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Relevanz einer "neuen Nachhaltigkeit" im Kontext globaler Ernährungskrisen | Hunger | bpb.de

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Relevanz einer "neuen Nachhaltigkeit" im Kontext globaler Ernährungskrisen

Steven Engler Anna Bönisch Esther Trost

/ 14 Minuten zu lesen

Frühere Anstrengungen, globalen Ernährungskrisen zu begegnen, hatten mäßigen Erfolg. Die Ausrichtung auf eine "neue Nachhaltigkeit" bietet hingegen Chancen, Ernährungssysteme langfristig resilienter zu gestalten.

Hunger in der Welt ist ein Dauerthema öffentlicher und medialer Diskurse. Hunger beziehungsweise Unterernährung, von der wir im Folgenden sprechen werden, ist dabei lediglich ein Phänomen der globalen Ernährungskrisen. Diese sind viel komplexer, facettenreicher und schwerer zu bekämpfen, als es bereits die Unterernährung alleine wäre. Kurz gesagt, die globalen Ernährungskrisen, die sich – entgegen der Trends im Bereich der Unterernährung – weiter verschärfen, sind mehrdimensional. Insbesondere vier Dimensionen sind von Relevanz, um sich einem komplexen Verständnis der Ernährungskrisen zu nähern.

Die erste Dimension der globalen Ernährungskrisen stellen ihre Ausprägungen dar. Neben Unterernährung und Überernährung, die selbsterklärend sind, gibt es in dieser Dimension noch das Problem des verborgenen Hungers. Er zeichnet sich durch einen "Mangel an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen (Mikronährstoffen)" aus. Über einen längeren Zeitraum führen diese Mangelerscheinungen zu erheblichen gesundheitlichen Folgeerscheinungen. Der verborgene Hunger ist aber kein Problem, das auf Unterernährung begrenzt ist, denn er kann auch bei einer "ausreichenden oder übermäßigen Aufnahme an Nahrungsenergie aus Makronährstoffen, wie Fetten und Kohlenhydraten" auftreten. Bereits hier zeigt sich, dass das Problem der Mangelernährung durchaus auch reichere Länder betrifft. Weltweit leiden mehr als zwei Milliarden Menschen an verborgenem Hunger.

Die zweite Dimension ist geprägt von Herausforderungen an aktuelle und zukünftige Ernährungssysteme und Ernährungsweisen. Dazu zählen unter anderem die Ressourcenverknappung, der Bevölkerungsanstieg, der Flächenverbrauch von verschiedenen Anbauweisen und der Klimawandel.

Die dritte Dimension befasst sich mit der Zeitabhängigkeit von Ernährungskrisen. Ernährungskrisen gab es bereits in der Vergangenheit, es gibt sie aktuell und es wird sie auch zukünftig noch geben. Die anderen Dimensionen einer Ernährungskrise müssen also immer in ihrem zeitlichen Kontext betrachtet und verstanden werden, um adäquate Lösungsstrategien zu entwickeln.

Die vierte Dimension besitzt eine geografische Komponente. Die vielen Ernährungskrisen weltweit (Unterernährung, Überernährung, verborgener Hunger) werden häufig akkumuliert und als globale Ernährungskrise gefasst. Sinnvoller erscheint es uns aber, von vielen einzelnen Ernährungskrisen in einem globalen Rahmen zu sprechen. Deshalb ist es auch nicht zweckmäßig, im Ernährungsbereich stets in den Globalen Norden und den Globalen Süden einzuteilen. Ernährungskrisen sind konflikthaft, unter anderem weil sie oft nicht daraus resultieren, dass zu wenig Nahrung verfügbar ist, sondern auf Verteilungskonflikte innerhalb und zwischen Staaten verweisen. Alle vier Dimensionen sind eng miteinander verwoben.

Der Blick auf diese vier Dimensionen verdeutlicht, dass Ernährungskrisen sich in einem komplexen Netz von Einflussfaktoren abspielen. In den vergangenen 45 Jahren wurden auf internationaler politischer Ebene verschiedenste Anstrengungen zur Bekämpfung des weltweiten Hungers unternommen; zu den bekanntesten zählen die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) der UN. Viele der Maßnahmen zeitigten allerdings nur mäßigen Erfolg. Gleichzeitig drohen globalisierte Herausforderungen – insbesondere der Klimawandel und seine Folgen – heutige Ernährungssysteme weiter zu destabilisieren und globale Ernährungskrisen zu entgrenzen.

Der Begriff der "Nachhaltigkeit" gewinnt an Relevanz im Diskurs um globale Ernährungskrisen. Gleichzeitig lässt sich im Nachhaltigkeitsdiskurs der vergangenen Jahre ein Trend erkennen, die Umweltdimension (eine der drei Säulen des klassischen Nachhaltigkeitsverständnisses, neben der ökonomischen und der soziokulturellen Dimension) als notwendigen Rahmen der Entwicklung menschlicher Gesellschaften stärker hervorzuheben. Dieser Entwicklung liegt die Idee zugrunde, dass in einer Reihe von Teilbereichen, etwa der Nutzung fossiler Energien, ein zügiges und profundes Umschwenken hin zu nachhaltigen Produktions- und Konsummustern nötig wird. Ansonsten drohen grundlegende Veränderungen im Erdsystem, die die zukünftige Ernährungssicherheit gefährden und zu einer nicht gekannten Ausbreitung von Ernährungskrisen führen könnten.

Im Folgenden analysieren wir daher, inwiefern das Konzept einer "neuen Nachhaltigkeit" zur Bekämpfung beziehungsweise Einschränkung zukünftiger Ernährungskrisen beitragen kann. Nach einer Erläuterung unseres Verständnisses der neuen Nachhaltigkeit untersuchen wir, inwieweit letztere sich in jüngeren Entwicklungen niederschlägt, insbesondere in der internationalen Politik und bei Ernährungstrends auf Konsumentenseite.

Neue Nachhaltigkeit und planetare Grenzen

Auf politischer Ebene ist die hohe Bedeutung, die dem Wandel zu einer neuen Nachhaltigkeit beigemessen wird, durchaus erkennbar. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) spricht von einer dringend notwendigen "Großen Transformation" zu einer nachhaltigen, postfossilen Gesellschaft, deren Ansätze bereits erkennbar seien. Die Strategie "weiter so wie bisher" funktioniere nicht. Der WBGU fordert deshalb "die Schaffung eines nachhaltigen Ordnungsrahmens, der dafür sorgt, dass Wohlstand, Demokratie und Sicherheit mit Blick auf die natürlichen Grenzen des Erdsystems gestaltet (…) werden". Damit spiegelt der WBGU den aktuellen Trend in der Nachhaltigkeitsforschung wider, die Bedeutung der Umweltdimension im klassischen Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit zu betonen.

Veranschaulicht wird dies durch die Diskussion und Erforschung planetarer Grenzen beziehungsweise Leitplanken, die beachtet werden müssen, um Umweltschäden auf einem "akzeptablem Niveau" zu halten. Neun zentrale Grenzen des Erdsystems wurden bislang definiert, und zwar in den Bereichen: Klimawandel; Einführung neuer Substanzen; Abbau der Ozonschicht; atmosphärische Aerosolkonzentration; Ozeanversauerung; Phosphor- und Stickstoffkreisläufe; Süßwasserverbrauch; veränderte Landnutzung; Verlustrate der biologischen Vielfalt. Werden eine oder mehrere der planetaren Grenzen längerfristig überschritten, werden gefährliche "Kipppunkte des Erdsystems" erreicht und es drohen (möglicherweise unwiderrufliche) Umweltentwicklungen.

Für das Thema Ernährungssicherheit und -souveränität sind die planetaren Grenzen besonders relevant. Zum einen tragen aktuelle, nicht nachhaltige Ernährungssysteme beträchtlich dazu bei, dass Grenzen überschritten werden. Zum anderen können durch das Überschreiten von Grenzen die Möglichkeiten der Nahrungsmittelproduktion eingeschränkt werden, etwa durch fortschreitende Ressourcenverknappung und die Auswirkungen des Klimawandels. Hier wird die Relevanz der planetaren Grenzen für die Dimension "Herausforderungen" im oben erläuterten Modell deutlich. Als eines von vielen Beispielen für die Relevanz planetarer Grenzen für Ernährung möchten wir hier den Phosphorkreislauf erwähnen. Als Bestandteil von Düngemitteln ist Phosphor unerlässlich für die Landwirtschaft und damit für die Ernährungssicherheit. Die exzessive Düngung mit Stickstoff und Phosphaten belastet jedoch einerseits Böden und Luft, andererseits gefährdet sie die langfristige Verfügbarkeit der knapp werdenden Phosphorreserven. Als Ausweg wird etwa die vermehrte Rückgewinnung von Phosphor vorgeschlagen, beispielsweise durch das Einpflügen von Ernterückständen, die Kompostierung von Lebensmittelabfällen und die Verwertung menschlicher und tierischer Exkremente.

Zurzeit sind mindestens vier planetare Grenzen – Verlustrate der biologischen Vielfalt, Phosphor- und Stickstoffkreisläufe, Klimawandel und veränderte Landnutzung – überschritten. Wie können die planetaren Grenzen nun von der wissenschaftlichen Theorie und Forschung in der politischen Praxis in Geltung gesetzt werden, welche Herausforderungen müssen bewältigt werden? Hier wird ein global diskutierter und kontrollierter Ansatz nötig sein, da Erdsystemprozesse nicht vor Ländergrenzen halt machen und wesentliche Ursachen von Ernährungskrisen, wie Klimawandel oder Preisschwankungen von Lebensmitteln durch Finanzmarktspekulationen, heute globalisiert sind. Zunächst muss sich die Staatengemeinschaft auf Ziele und nationale Verpflichtungen einigen, anschließend sind die Umsetzung und Kontrolle der Ziele zu klären. Eine Möglichkeit wäre, neue Institutionen zu schaffen, die sich der Geltung planetarer Grenzen widmen. Einen solchen institutionellen Rahmen einzurichten, "could bring some coherence into a highly fragmented institutional landscape", wäre aber vermutlich zu statisch angesichts der Dringlichkeit der Einhaltung der Grenzen. Der WBGU sah in der Gestaltung der Sustainable Development Goals (SDGs) der UN, die auf die MDGs folgen, eine Chance, die Einhaltung der planetaren Grenzen innerhalb eines internationalen Prozesses in die Praxis umzusetzen.

Ansätze einer neuen Nachhaltigkeit in der internationalen Politik?

Der "Kampf gegen den Hunger" steht bereits seit der ersten Welternährungskonferenz 1974 auf der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft. Das erste Ziel der im Jahr 2000 verabschiedeten MDGs lautete "Hunger und extreme Armut beseitigen". Nachdem die MDGs 15 Jahre lang den Rahmen für nationale und internationale Bemühungen zur Bekämpfung des Hungers vorgaben, stand die internationale Staatengemeinschaft vor der Herausforderung, sich auf eine "Post-2015-Agenda" zu verständigen. Nach einem mehrjährigen Diskussionsprozess wurde im September 2015 die "Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung" mit ihren 17 SDGs einstimmig von den UN-Mitgliedsstaaten verabschiedet. Die Reaktionen waren teils euphorisch. So lobte selbst die im Bereich Entwicklung und Umwelt tätige Nichtregierungsorganisation Germanwatch den "kaum für möglich gehaltenen Meilenstein" als "das beste Konzept zur langfristigen Krisenvorsorge, das wir je hatten". Die Agenda umfasst neben den 17 Hauptzielen 169 Unterziele. Auch in der neuen Agenda hat Ernährungssicherung Entwicklungspriorität. Zwei formelle Neuerungen sind besonders relevant:

Untrennbare Verbindung von Entwicklung und Nachhaltigkeit:

Im Gegensatz zu den MDGs integrieren die SDGs ein breites Spektrum von Zielen zur ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung und decken damit die drei Säulen des klassischen Nachhaltigkeitsmodells ab. Gleichzeitig wird Nachhaltigkeit aufgewertet und als ein von Entwicklung untrennbares Konzept verstanden. Man kann also von einem "Paradigmenwechsel zu nachhaltiger Entwicklung" sprechen. Die Agenda vollzieht allerdings keine Wende im Sinne einer neuen Nachhaltigkeit. Zwar werden im Gesamtdokument viele ernährungsrelevante planetarische Grenzen thematisiert (wie Klimawandel, Phosphor- und Stickstoffkreisläufe, Süßwasserverbrauch), deren Einhaltung einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Ernährungssicherheit leisten würde. Doch insgesamt wird ihnen aus Sicht der Kritiker nicht in dem Maße Rechnung getragen, wie es die Dringlichkeit ihrer Umsetzung erfordern würde. Es existiert beispielsweise kein Ziel, die Erdsystemleistungen zu sichern, und kein Satz zur Dekarbonisierung der Weltwirtschaft (Abkehr von der Nutzung kohlenstoffhaltiger Energieträger). Die Ziele, die den Klimawandel, den Schutz von Ökosystemen oder nachhaltige Landwirtschaft behandeln, sind vage gehalten und nennen keine konkreten Grenzwerte.

Universelle und transformative Ziele:

Richteten sich die MDGs noch hauptsächlich an die Regierungen des Globalen Südens, nehmen die SDGs erstmalig auch die OECD-Staaten in die Pflicht, was einen großen Fortschritt darstellt. So erfordern Ziele wie "Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen" fundamentale Veränderungen auch im "Entwicklungsland" Deutschland. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat der Bundesrepublik kürzlich in verschiedenen Nachhaltigkeitszielen Nachholbedarf attestiert. Dies betrifft durchaus auch ernährungsrelevante Bereiche wie den mangelhaften Schutz der Artenvielfalt, einen zu hohen Süßwasserverbrauch und eine landwirtschaftliche Produktion, die durch einen exzessiven Gebrauch von Stickstoff und Phosphaten geprägt ist.

Viele SDGs und Unterziele besitzen einen Bezug zur Ernährungssicherheit. Für die Umsetzung lassen die vergleichsweise offen formulierten und teils widersprüchlichen Ziele große Spielräume, die noch zu Richtungs- und Zielkonflikten führen dürften – etwa, wenn entschieden werden muss, ob eine nachhaltige Landwirtschaft besser durch die Förderung von kleinbäuerlicher Produktion oder durch Investitionen in agrarindustrielle Großprojekte zu erreichen ist; oder welche Priorität dem Ziel "Abbau von Ungleichheit in und zwischen Ländern" eingeräumt wird. Die Verabschiedung der SDGs stellt also nur einen ersten Schritt dar. Indikatoren zur Messung der Fortschritte und passende Monitoringmechanismen sollen bis März 2016 entwickelt werden. Deutschland ist aufgefordert, die Ziele in kohärente nationale Politiken zu übersetzen, beispielsweise im Rahmen seiner "Nachhaltigkeitsstrategie". Für die zukünftige Ernährungssicherheit werden auch die UN-Klimakonferenz im Dezember in Paris sowie die von der Bundeskanzlerin geforderte Dekarbonisierung der Weltwirtschaft von entscheidender Bedeutung sein. Eine Kontroll- und Katalysatorfunktion wird bei all diesen Prozessen zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie einer kritischen Öffentlichkeit zukommen.

Nachhaltige Ernährungstrends?

Bisher haben wir vor allem wissenschaftliche Forschungen und politische Entwicklungen im Kontext der Ernährung betrachtet. Es gibt aber viele weitere Akteure, die zentrale Bedeutung besitzen, wenn es darum geht, nachhaltigen Ernährungssystemen zur Durchsetzung zu verhelfen. Den wichtigsten Akteur stellt aus unserer Sicht die Bevölkerung dar, deren Beitrag wir nun, in gebotener Kürze, betrachten. Wir werden den Schwerpunkt dabei auf einige aktuelle und zukünftige Ernährungstrends legen.

Tabelle: Flächenbedarf von Lebensmitteln pro verzehrfähiger Energie des Produkts (basierend auf den Erträgen in den USA, Fallstudie Bundesstaat New York) (© bpb)

Mit der zunehmenden Urbanisierung gehen auch Herausforderungen hinsichtlich der Ernährungssicherheit einher (beispielsweise Flächenverbrauch, Veränderung der Ernährungsgewohnheiten). In Bezug auf die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung erwarten Experten, dass die Urbanisierung zu einem höheren "Außer-Haus-Verzehr" führen wird. Dies muss aber nicht zwangsweise mit einer Ernährung in Restaurants oder Straßenküchen gleichgesetzt werden. Eine Option könnten gemeinschaftliche Versorgungsküchen in einer Nachbarschaft werden, sodass Essen zum "Gemeinschaftserlebnis" wird. Gleichzeitig steigt der Fleischkonsum in Städten stark an. Letzteres widerspricht in vielen Aspekten dem Nachhaltigkeitsgedanken, etwa im Hinblick auf den Flächenbedarf von Lebensmitteln pro verzehrfähiger Energie des Produkts (Tabelle). Die Zahlen verdeutlichen eine höhere Energieeffektivität pflanzlicher Ernährung pro Quadratmeter – die aktuellen Entwicklungen in Richtung eines höheren Fleischkonsums laufen somit einer nachhaltigen Ernährungsweise entgegen.

Neben der "Außer-Haus-Ernährung" zeichnet sich ein weiterer Trend ab: eine erhöhte Virtualität bei der Nahrungsmittelversorgung. Viele Grundnahrungsmittel, aber auch spezielle Nahrungsmittel, die man im Supermarkt oder Discounter in der Nähe nicht bekommt, werden online bestellt. So nutzen beispielsweise gesundheitsbewusste chinesische Konsumenten das Internet, um gezielt ökologisch produzierte Lebensmittel bei Händlern ihres Vertrauens zu beziehen. Derzeit weiten alle Anbieter ihr Onlineangebot stetig aus, und zahlreiche neue Händler arbeiten rein onlinebasiert, unter anderem um Mietkosten in innerstädtischer Lage zu vermeiden.

Neben dem Ort, an dem wir unser Essen zukünftig kaufen und verzehren, werden sich auch die Produkte drastisch ändern. So wird vermehrt die Möglichkeit einer Ernährung basierend auf Insekten diskutiert. Die FAO sieht Insekten als nützliche, nachhaltige Proteinlieferanten, der beispielsweise im "Kampf gegen den Hunger" von großer Bedeutung sein wird. Aktuell ernähren sich global etwa zwei Milliarden Menschen von Insekten, hauptsächlich in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dieser Trend könnte auf diesen Kontinenten ausgebaut und auf anderen durch Politik und Ökonomie gezielt forciert werden. Es gilt dabei, die Scheu vor Insekten zu überwinden und sie als klima- und landnutzungsschonende sowie energiereiche Ernährungsalternative anzusehen. Neben Insekten stellen Algen eine weitere alternative Ernährungsquelle dar, die auf weit weniger Akzeptanzprobleme stößt. Algen haben neben allen positiven Ernährungseffekten auch eine positive Wirkung auf das Klima, da sie klimaschädliche Stoffe aus der Luft binden können.

Fazit

Inwiefern schlägt sich der Trend zu einer neuen Nachhaltigkeit also in aktuellen Entwicklungen auf Ebene der internationalen Politik und der Konsumierenden nieder? Unserer Einschätzung nach ergibt sich ein gemischtes Bild. So zeichnet sich mit den SDGs in der internationalen Politik ein Paradigmenwechsel zur Nachhaltigkeit ab. Der Schwenk zu einer neuen Nachhaltigkeit wird aber bislang nicht vollzogen. Auch auf Konsumentenseite stehen nachhaltigere Ernährungstrends solchen gegenüber, die die Einhaltung planetarer Grenzen konterkarieren.

Unabhängig von seiner Verbreitung stellt sich die Frage, welchen Beitrag das Konzept einer neuen Nachhaltigkeit zur Bekämpfung beziehungsweise Einschränkung globalisierter Ernährungskrisen leisten kann. Um die vielen Krisen im Bereich der Ernährung wie beispielsweise den Hunger weltweit in den Griff zu bekommen, ist ein grundlegender Wandel notwendig. Unserer Meinung nach bedarf es dazu einer kompletten Neuausrichtung auf nachhaltige Nahrungsmittelproduktion und Ernährungsweisen. Eine Orientierung an den planetarischen Grenzen ist dabei Grundvoraussetzung, um gefährliche Veränderungen im Erdsystem zu verhindern, die sich gravierend auf die Ernährungssicherheit auswirken könnten. Statt Alleingängen von einzelnen Akteuren werden hier koordinierte Veränderungen auf sämtlichen Ebenen notwendig. Hier braucht es globale Leitziele oder Leitplanken, an denen sich das innen- und außenpolitische Handeln der Staaten ausrichten muss. Die SDGs fungieren als solche, nennen aber bislang keine Grenzwerte. Umso größeres Gewicht liegt auf ihrer Umsetzung. Ihr Erfolg wird auch davon abhängen, wie entschieden die Staaten kohärente Politiken zwischen verschiedenen innerstaatlichen Ressorts, etwa Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, aber auch eine koordinierte internationale Zusammenarbeit unter dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung forcieren. NGOs und einer kritischen Öffentlichkeit kommt dabei die Aufgabe zu, öffentlichkeitswirksam politischen Druck auf Entscheider aufzubauen.

Während die Einhaltung der planetarischen Grenzen eine Grundvoraussetzung zur Minderung von Ernährungskrisen – und insbesondere zur Sicherung zukünftiger Ernährungssysteme – ist, muss bedacht werden, dass sie nicht ausreicht, um globalisierte Ernährungskrisen in Gänze zu bekämpfen. Hunger und Ernährungskrisen sind nicht allein auf ein mangelndes Nahrungsangebot oder umweltschädliche Produktionsbedingungen zurückzuführen. Oft spielt der eingeschränkte Zugang bestimmter Bevölkerungsgruppen eine zentrale Rolle, unter anderem aufgrund von Diskriminierung, kriegerischen Auseinandersetzungen oder Landgrabbing. In jedem Fall wird deutlich, welche besondere Verantwortung Länder wie Deutschland tragen: aufgrund ihres ressourcenintensiven Konsumlevels einerseits und ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses auf der internationalen Bühne andererseits.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe zum Ausmaß der globalen Ernährungskrisen Klaus von Grebmer et al., Welthunger-Index 2014: Herausforderung verborgener Hunger, Bonn u.a. 2014, S. 7ff.

  2. Vgl. Matthias Bauer et al., Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 7–75.

  3. Für weitere Informationen zu den Dimensionen der globalen Ernährungskrise siehe Steven Engler/Anne Siebert, Die Ambiguität der globalen Ernährungskrise. Weg zu einer neuen Nachhaltigkeit am Beispiel der Stadt George, Südafrika, in: Nicolas Potysch/Matthias Bauer (Hrsg.), Deutungsspielräume. Mehrdeutigkeit als kulturelles Phänomen, Frankfurt/M. u.a. 2016 (i.E.); Wilfried Bommert et al., Einleitung. Regional, Innovativ & Gesund, in: Steven Engler et al. (Hrsg.), Regional, innovativ und gesund. Nachhaltige Ernährung als Teil der Großen Transformation, Göttingen 2016 (i.E.).

  4. K. v. Grebmer et al. (Anm. 1), S. 5.

  5. Ebd.

  6. Vgl. Hans Konrad Biesalski, Hidden Hunger, Berlin–Heidelberg 2013, S. 41.

  7. Vgl. Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford–New York 1981.

  8. Vgl. S. Engler/A. Siebert (Anm. 3).

  9. Vgl. Anna Bönisch et al., Fünf Minuten nach Zwölf? Planetarische Grenzen und Ernährung, in: S. Engler et al. (Anm. 3).

  10. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten, 2. veränderte Auflage, Berlin 2011.

  11. Vgl. ebd.

  12. Ebd., S. 1.

  13. Vgl. W. Bommert et al. (Anm. 3); A. Bönisch et al. (Anm. 9).

  14. Vgl. Johan Rockström et al., A Safe Operating Space for Humanity, in: Nature, 461 (2009), S. 472–475; ders. et al., Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity, in: Ecology and Society, 14 (2009) 2, Externer Link: http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32 (3.11.2015); Will Steffen et al., Planetary Boundaries: Guiding Human Development on a Changing Planet, in: Science, 347 (2015), Externer Link: http://www.sciencemag.org/content/347/6223/1259855.full (3.11.2015); WBGU, Zivilisatorischer Fortschritt innerhalb planetarischer Leitplanken. Ein Beitrag zur SDG-Debatte, Berlin 2014.

  15. Vgl. W. Steffen et al. (Anm. 14).

  16. WBGU (Anm. 10), S. 11.

  17. Vgl. J. Rockström et al. (Anm. 14).

  18. Vgl. WBGU (Anm. 10).

  19. Vgl. Christian Kroll, Sustainable Development Goals: Are the Rich Countries Ready? With a Foreword by Kofi Annan, Gütersloh 2015.

  20. Vgl. Dana Cordell et al., The Story of Phosphorus: Global Food Security and Food for Thought, in: Global Enviromental Change, 19 (2009) 2, S. 292–305.

  21. Vgl. W. Steffen et al. (Anm. 14).

  22. Vgl. Victor Galaz et al., "Planetary Boundaries" – Exploring the Challenges for Global Environmental Governance, in: Current Opinion in Environmental Sustainability, 4 (2012) 1, S. 80–87.

  23. Vgl. ebd.

  24. Ebd., S. 82.

  25. Vgl. WBGU (Anm. 10).

  26. Christoph Bals et al., Hintergrundpapier. Ankündigung: Die erste globale Entwicklungsagenda. Sustainable Development Goals als Maßstab für Industrie und Entwicklungsländer, Externer Link: http://www.germanwatch.org/de/10834/ (3.11.2015).

  27. Klaus Milke, Entwicklungsziele: Keine falsche Euphorie, 25.9.2015, Externer Link: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-09/globale-entwicklungsziele-klimakonferenz-sustainable-development-goals/komplettansicht/ (3.11.2015).

  28. Vgl. Vereinte Nationen, Transforming Our World: the 2030 Agenda for Sustainable Development, 2015, Externer Link: https://sustainabledevelopment.un.org/post2015/transformingourworld (3.11.2015).

  29. Vgl. Marianne Beisheim, Nachhaltige Entwicklung: Ein gutes Leben für alle, weltweit, 26.9.2015, Externer Link: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-09/2030-agenda-nachhaltige-entwicklung-fortschritte-milleniumsziele/ (3.11.2015).

  30. Adolf Kloke-Lesch, The G20 and the Sustainable Development Goals (SDGs): Reflections of Future Roles and Tasks, Third Annual G20 Think Tank Summit "Global Governance and Open Economy", 30.7.–1.8.2015, Beijing, S. 2, Externer Link: http://www.die-gdi.de/uploads/media/Kloke-Lesch_The_G20_and_the_Sustainable_Development_Goals.pdf (3.11.2015).

  31. Vgl. Clara Brandi/Dirk Messner, Die Herausforderung für 2015: Globale Entwicklung innerhalb planetarischer Leitplanken sichern, 9.2.2015, Externer Link: https://www.die-gdi.de/uploads/media/Deutsches_Institut_fuer_Entwicklungspolitik_Brandi_Messner_9.2.2015.pdf (3.11.2015).

  32. Vgl. WBGU (Anm. 10).

  33. Vgl. C. Brandi/D. Messner (Anm. 31).

  34. Vgl. C. Kroll (Anm. 19).

  35. Vgl. ebd.

  36. Ausführlich: A. Bönisch et al. (Anm. 9).

  37. Vgl. Karl von Körber et al., Globale Ernährungsgewohnheiten und -trends. Externe Expertise für das WBGU-Hauptgutachten "Welt im Wandel: Zukunftsfähige Bioenergie und nachhaltige Landnutzung", Berlin 2008, S. 6, Externer Link: http://www.wbgu.de/fileadmin/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2008/wbgu_jg2008_ex10.pdf (3.11.2015).

  38. Vgl. Nestlé, Klare Trends für 2030: Die Nestlé Zukunftsstudie im Überblick, 2015, Externer Link: http://www.nestle.de/zukunftsstudie/uebersicht (3.11.2015).

  39. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung et al., Fleischatlas 2014. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, Ahrensfelde 2014, S. 8.

  40. Vgl. Ingo Haltermann et al., Auf sechs Beinen gegen die Ernährungskrise? Entomophagie und ihre Akzeptanz unter Betrachtung dreier afrikanischer Fallbeispiele, in: S. Engler (Anm. 3).

  41. Vgl. Arnold van Huis et al., Edible Insects – Future Prospects for Food and Feed Security, FAO Forestry Paper 171/2013, Externer Link: http://www.fao.org/docrep/018/i3253e/i3253e.pdf (3.11.2015).

  42. Vgl. Birgit A. Rumpold/Oliver K. Schlüter, Potential and Challenges of Insects as an Innovative Source for Food and Feed Production, in: Innovative Food Science & Emerging Technologies, 17 (2013), S. 1–11; Arnold van Huis, Potential of Insects as Food and Feed in Assuring Food Security, in: Annual Review of Entomology, 58 (2013), S. 563–583.

  43. Vgl. Hannah Twomey/Christina M. Schiavoni/Benedict Mongula, Impacts of Large-Scale Agricultural Investments on Small-Scale farmers in the Southern Highlands of Tanzania: A Right to Food Perspektive, Aachen 2015; Welthungerhilfe, SDG: Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, o.D., Externer Link: http://www.welthungerhilfe.de/nachhaltigkeitsziele.html (3.11.2015).

Lizenz

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Dr. rer. nat., geb. 1985; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI), Goethestraße 31, 45128 Essen. E-Mail Link: steven.engler@kwi-nrw.de

M.Sc., geb. 1986; wissenschaftliche Mitarbeiterin am KWI (s.o.). E-Mail Link: anna.boenisch@kwi-nrw.de

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