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1980er: Typische Jahre "nach dem Boom" | 1980er Jahre | bpb.de

1980er Jahre Editorial So nah und doch so fern? Die 1980er Jahre historisch erforschen 1980er: Typische Jahre "nach dem Boom" Das Subversive retten. Eine Denkfigur der 1980er Die Renaissance der Nationalen Frage in den 1980er Jahren Aids-Geschichte als Gefühlsgeschichte Politisches Handeln in multiethnischen Gesellschaften und das Erbe der 1980er Jahre: Beispiel Großbritannien Kein neuer Mythos. Das letzte Jahrzehnt West-Berlins Ära Kohl? Eine Kanzlerschaft in den 1980er Jahren

1980er: Typische Jahre "nach dem Boom"

Lutz Raphael

/ 13 Minuten zu lesen

Die Mechanik der Zehnjahresschritte bietet nur trügerische Sicherheit. Historische Zusammenhänge erschließen sich erst, wenn man die 1980er Jahre in den größeren Kontext der Übergangsjahre "nach dem Boom" (1970–2000) einordnet.

Das Denken in Jahrzehnten hat sich so fest in unseren Gewohnheiten verankert, dass das Reden über die 1950er, 60er, 70er oder 80er Jahre, inzwischen sogar über die "Nuller" Jahre, gar nicht mehr hinterfragt wird. Chronisten aller möglichen Dinge und Ereignisse nutzen diese gängige Zeiteinteilung, um ihrer Zusammenstellung und Kommentierung vermeintlich relevanter Sachverhalte, zeitgenössischer Texte, Musikstücke, Fotografien oder Kunstwerke plausible Grenzen zu setzen. Der Sound der 1980er ist genauso plausibel wie die Mode, die Kunst, der Lebensstil oder die Philosophie dieser Dekade. All dies ist Anlass genug, über Folgen und Nebenwirkungen dieser Gewohnheit nachzudenken.

Zeitgeschichte und Dekadenkult

Zeithistoriker sind nicht ganz unschuldig an diesem Zustand unserer Geschichtskultur, haben sie doch frühzeitig die Chancen erkannt, die das Zehnersystem unserer Zeitrechnung ihnen bietet. Angesichts der Unsicherheit, im Fluss der jüngsten Vergangenheit überhaupt Halt zu finden, sinnvolle Abschnitte oder gar Zäsuren bestimmen zu können, bietet die Mechanik der Zehnjahresschritte vermeintlich Sicherheit, so auch im Fall der 1980er Jahre. Natürlich weiß jeder Historiker, dass diese formale Zeitordnung inhaltsleer ist und für sich keinerlei analytischen Gewinn verspricht. Die historische Zeit schreitet nicht in Dekaden voran, die regelmäßigen Wahlzyklen der meisten Demokratien geben andere Taktungen vor; auch die Konjunkturzyklen des Kapitalismus halten sich nicht an die kulturelle Konvention der Dekaden – und politische, soziale oder ideelle Umbrüche schon gar nicht. 1517, 1776, 1789, 1815, 1848, 1905, 1914, 1917, 1933, 1945 – wer sich nur kurz einige wichtige Jahreszahlen der neueren und neuesten Geschichte durch den Kopf gehen lässt, findet bestätigt, was eigentlich allen klar sein sollte: Ein Jahrzehnt als sinnvolle Einheit der zeithistorischen Erörterung zu betrachten, ist mit hohem Risiko verbunden, denn leicht kann man sich dabei lächerlich machen und jeden wissenschaftlichen Kredit verspielen. Man stelle sich Beiträge zur deutschen Geschichte vor, welche schlicht die 1930er oder nur die 1940er Jahre in den Mittelpunkt rücken wollten. Auch die für Historiker naheliegende Option, dann eben kurze oder lange Jahrzehnte zu konstruieren, also die "Dekade" auf sieben, acht Jahre zurechtzustutzen oder auf 13, gar 15 oder 16 Jahre anschwellen zu lassen, ist intellektuell nicht ohne Risiko: Niemand wird die zwölf Jahre des NS-Regimes als "lange Dreißiger" verkaufen wollen.

Das sicherste Gegengift gegen den Biss der Dekadenkobra waren bisher politische Großereignisse: Regimewechsel, Kriegsbeginne und -enden oder internationale Verträge. Für die 1980er Jahre bietet das Doppeljahr der ost- und mitteleuropäischen Revolutionen 1989/1990 eine solche vermeintlich sichere Grenzlinie. Für die politische Geschichte der Bundesrepublik markieren der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung ohne Zweifel eine sinnvolle Zäsur. Dann muss nur noch ein passender Anfang gefunden werden, und schon haben wir unsere 1980er Jahre ordnungsgemäß bestimmt. Der Regierungswechsel 1982 von der sozialliberalen zur christlich-sozialen Koalition bietet sich dafür an, und so könnte man die kurzen 1980er einer westdeutschen Politikgeschichte von den langen 1970er Jahren (die auch bereits das Etikett das "sozialdemokratische Jahrzehnt" angehängt bekamen) abtrennen. Diese kurzen 1980er Jahre wären aber – sicherlich ein kleiner Schönheitsfehler – nur der erste Teil der Ära Kohl, deren zweiter Teil ab 1990 müsste dann wiederum als die kurzen 1990er Jahre etikettiert werden und würde dann mit dem Antritt der rot-grünen Koalitionsregierung Schröder vorzeitig 1998 enden.

Hat man diese Gedankenoperation einmal vollzogen, purzeln einem auch schon die passenden Ereignisse und Zusammenhänge in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur entgegen, die eine solche Einteilung in kurze oder lange Jahrzehnte plausibel machen könnten: das Ende der großen Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss, die konjunkturelle Erholung nach der zweiten Ölpreiskrise, der konservative Schwenk des in Feuilleton und Kulturbetrieb sich artikulierenden "Zeitgeists"; all diese Phänomene ließen sich anführen, um das Jahr 1982 als Startjahr stark zu machen – und so könnte man auch jenseits einer ganz eng definierten politischen Ereignisgeschichte dem so selbstverständlichen und pünktlichen Dekadenende einen etwas verspäteten Anfang gegenüberstellen. Wir sehen an diesem Gedankenexperiment: Unweigerlich geraten wir in eine kurzatmige Taktung, die selbst die zehn Jahre einer Dekade zu lang werden ließe. Spätestens mit dem Regierungswechsel 2005 wären wir dann ganz aus dem Takt.

Pluralität historischer Zeiten

Jenseits aller ironischen Reflexion über die kulturellen Stereotype und professionellen Arbeitszwänge, die unserem Reden von "den 1980ern" eingeschrieben sind, bleibt die Frage, wie man diese Jahre eventuell besser in die zeitgeschichtlichen Kontexte einordnen könnte. Die radikalste Antwort lautet: indem man auf die Fiktion verzichtet, es gäbe überhaupt so etwas wie eine gemeinsame Zeiteinheit für die vielen, ganz unterschiedlichen Prozesse, Ereignisketten und Trends dieses Jahrzehnts. Ganz so, wie Flüssigkeiten unterschiedlicher Viskosität andere Fließgeschwindigkeiten haben, so sind auch den verschiedenen historischen Phänomenen ganz unterschiedliche Rhythmen und Zeiteinheiten zu eigen. Unsere Zeitgeschichte bestünde dann aus einem bunten Strauß lose miteinander verflochtener Bindestrich-Geschichten (Wirtschafts-, Kunst-, Sport- und andere Geschichten mehr) mit ihren eigenen Anfängen, Zäsuren und Krisenjahren. Eine solche Pluralisierung der Zeitläufe zerstört am Ende unsere Vorstellung von der einen Zeit, der einen Geschichte: Man hat dann nur noch Fragmente unterschiedlichster zeitlicher Länge und räumlicher Ausdehnung vor Augen. Damit können Spezialisten für Detailfragen – etwa: Wann wurden die Finanzmärkte dereguliert? Wann geriet die soziale Altersversorgung "in die Krise"? – und Bindestrichhistoriker bestens leben, aber der Preis ist hoch. Denn wir verlieren jeden Halt bei dem Versuch, Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und Trends zu verstehen und die Einsicht in solche Rückkoppelungen und Wechselwirkungen auch in ein Gesamtbild zeitlicher Abläufe einzubringen.

Es gibt eine zweite Option: Die Dekaden der Zeitgeschichte können in größere Zusammenhänge eingeordnet werden. Was wir für ältere Epochen selbstverständlich machen, muss auch die jüngste Zeitgeschichte leisten, so risikoreich das Unternehmen ist, weil viele der zu beachtenden Trends noch gar nicht vergangen, sondern Teil unserer Gegenwart sind. Die 1980er Jahre sind, so die hier vertretene These, besser zu verstehen, wenn man sie in den größeren epochalen Zusammenhang der Veränderungen einordnet, welche ihren Ausgangspunkt in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren haben. Man könnte deshalb die Jahre 1968 und 1973 mit ihren jeweiligen Schlüsselereignissen (studentische Protestbewegung und Ölkrise) als symbolische Ausgangspunkte für eine neue Phase der jüngsten Zeitgeschichte Westeuropas und der Bundesrepublik wählen. Der Zeitbogen reicht also von den späten 1960er Jahren bis an den Beginn unseres Jahrhunderts, vielleicht sogar bis in unsere Gegenwart. "Nach dem Boom" ist ein bewusst offener Namensvorschlag, den ich gemeinsam mit Anselm Doering-Manteuffel für diese Zeitspanne vorgeschlagen habe. Die Leitideen, die einem solchen Periodisierungsvorschlag zugrunde liegen, sollen hier nur kurz zusammengefasst werden, um die anschließenden Überlegungen zur Bedeutung der 1980er Jahre verständlicher zu machen.

Epoche "nach dem Boom"

In einer Betrachtungsweise, wie sie hier vertreten wird, sind Veränderungen auf der Ebene der politischen Ordnung der kapitalistischen Weltwirtschaft für das Verständnis der Dynamik und der Richtung der vielfältigen Veränderungen in Gesellschaft und Politik zentral. Dabei ist es weniger das schlichte Wachstum grenzüberschreitender Waren- und Kapitalströme, sondern der Wandel in den Regeln und Größenordnungen dieser Austauschprozesse. Größte Bedeutung kommt dabei den Veränderungen in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat zu, mit dem Ergebnis, dass sich überall die nationalspezifischen institutionellen Rahmungen des Kapitalismus wandelten.

Ausgangspunkt ist das langsame Ende des Systems von Bretton Woods, das den Rahmen für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre bildete. Die 1944 vereinbarte internationale Währungsordnung mit den Eckpunkten fester Wechselkurse und der Goldbindung des US-Dollars erodierte in den späten 1960er Jahren und wurde Anfang der 1970er Jahre endgültig aufgegeben. Damit begann in der internationalen Währungspolitik eine Phase der Experimente und Unsicherheit. Sie eröffnete in den meisten Ländern der westlichen Welt eine Periode der "großen Inflation" und führte zur Rückkehr tief greifender Rezessionen. Unter anderem die Ölkrisen eröffneten eine Phase ökonomischer Umstrukturierungen und Umbrüche, die zugleich eine weltweite Neuorientierung nationaler Wirtschaftspolitiken einleiteten. Die Liste der Änderungen ist lang: Abkehr von keynesianischen Konzepten der Globalsteuerung mit dem Ziel der Vollbeschäftigung, Stabilisierung der Währungen durch eine restriktive Geld- und Kreditpolitik der Zentralbanken, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Deregulierung der internationalen Finanzmärkte und Börsenplätze, fiskalische Entlastung von Unternehmen und Kapitalanlegern. Diese wirtschaftspolitischen Prinzipien verdichteten sich zu einem Expertenkonsens, dessen ideologische Rechtfertigung in einem ebenso diffusen wie medial breitenwirksamen "Neoliberalismus" seinen Niederschlag gefunden hat. Begleitet waren diese Veränderungen von der wachsenden Verschuldung öffentlicher Haushalte, nicht zuletzt wegen hoher Sozialausgaben und sinkender Steuerquoten.

Diese Veränderungen der Regelwerke vollzogen sich im Rahmen eines beständig wachsenden Welthandels und gingen mit gravierenden Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung für industrielle Produkte und Dienstleistungen einher (etwa mit der Verlagerung großer Teile der Produktion aus den USA und Europa nach Asien). Parallel veränderten sich die Beziehungen zwischen Kapitalanlegern, Unternehmen und Banken. Im Bereich der Großunternehmen entstand ein neues Modell der Unternehmenskontrolle durch die Kapitalanleger: der sogenannte Finanzmarktkapitalismus. Im Gegenzug wurde die enge Verknüpfung zwischen Industrieunternehmen und Banken aufgelöst. In bislang nicht gekanntem Maße bestimmten nun internationale Finanzmärkte über Investitionsentscheidungen und Anlagestrategien.

Eine wesentliche Rahmenbedingung für den Erfolg dieses neuen Modells war die Entwicklung digitaler Technologien in Produktion, Kommunikation und Datenvernetzung, die Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen in zahlreichen Sektoren ermöglichte. Aber auch die Veränderungen gesellschaftlicher Leitvorstellungen spielten eine Rolle: Der sogenannte Wertewandel der westlichen Gesellschaften hatte seine Grundlage in der Verschiebung der Koordinaten im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Die erwarteten Spielräume, aber auch die Zumutungen an Eigenverantwortung und autonome Handlungsfähigkeit wurden für den Einzelnen größer. Diesem Wandel im Menschenbild entsprach ein Wandel im Gesellschaftsbild: Soziale Einbindungen, kollektive Zusammenhänge traten in den Hintergrund. Betont wurden die Flexibilität sozialer Arrangements und die Chancen individueller Gestaltungskraft. Zur kritischen Norm guter sozialer und politischer Ordnung mit universellem Geltungsanspruch stiegen nun die "Menschenrechte" auf, die zu einem Schlüsselbegriff der westlichen Werteordnung wurden. Angesichts des weiter wachsenden Reichtums und Konsums in den westlichen Industriezentren kam den symbolischen Umdeutungen und den kulturellen Dynamiken, die mit dieser Verschiebung verbunden waren, große Bedeutung zu.

Für unsere Frage nach dem Platz der 1980er Jahre in diesem längerfristigen Prozess ist die Beobachtung zentral, dass sich die genannten Großtrends in unterschiedlichem Tempo vollzogen: Manche Länder, manche Branchen und Berufe waren stärker und früher davon berührt als andere, entsprechend lösten sie ganz unterschiedliche politische, soziale und kulturelle Begleitphänomene aus. Erst nach einem Zeitraum von etwa drei Jahrzehnten nahmen die neuen Ordnungsmuster feste Formen an: Die neuen "neoliberalen" Welten (immer noch stark geprägt von regionalspezifischen Besonderheiten) der Globalisierung wurden sichtbar, und ihre Familienähnlichkeiten untereinander waren nunmehr größer als in der Übergangsphase "nach dem Boom". Gerade das politökonomische Programm der Europäischen Union hat sich im Zuge von Osterweiterung, Aufbau liberaler Marktwirtschaften in Mittel- und Osteuropa, Herstellung des europäischen Binnenmarktes und schließlich der Währungsunion zu einem regionalen Zentrum dieser neuen Ordnung entwickelt.

Kontext der Strukturbrüche

Wie lassen sich die 1980er Jahre in diesen größeren Zusammenhang einordnen? In vielerlei Hinsicht können sie als "Durchgangsphase" oder "Normaljahre" bezeichnet werden, in denen sich wichtige Trends weiterentwickelten, die ihre Wirkung dann aber erst in den nächsten zehn bis 15 Jahren voll entfalteten. Mehr als das, nämlich Schlüsseljahre, waren die 1980er Jahre aber auf dem Feld der politischen Ökonomie. Die Abkehr von einer inflationstoleranten Wirtschafts- und Währungspolitik vollzog sich vor allem überall dort dramatisch, wo die Inflation der 1970er Jahre besonders hoch gewesen und von niedrigem Wirtschaftswachstum begleitet worden war. In den USA und dem Vereinigten Königreich verlief dieser Wechsel zur Politik des harten Geldes besonders spektakulär, da er mit einer programmatischen Wende hin zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik durch neue konservative Regierungen (Reagan/Thatcher) verbunden war. Weltweite Folgen hatte dabei insbesondere der Schwenk der US-Notenbank zu einer Hochzinspolitik. Er löste eine internationale Schuldenkrise aus, die zunächst die südamerikanischen und afrikanischen Länder traf.

Die 1980er Jahre waren denn auch die Jahre, in denen sich ein neues neoliberales Krisenbewältigungsszenario entwickelte, das am Ende des Jahrzehnts als "Washington Consensus" programmatisch ausbuchstabiert wurde: Die Rettungskredite der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds oder einzelner westlicher Kreditgeber wurden nur noch gewährt, wenn sich die betroffenen Länder zu einschneidenden Sparprogrammen ihrer öffentlichen Haushalte, zur Deregulierung ihrer Märkte, zu Privatisierungen und zur freundlichen, wenn nicht bedingungslosen Aufnahme ausländischer Direktinvestoren bereitfanden. Anders als in der aktuellen Eurokrise spielte die Bundesrepublik bei der Durchsetzung dieser Weltkreditordnung keine führende Rolle, die Bundesbank trat aber in der Rolle des Musterschülers und frühesten Anhängers einer solchen stabilitätsorientierten Kredit- und Währungspolitik auf. In Europa hatte diese Politik unmittelbare Folgen für die sozialistischen Staaten Osteuropas: Die steigenden Zinsen verschärften die Zwangslagen, in denen sich Staatsökonomien von Polen, Ungarn oder der DDR ob ihrer Schuldenlast befanden. Niedergang des Staatssozialismus und Formierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells auf internationaler Ebene verliefen in diesem Jahrzehnt parallel und bereiteten den Boden für die radikalen Umbrüche beziehungsweise Zusammenbrüche, die wirtschaftlich auf die demokratischen Revolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa folgten.

Schlüsseljahre waren die 1980er Jahre auch mit Blick auf die vielfältigen kulturellen und sozialen Verschiebungen, welche darauf hinausliefen, die antiautoritären, antiinstitutionellen Impulse, die mit dem Jahr 1968 verbunden waren, in Richtung marktfreundlicher und stärker individueller, ja individualistischer Projekte zu lenken. Die Entdeckung von Individualität prägte in den 1980er Jahren auch immer größere Bereiche des Konsumverhaltens. Es fällt dennoch schwer, den 1980er Jahren eine besondere Rolle in einem längerfristigen Trend der westlichen Konsumgeschichte zuzuschreiben: Marketing und Produktdesign gewannen stetig an Bedeutung, und es ist sicherlich kein Zufall, dass in diesem Jahrzehnt die Vielfalt der "Konsumstile" als eigenständige Dynamik der aktuellen Gesellschaft "entdeckt" und die bunte Welt individueller Kaufentscheidungen zu ordnen versucht wurde, um so für Unternehmer wie Soziologen gleichermaßen interessante Einsichten in "Lebensstile" zu gewinnen, denen eine hinreichend große Zahl von Anhängern zuzuschreiben war. Die Bundesrepublik entdeckte sich als buntes und vielfältiges Konsumland neu, und die Mehrheit der Älteren machte nun ihren Frieden mit den in den 1970er Jahren noch als provokant empfundenen alternativen Lebensstilen. Jugendliche konnten nun auf größtes Verständnis und marktorientierte Aufmerksamkeit rechnen, wenn sie die Vielfalt ihrer musikbasierten Szenestile weiterentwickelten und ihnen ein breites Angebot konsumgestützter Jugendstile den Weg in die immer noch monotonere Erwachsenenwelt erleichterte.

Fazit: "Normaljahre" einer Übergangsphase

Welche Bedeutung kann man dem Jahrzehnt im hier skizzierten größeren Zeithorizont "nach dem Boom" übergreifend also zuschreiben? "Schlüsseljahre", deren Spuren bis zur Gegenwart hinein spürbar bleiben, das wäre sicherlich die angemessene Bezeichnung für die Ära Thatcher in Großbritannien oder die Zeit der Reagan-Präsidentschaft in den USA, wirkt aber für die Bundesrepublik für die erste Phase der Ära Kohl deutlich überzogen. Deren Bilanz ist viel stärker von Kontinuitäten und Kompromissen geprägt, als es die Zeitgenossen selbst wahrnahmen. Auch die gesellschaftlichen Entwicklungen folgten eher älteren Trends, oder aber neue Entwicklungen standen gerade mal am Beginn. Für die endgültige Verschiebung der Gewichte zwischen Neuem und Altem, zwischen Kontinuität und Bruch sorgten in der Bundesrepublik erst die 1990er Jahre mit den Folgen der Wiedervereinigung, der nächsten Konjunkturkrise und den sich inzwischen kumulierenden Prozessen des Wandels. Hier ist dem Historiker Philipp Ther zuzustimmen, der die wiedervereinigte Bundesrepublik in die Geschichte der Umbrüche der postsozialistischen Staaten einbezieht. Erst nach 1990 kam es europaweit zum Durchbruch der neuen neoliberalen Ordnungsmuster, und diese zweite neoliberale Welle veränderte dann auch Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre zusehends.

Die 1980er Jahre lassen sich also eher als durchschnittliche Jahre der Ära "nach dem Boom" bezeichnen. Sie waren "Normaljahre", weil viele Trends eher unspektakulär weiterliefen, neue Entwicklungen wie die Verbreitung von PCs eher unauffällig begannen. Wer nach scharfen Zäsuren sucht, wird enttäuscht: In allen Bereichen war das Beharrungsvermögen derer, die in den 1970er Jahren dominante Positionen in ihren jeweiligen Bereichen erringen konnten, noch zu stark, um tief greifende Umbrüche oder Neuorientierungen zuzulassen. Normaljahre waren die 1980er Jahre auch insofern, als sich während dieser Zeit eine Pluralisierung von Lebensformen weiterentwickelte, die wesentlich zur Anpassungsfähigkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft an die sich beschleunigenden globalen ökonomischen Umbrüche beitrug. Viele dieser eher unspektakulären Geschichten pragmatischer Anpassung und Innovation lassen sich in westdeutschen Betrieben beobachten, die in den 1980er Jahren in eine Phase lang anhaltender Umstrukturierungen eintraten.

Am deutlichsten und lautesten setzten sich zweifellos die Protagonisten des Zeitgeistes von den vorangegangenen Jahrzehnten ab. Die Zeitgeistdenker segelten nun gern unter der Flagge der Postmoderne und markierten damit zugleich ihre Abkehr von den vermeintlich schlichten und gescheiterten Fortschrittsprogrammen der Boomjahre wie auch von der marxistischen Kritik der 1970er Jahre. Häufig verharrten sie im Modus selbstreflektierter Ratlosigkeit oder programmatischer Offenheit angesichts der vielfältigen, aber noch keineswegs überschaubaren neuen und alten Trends. Wie keiner anderen zeitgenössischen Sozialphilosophie gelang es den Vertretern der Postmoderne, die Auflösung "verkrusteter" Ordnungsmuster, vor allem jedoch die Zwischenlage und den Schwebezustand zu artikulieren, in dem sich Gesellschaft, Kultur und Politik angesichts der widersprüchlichen Impulse seit dem Ende des Booms befanden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Alexandra Sgro, Die bunten 80er Jahre – Vokuhila und Tennissocken, Berlin 2012; Dieter Rehnen, Die sagenhaften Achtziger, Düsseldorf 1999.

  2. Vgl. Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 80er Jahre, München 2005; Meik Woyke (Hrsg.), Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland währen der 1980er Jahre, Bonn 2013.

  3. Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, Bonn 2011.

  4. Als überzeugendes Beispiel für eine solche Einteilung vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, Stuttgart 2006.

  5. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20133; Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014.

  6. Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Berlin 2013.

  7. Vgl. David Harvey, A Short History of Neoliberalism, Oxford 2005; Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus, Stuttgart 2008.

  8. Vgl. Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus, Wiesbaden 2005.

  9. Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent, Berlin 2014; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 226–269.

  10. Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, München 2009, S. 405–424.

  11. Vgl. P. Ther (Anm. 9).

  12. Vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 149–235.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Lutz Raphael für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dr. phil., geb. 1955; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, Fachbereich III, 54286 Trier. E-Mail Link: raphael@uni-trier.de