten. Aber anscheinend reicht das nicht, denn es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht durch Politik, Medien oder Prominenz weiteres freiwilliges Engagement eingefordert wird.

Bundespräsident und Bundeskanzlerin loben in ihren Neujahrsansprachen die Ehrenamtlichen, Prominente aus Politik und Showbusiness posieren bei der Lebensmittelausgabe der "Tafel", Medien rufen zu Spenden für Hospizdienste oder kostenlose Kindermittagstische auf. Es gibt Tage und Wochen des bürgerschaftlichen Engagements, Ehrenamtsnadeln, Ehrenamtskarten und Ehrenamtsnachweise, nationale, internationale und Europäische Jahre der Freiwilligenarbeit. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger in Vereinen, Initiativen oder Verbänden ohne Erwerbsabsicht zusammenschließen, so ist das immer ein Politikum – in autoritären Gesellschaften, weil die Herrschenden Angst haben, diese freiwilligen Zusammenschlüsse könnten sich ihrer Kontrolle entziehen; in offenen Gesellschaften, weil dort das Zwischenreich zwischen Staat, Familie und Erwerbssphäre – "Zivilgesellschaft" genannt – in seiner Funktion für den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes wertgeschätzt wird.

Bereits in den Anfängen der Bundesrepublik gab es Ansätze zur gezielten Förderung der Ehrenamtlichkeit. Das heutige massive Einfordern von Engagement ist aber ein relativ neues Phänomen, das mit dem politischen Kurswechsel in westlichen Ländern seit den 1980er Jahren verbunden ist.

Politischer Paradigmenwechsel

Ein in Folge der Ölkrise 1973 einsetzender Konjunkturrückgang, steigende Arbeitslosenzahlen und ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel, wonach Wachstum und Wohlstand nicht in erster Linie Aufgabe staatlicher Konjunkturprogramme und wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen seien, sondern den Selbstregulierungskräften des Marktes überlassen bleiben sollten, führten zunächst in Großbritannien unter Margaret Thatcher zu einer breit angelegten Privatisierung von Staatseigentum und zum Abbau sozialer Sicherung bei gleichzeitiger steuerlicher Erleichterung für Wohlhabende. In den USA wurde unter Präsident Ronald Reagan 1981 der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 70 auf 33 Prozent abgesenkt.

Wenn der Staat auf Einnahmen verzichtet, müssen in der Konsequenz Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zurückgefahren werden. Dass dieser Politikwechsel auch die Bundesrepublik Deutschland erreicht hatte, deutete Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 an. Kohl sprach darin von einem "anonymen bürokratischen Wohlfahrtsstaat", der die Menschen entfremdet habe. Seine Regierung, so Kohl weiter, wolle stattdessen "mehr Selbsthilfe und Nächstenhilfe der Bürger füreinander". Aber erst die 1998 ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder brach radikal mit bisherigen sozialstaatlichen Traditionen. Das sogenannte Schröder-Blair-Papier von 1999 lieferte die ideologische Rechtfertigung für den Rückzug des Staates von der Aufgabe, die Gesellschaft zu gestalten und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Nicht staatliche Regelungen oder gar ein Rechtsanspruch der Schwachen auf öffentlich finanzierte Dienste, so die Argumentation Schröders und Tony Blairs, Wegbereiter von New Labour, wiesen die "neuen Wege zur sozialen Gerechtigkeit". Diese lägen vielmehr in der individuellen Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft jedes Menschen. Das "Sicherheitsnetz aus Ansprüchen" des alten Wohlfahrtsstaates solle in ein "Sprungbrett in die Eigenverantwortung umgewandelt werden".

In Deutschland folgte die Politik diesen Vorgaben durch Steuersenkungen für Unternehmen und Privatpersonen, durch Privatisierungen im Gesundheitswesen und die Teilprivatisierung der gesetzlichen Altersvorsorge ("Riester-Rente"), vor allem aber durch die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der drastischen Einschränkung der Unterstützung für Langzeitarbeitslose im Zuge der Umsetzung der Agenda 2010. In der Folge verschlechterte sich die Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten, während gleichzeitig der Zugang zu sozialen Hilfeleistungen erschwert wurde. Die Steuersenkungen betrafen nicht zuletzt auch die Kommunen, deren Basis zur Finanzierung von Infrastruktur und freiwilligen Leistungen wie Unterhalt von Museen, Parks, Büchereien und Schwimmbädern schmaler wurde.

Vom Sozialstaat zur Bürgergesellschaft

Wie mit diesen Folgen neoliberaler Politik umgehen? Sowohl Kohl wie Schröder hatten den Weg gewiesen: statt öffentliche Daseinsvorsorge mehr bürgerschaftliches do it yourself. Die Botschaft kam an, nicht zuletzt im Deutschen Bundestag, der 1999 eine 22-köpfige Enquete-Kommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" einsetzte. Die Mehrheit der aus je zur Hälfte aus Abgeordneten und Experten bestehenden Kommission war sich einig, dass man sich von der Vorstellung der Allzuständigkeit des Staates zu verabschieden habe, vielmehr das Zeitalter der "Bürgergesellschaft" begonnen habe. Im Abschlussbericht der Kommission heißt es dazu: "Unter dem Stichwort einer neuen Verantwortungsteilung wird in der Bürgergesellschaft mehr bürgerschaftliche Verantwortung von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet – ohne dass dies vom Staat erzwungen wird. Die Idee der Bürgergesellschaft rechnet vielmehr mit einer freiwilligen Verantwortungsübernahme. (…) Formen der Selbstverpflichtung werden umso notwendiger, je stärker sich der Staat von geltenden Regelungsansprüchen zurückzieht und Aufgaben, die nicht staatlich geregelt werden müssen, bürgerschaftlichen Akteuren überantwortet. Deregulierung, Ermöglichung, Subsidiarität und der Abbau bürokratischer Strukturen als Elemente bürgergesellschaftlicher Reformen brauchen zu ihrem Gelingen ein Gegenstück: die innere Haltung der Bürgerinnen und Bürger, für die Gemeinschaft aus einer freiwillig übernommenen Verantwortung etwas zu tun."

Das entspricht einem Staats- und Verwaltungsverständnis, das unter dem Begriff governance bekannt ist, wonach regulierende und lenkende Funktionen des Staates zurückgenommen werden zugunsten einer größeren Aktionsfreiheit von Bürgerinnen und Bürgern und von gesellschaftlichen Gruppen. Staat oder Kommunen sind nach Governance-Vorstellungen nur noch gleichberechtigte Akteure neben anderen: Familie, Nachbarschaft, Organisationen, Unternehmen. Diese neue Rollenverteilung wird im Bericht der Sachverständigenkommission zum Ersten Engagementbericht der Bundesregierung folgendermaßen beschrieben: "Die Bürgerin bzw. der Bürger wird nicht nur als Leistungsempfänger und Konsument, sondern als aktiver, eigensinniger und relativ selbst bestimmter Koproduzent im System des gesellschaftlichen Bedarfsausgleichs betrachtet."

Die Not – die Löcher in den sozialen Netzen, die finanzielle Austrocknung der Kommunen – wird so zur gleichermaßen verwaltungstechnischen wie demokratischen Tugend umgedeutet. Mehr Teilhabe, mehr Einfluss, mehr Integration Ausgegrenzter, mehr Partizipation, größere Chancen, individuelle Kreativität einzubringen, Qualitätssteigerung der öffentlichen Dienste durch Innovationspotenzial der Freiwilligen – wenn die Bürgerschaft vor Ort aktiv wird, sind laut Governance-Konzepten die segensreichen Folgen zahlreich. Religiös oder philanthropisch begründete Rechtfertigungen für Engagement spielen demgegenüber nur noch eine Nebenrolle.

In der real existierenden "Bürgergesellschaft" findet sich jedoch wenig, was die Erwartungen an mehr Partizipation und Mitsprache rechtfertigt. Meist erinnern sich Politik und Verwaltung an die "Aktivbürgerschaft", wenn es mit den Kommunalfinanzen bergab geht oder das unterfinanzierte Pflegesystem seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Partizipation und Eigensinn stoßen jedoch schnell an Grenzen, sobald die Bürgerinnen und Bürger kommerziellen Interessen ins Gehege kommen. Die "Wutbürger" gegen die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in den Untergrund werden eher nicht als "Ko-produzenten im System des gesellschaftlichen Bedarfsausgleichs" gesehen.

Freiwilligenarbeit – Lösung für Finanznot und Personalmangel?

Vier große gesellschaftliche Bereiche sind es vor allem, die sich inzwischen in erheblichem Umfang auf das ehrenamtlich-freiwillige Engagement stützen: die Kommunen einschließlich der in ihrem Umfeld angebotenen kulturellen Dienste, der Bildungssektor, Kranken- und Altenpflege, schließlich der soziale Sektor im engeren Sinn, die Arbeit mit Armen, Obdachlosen oder Flüchtlingen.

Kommunen.

Leere Kassen gehören in der Mehrzahl deutscher Kommunen zum Alltag. Das Geld, das man aus eigener Steuerhoheit generiert beziehungsweise von Bund oder Land erhält, reicht bestenfalls für die stetig steigenden Sozialausgaben, die die Kommunen zu leisten verpflichtet sind. Am ehesten lässt sich noch an den sogenannten freiwilligen Leistungen sparen. Die Folgen sind bekannt: Schlaglöcher in den Straßen, ungepflegte Parks, marode Museen, geschlossene Büchereien und Schwimmbäder. Ein Ausweg aus dem Dilemma scheint darin zu liegen, manches, was bisher aus kommunalen Haushalten finanziert wurde, zu privatisieren, oder zumindest private Sponsorengelder in großem Umfang einzuwerben, etwa um Museen weiter betreiben zu können. Eine weitere Möglichkeit liegt in der Nutzung freiwilligen Engagements. Wer in überschuldeten Gemeinden noch Wert auf einen gepflegten Park legt, wird immer häufiger gebeten, den Müll dort selbst einzusammeln und die Beete umzugraben. Städtische Museen versorgen sich über ihre Fördervereine mit ehrenamtlichen Kassierern, Verkäuferinnen im Museumsladen oder Aufsichtspersonal. In kleineren Gemeinden können kommunale Büchereien oder Schwimmbäder nur überleben, weil sie von Fördervereinen ehrenamtlich betrieben werden. Zu Kultur und Freizeiteinrichtungen, die ohne Ehrenamtliche nicht mehr existierten, kommt in ländlichen Gebieten der "Bürgerbus" als Ersatz für den ausgedünnten öffentlichen Personennahverkehr hinzu.

Großstädte müssen sich seit Längerem der Herausforderung stellen, dass bis zu einem Viertel ihrer Bewohnerschaft aus armen Menschen besteht, Alleinerziehenden, Erwerbslosen, Migranten, Menschen mit Suchtproblemen. Mit Konzepten wie Quartiersmanagement und Sozialraumorientierung versuchen die Städte, die Lebensqualität in sozial benachteiligten Vierteln zu verbessern. Hauptamtliche Sozialraumkoordinatoren und -koordinatorinnen leisten der Bewohnerschaft Hilfe zur Selbsthilfe, etwa um ein Mieternetzwerk aufzubauen, Jugendzentren zu betreiben oder Deutschkurse für Mütter mit Migrationshintergrund zu organisieren. Die Bewohnerschaft bei der ehrenamtlich zu leistenden Selbsthilfe zu unterstützen, ist ein wichtiger Baustein in dem Bemühen, das Lebensumfeld in den Quartieren und das Selbstbewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern, kann aber auf Dauer kein Ersatz sein für fehlende existenzsichernde Erwerbsarbeit, bezahlbaren Wohnraum und bessere Bildungsangebote, kurz: für politische Lösungen der sozialen Problematik.

Bildung.

Trotz inzwischen verbesserter Ergebnisse in internationalen Vergleichsstudien wie PISA versagen deutsche Grundschulen weiterhin bei der Aufgabe, allen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Immer mehr Schulkinder haben Förderbedarf. Im vorschulischen Bereich fehlen trotz großer Anstrengungen seitens des Bundes weiterhin Krippen- und Kitaplätze, Erzieherinnen sind im internationalen Vergleich mangelhaft ausgebildet und schlecht bezahlt, die Gruppen in Kitas und die Klassen in den Schulen sind zu groß, um Kinder individuell zu fördern.

Mit großer Selbstverständlichkeit wird davon ausgegangen, dass freiwillig Engagierte die jahrelangen Versäumnisse in der Schul- und Bildungspolitik ausbügeln. Bundesweit gehen täglich Tausende Ehrenamtliche in Schulen, um mit Kindern Lesen und Schreiben zu üben, oft pensionierte Lehrerinnen und Lehrer. Musik- oder Sportunterricht kann häufig nur dank Spendengeldern oder Freiwilligen stattfinden. Wissenschaftlich fundierte Nachweise, ob Lesepatenschaften beziehungsweise Lesementoring tatsächlich zur Kompetenzerweiterung von Kindern und Jugendliche führen, liegen nicht vor.

Pflege.

Für den großen Personalmangel im Bereich Gesundheit und Pflege gibt es mehrere Gründe. Die demografische Entwicklung, die mit einer steigenden Zahl hilfsbedürftiger alter Menschen einhergeht, ist nur einer. Die Wohlfahrtsverbände, traditionell die Ausführenden im deutschen Sozialstaatssystem, wurden durch Fallpauschalregelungen und die Öffnung des Marktes für private Anbieter unter Druck gesetzt und sparen am Personal. Die Fachkräfte, überwiegend Frauen, müssen in einem engen Zeitrahmen standardisierte Pflegeleistungen erbringen und diese lückenlos dokumentieren. Es fehlt die Zeit für Gespräche, Empathie, Zuwendung. Was den Beruf einmal attraktiv machte, nämlich sich um Menschen zu kümmern, wird jetzt delegiert, an die "Grünen Damen und Herren" im Krankenhaus und unterschiedliche Gruppen von Ehrenamtlichen in der Altenpflege.

Die Sicherung einer halbwegs humanen Altenbetreuung durch Ehrenamtliche ist nicht als kurzfristige Überbrückung eines Notstands gedacht, sondern als Dauerlösung angelegt. In verschiedenen Pflegeleistungsneuausrichtungs- und -ergänzungsgesetzen der vergangenen Jahre wurde der sogenannte Pflegemix rechtlich verankert: Das die Pflegeleistungen regelnde Sozialgesetzbuch (SGB) XI setzt in mehreren Paragrafen auf niederschwellige Betreuungsangebote, wozu ausdrücklich auch die Förderung ehrenamtlicher Strukturen gehört, das heißt, die Pflegekassen erstatten den Trägern Ausgaben für die Rekrutierung, Ausbildung und Betreuung der "Pflegeehrenamtlichen".

Soziales.

Vor allem aber boomt das Ehrenamt im klassischen Bereich des Sozialen. Seit den drastischen Umstellungen und Kürzungen der Sozialetats um die Jahrtausendwende läuft in dem komplexen Zusammenspiel von kommunalen Ämtern, Sozialversicherungsträgern, Wohlfahrtsverbänden und Freien Trägern sozialer Dienste nichts mehr ohne Freiwillige. Gleichzeitig wächst das Aufgabenspektrum, weil die Zahl der Armen und Hilfsbedürftigen steigt. Neue von Bund oder Land aufgelegte Programme sollen helfen, ausreichend Geld steht aber selten zur Verfügung. Also werben die Kommunen beziehungsweise die von ihnen beauftragten Träger Engagierte ein, die die Arbeit umsonst oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung leisten.

Bundesvorgaben erleichtern auch hier den Zugriff auf die Ressource Ehrenamt. Die "Bundesinitiative frühe Hilfen", basierend auf dem Kinderschutzgesetz von 2012, unterstützt beispielsweise lokale Netzwerke im Kampf gegen Kindesvernachlässigung und Misshandlung und verweist dabei ausdrücklich auf die Förderfähigkeit von Ehrenamtsstrukturen. In Köln arbeitet in diesem Rahmen das "KiWi"-Kinderwillkommensprogramm. Familien von Neugeborenen werden aufgesucht und die Eltern über Hilfsangebote und ärztliche Versorgung informiert, klassische, präventive, aufsuchende Sozialarbeit also, die viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen erfordert. In Köln wird sie aber von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Wohlfahrtsverbände nach einer Kurzausbildung geleistet.

So gut wie vollständig auf Ehrenamtlichkeit bauen die vielen privaten oder kirchlichen Initiativen im sozialen Bereich: Obdachloseninitiativen, Flüchtlingsunterstützerkreise, Kindermittagstische, die "Tafeln".

Monetarisierung des Ehrenamts

Trotz ständiger Werbung für das Ehrenamt ist Gratisarbeit nicht für alle selbstverständlich. Daher wird immer öfter mit Aufwandsentschädigungen aller Art gelockt. In der Gruppe der besonders umworbenen jüngeren Rentnerinnen und Rentner gibt es viele mit niedrigem Einkommen, die auf ein finanzielles Zubrot angewiesen sind. Sie arbeiten häufig als Thekenhilfe im Altencafé oder bei der Entlastung der Angehörigen von Demenzkranken auf Basis der sogenannten Übungsleiterpauschale des Einkommenssteuergesetzes, wonach nebenberuflich tätige beziehungsweise ehrenamtliche Trainer in Sportvereinen, Chorleiterinnen, aber auch Erzieher und Betreuerinnen bis zu 200 Euro im Monat steuer- und abgabenfrei einnehmen dürfen. Die zusätzlichen Betreuungskräfte für Pflegebedürftige nach SGB XI werden häufig von den Verbänden – nach einem Orientierungspraktikum und einer Kurzausbildung – auf 450-Euro-Basis beschäftigt. 2010 wurde eine Praxis, unter anderem der Arbeiterwohlfahrt, bekannt, Mini-Jobs in der Altenpflege mit Aufwandsentschädigungen in Höhe der Übungsleiterpauschale zeitlich und finanziell aufzustocken. Das rief zunächst Empörung hervor, denn hier wurden offensichtlich Steuererleichterungen für die Förderung des Ehrenamts zur Senkung von Personalkosten missbraucht. Die Kombination von Mini-Job und "Ehrenamt" ist aber legal, so sehen es zumindest die Geringfügigkeitsrichtlinien der Sozialversicherungsträger vor. Für ehrenamtlich Tätige gilt im Übrigen nicht das am 1. Januar 2015 in Kraft getretene Mindestlohngesetz.

Dienste wie der BFD tragen ebenfalls dazu bei, die Grenzen zwischen Ehrenamt und dem Sektor prekärer Beschäftigung zu verwischen. Das Taschengeld von zurzeit maximal 363 Euro im Monat ist vor allem in den ostdeutschen Bundesländern eine Alternative zur Arbeitslosigkeit. Offiziell sollen der BFD ebenso wie die Jugenddienste FSJ und FÖJ arbeitsmarktneutral sein, das heißt, keine regulären Arbeitsplätze ersetzen. Viele Basistätigkeiten in der Grünpflege, bei Seniorenfahrdiensten, beim Mittagstisch in Kitas und Schulen, auch einfache Tätigkeiten in der Pflege, in Büchereien, Obdachlosencafés oder an den Kassen von Bädern oder Theatern sind eigentlich Erwerbsarbeitsplätze, für die auch gering qualifizierte oder fachfremde Arbeitslose eingestellt werden könnten.

Von der "Bürgerkommune" zur "Engagementlandschaft"

Engagementpolitik ist vor allem in der Amtszeit von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (2009 bis 2013), in Verzahnung mit Landesregierungen und Kommunen, zu einem zentralen Politikfeld geworden: "Nationale Engagementstrategie", "Nationales Forum für Engagement und Partizipation", Bundesfreiwilligendienst, "Erster Engagementbericht", "Freiwilligendienst aller Generationen", "Engagierte Stadt" – so lauten die Namen wichtiger Initiativen und Projekte auf Bundes- und Länderebene seit 2009.

Auf nichtstaatlicher Seite ist ein Kranz unterschiedlichster Institutionen und Anbieter damit beschäftigt, Freiwilligkeit und Bürgersinn zu fordern, Zivilgesellschaft und Spendenfreude anzuregen, zu vermitteln, zu begleiten, zu beforschen, zu propagieren und zu subventionieren.

Kommunikationsagenturen und Projektbüros, Freiwilligenbörsen und Initiativen, Organisationsberatungen und Weiterbildungseinrichtungen, Koordinierungsstellen und Stiftungen, Internetportale und Universitäten, Forschungseinrichtungen und Netzwerke, Fundraisingagenturen und Verbände – eine ganze Dienstleistungsindustrie arbeitet daran, Deutschland mit einem Netz von "Engagierten Städten", "Sorgenden Gemeinschaften" und "Engagementlandschaften" zu überziehen.

Schluss

Bürgerschaftliches Engagement, die tätige Anteilnahme an dem, was um uns herum geschieht, im Quartier, in der Stadt, im Land, auch jenseits von Wahlen und Abstimmungen, ist in einer Demokratie unverzichtbar. Die Bereitschaft, sich einzusetzen, ist in Deutschland groß, wie sich nicht zuletzt in Notsituationen zeigt, etwa beim Elbe- und Donau-Hochwasser 2013 oder aktuell bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme. Bürgerinnen und Bürger opfern auch viel Zeit und Energie für innovative, selbstbestimmte Projekte und Aktionsformen, von urban gardening über Mitarbeit bei der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia bis hin zu Bürgerprotesten gegen Großprojekte oder die Vernichtung von Landschaft durch den Braunkohleabbau.

Die wichtige Ressource Engagement wird jedoch missbraucht, wenn sie – institutionalisiert und auf Dauer berechnet – dazu dient, die Löcher in den Etats der öffentlichen Daseinsvorsorge zu stopfen und Mängel lediglich zu verwalten, statt sie zu beheben. Ja, die öffentlichen Kassen sind leer, das Gemeinwesen hat sich auf "Schuldenbremsen" und "Schwarze Nullen" festgelegt. Warum jedoch Staat, Kommunen und Wohlfahrtsverbänden das Geld für Infrastrukturmaßnahmen, Bildung oder Soziales fehlt, wird nicht mehr hinterfragt. Denn dann, spätestens, müsste die absurd ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland, die immer breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich in unserem Land, das Missverhältnis zwischen der wachsenden Zahl von Milliardären und die in einigen Landesteilen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausmachende Zahl verarmter Menschen endlich auf die politische Agenda.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Claudia Pinl, Ehrenamt – neue Erfüllung, neue Karriere. Wie sich Beruf und öffentliches Ehrenamt verbinden lassen, Regensburg 2010.

  2. Vgl. Prognos AG/AMB Generali Holding AG, Engagementatlas 09. Daten. Hintergründe. Volkswirtschaftlicher Nutzen, Aachen 2009, S. 13.

  3. Zit. nach: Gisela Notz, "Freiwilligendienste" für alle. Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der "freiwilligen" Arbeit, Neu-Ulm 2012, S. 51.

  4. Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, London, 8.6.1999, Externer Link: http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html (26.2.2015).

  5. Enquete-Kommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements"/Deutscher Bundestag, Bericht. Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Opladen 2002, S. 77.

  6. Deutscher Bundestag, Erster Engagementbericht – Für eine Kultur der Mitverantwortung. Bericht der Sachverständigenkommission und Stellungnahme der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 17/10580, S. 194.

  7. Vgl. §§45d, 82b und 87b SGB XI.

  8. GKV Spitzenverband/Dt. Rentenversicherung Bund/Bundesagentur für Arbeit et al., Richtlinien für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen Beschäftigungen vom 12. November 2014, S. 38.

  9. Vgl. §22, Abs. 3 Mindestlohngesetz.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Claudia Pinl für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dipl.-Politologin, geb. 1941; arbeitete als Hörfunkjournalistin und politische Referentin; zuletzt erschienen: "Ehrenamt – Neue Erfüllung, neue Karriere. Wie sich Beruf und öffentliches Ehrenamt verbinden lassen" (2010); "Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit" (2013); Raumerstraße 2a, 50935 Köln. E-Mail Link: claudiapinl@web.de