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Zur Rechtfertigung der Sklaverei - Essay | Sklaverei | bpb.de

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Zur Rechtfertigung der Sklaverei - Essay

Hans Joas

/ 9 Minuten zu lesen

Die Überwindung der europäischen Gewaltgeschichte bietet keinen Anlass, in kulturellen Triumphalismus zu verfallen. Tatsächlich ließ sich Sklaverei stets gut mit den hochgeschätzten Quellen vermeintlich europäischer Werte vereinbaren.

Im achtzehnten Jahrhundert verschwand die Folter als legitimes Mittel aus den Rechtssystemen aller europäischen Staaten. Im folgenden, dem neunzehnten Jahrhundert, wurde die Sklaverei in den USA, aber auch in allen anderen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre, in denen sie sich zu einer zentralen ökonomischen Institution entwickelt hatte, abgeschafft, zuletzt in Brasilien 1888. Für mich, aber gewiss nicht nur für mich, gehören diese beiden Prozesse zu den wichtigsten Kapiteln in der Geschichte der Menschenrechte. Dies gilt unabhängig davon, ob in der Rhetorik der Zeit der Begriff Menschenrechte eine große Rolle spielt oder nicht. An den jahrzehntelangen intellektuellen Auseinandersetzungen und sozialen Kämpfen, die mit beiden Prozessen verbunden waren, wird unmittelbar anschaulich, dass die entsprechenden rechtlichen Veränderungen weit mehr waren als bloße Veränderungen der Gesetzeslage. (…)

Deshalb genügt es nicht, nur die Prozesse der Abschaffung von Folter und Sklaverei in den Blick zu nehmen. Wir brauchen vielmehr ein realistisches Bild auch von den Gründen, warum Folter und Sklaverei so lange als legitim galten und eben nicht abgeschafft wurden. Konkret heißt das, dass zu untersuchen ist, warum gerade einige der angeblich so freiheitsliebenden Völker der nordatlantischen Welt die Sklaverei, bevor sie sie abschafften, in einer Weise systematisierten und effektivierten, wie dies nie vorher geschehen war. (…)

Die Sklaverei ist bekanntlich ein in sich äußerst heterogenes Phänomen. Eine wichtige Unterscheidung wurde von dem Althistoriker Moses Finley eingeführt und von vielen, etwa auch Jürgen Osterhammel, aufgenommen. Es geht um den Unterschied zwischen Gesellschaften mit Sklaven einerseits (und das heißt, der Mehrzahl der Gesellschaften in der Geschichte der Menschen) und Sklavenhaltergesellschaften oder Sklavengesellschaften andererseits. Im zweiten Fall geht es um Gesellschaften, in denen Sklaven einen großen Teil der Bevölkerung bilden und von zentraler Bedeutung für den Produktionsprozess sind. Wenn wir uns auf "slave societies" in diesem engeren Sinn beschränken, dann stellen wir fest, dass sie alle zur "westlichen" Tradition zu gehören scheinen. Wir denken dann ans antike Griechenland, an bestimmte Phasen der römischen Geschichte, an Brasilien, die Karibik und die Kolonien oder Staaten im Süden Nordamerikas. (…) Zwei Hauptkennzeichen trennen die modernen von den antiken Sklavengesellschaften: die Rolle der Rasse und des Rassismus sowie die Tatsache, dass die Kolonialmächte die Sklavengesellschaften von ihrem Kernland fernhielten – in der Peripherie ihrer Kolonialreiche.

Da diese geografische Distanz es den Europäern leicht macht, ihr Gewissen zu entlasten und ihre eigene Rolle in der Geschichte der Sklaverei zu ignorieren – sie neigen ja dazu, die Bewohner solcher "peripheren Gebiete" nicht mehr als Europäer zu betrachten –, ist es wichtig, zu betonen, dass Sklaverei in diesem Sinn "jede seefahrende europäische Nation, jedes an den Atlantik angrenzende Volk (und einige andere) und jedes Land auf dem amerikanischen Doppelkontinent" betraf.

Keine der hochgeschätzten kulturellen Quellen der angeblichen europäischen Werte bot die Grundlage für einen konsequenten Widerstand gegen Sklaverei oder Versklavung. Platon und Aristoteles als die repräsentativen Denker der griechischen Antike nahmen Sklaverei entweder als gegeben hin – zumindest soweit sie Fremde und nicht Hellenen betraf – oder lieferten sogar eine ausdrückliche Rechtfertigung für sie. Wann immer in späteren Phasen der europäischen Geschichte eine neue "Renaissance" der antiken griechischen oder römischen Kultur stattfand, konnte aus dieser gewiss keine Opposition gegen die Sklaverei abgeleitet werden. (…) Wenn wir uns von den "heidnischen" Griechen und Römern weg der Bibel zuwenden, sind wir vielleicht erleichtert, zu erfahren, dass das Gesetz des Moses die Versklavung von Juden verbot, aber erneut ist es ernüchternd, dass zum Besitz von Sklaven aus anderen Völkern ausdrücklich ermutigt wurde. "Nehmt meine Weisungen ernst und zwingt keinen Israeliten zur Sklavenarbeit. Wenn ihr Sklaven und Sklavinnen braucht, könnt ihr sie von euren Nachbarvölkern kaufen (…) Ihr könnt sie für immer als euer Eigentum behalten und auch euren Söhnen vererben; sie müssen nicht freigelassen werden" (Lev 25, 43–46). Und obwohl auf dem Papier Juden also nicht von Juden versklavt werden durften und Sklaven nach sechs Jahren freizulassen waren, scheint gegen beide Normen häufig verstoßen worden zu sein. Christentum und Stoa machten zwar die Humanisierung der Sklaverei zu einem ihrer ethischen Ziele, aber eben nicht ihre Abschaffung. Sogar die Entwicklung der modernen "liberalen" politischen Theorie von Hobbes bis Locke und darüber hinaus produzierte zahlreiche Rechtfertigungen für die Sklaverei. Einige ihrer Vertreter – wie John Locke – investierten persönlich in Sklavenhandelsgesellschaften.

Diese ganze theoretische Entwicklung, die für viele heute den normativen Orientierungspunkt schlechthin für ein freiheitliches historisches Projekt darstellt, fiel zeitlich mit einer ständigen Expansion von Sklavenhandel und Sklaverei zusammen. Zwischen 1787 und 1807 wurden mehr Sklaven von den Vereinigten Staaten importiert als in jeder anderen Zwanzigjahresperiode davor. Die Zahl der Sklaven in den USA stieg zwischen dem Ende der amerikanischen Revolution 1783 und dem Beginn des Bürgerkrieges 1861 auf das Fünffache. Nach dem Ende des Sklavenimports in die USA nahm der Sklavenhandel innerhalb des Landes eine immer größere Bedeutung an. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Sklaven verschlechterten sich, während die ökonomische Bedeutung der Sklaverei für den entstehenden Industriekapitalismus zunahm. Wer also die Sklaverei für ein vormodernes Relikt in einer sich rapide modernisierenden Welt hält, geht in die Irre. Es scheint allerdings so, als hätten die Ideen über Freiheit in Europa zwar die Europäer selbst vor der Versklavung bewahrt, aber zugleich paradoxerweise durch die Konzeption uneingeschränkter Eigentumsrechte auch zur Entwicklung und Ausdehnung des Systems der Plantagensklaverei beigetragen.

Wenn Katholiken oder Protestanten hoffen, dass ihre Traditionen der Sklaverei kraftvoller entgegengetreten wären, werden sie ebenfalls enttäuscht. Obwohl es Dokumente päpstlicher Verdammung der Sklaverei gibt, waren diese vor dem neunzehnten Jahrhundert nie ohne Einschränkungen. Meistens galt die Verdammung der Versklavung von Christen oder auch von Indios, aber nicht der "Negros". Papst Innozenz VIII. verteilte Gefangene als Geschenke an den Klerus – während eines Konsistoriums 1488 –, und viele Klöster in der Neuen Welt besaßen Sklaven. Wenn einzelne Missionare protestierten, wurden sie in der Regel von ihren Orden gezwungen, die Kolonie zu verlassen und nach Europa zurückzugehen. Von den 1550er-Jahren ab brachten spanische Schiffe, die in Westindien (der Karibik) ankamen, ein Dokument mit, das vor den Indios von einem Notar (in spanischer Sprache) verlesen werden musste. Dieses sogenannte "Requerimiento" "sollte den Indios die Theorie der weltlichen Macht des heiligen Petrus und der Päpste, wie sie (…) im dreizehnten Jahrhundert entwickelt worden war, erklären. Die Indios sollten darüber informiert werden, dass der Papst ihr Territorium dem spanischen König (…) und seiner Tochter (…) zum Geschenk gemacht habe und dass sie diese als ihren Souverän anerkennen sollten. Sie sollten den Missionaren erlauben, Predigten zu halten, und sie sollten in angemessener Zeit in freier Willensentscheidung den katholischen Glauben annehmen. Wenn sie sich weigerten, die Souveränität der spanischen Monarchie anzuerkennen, dann würde gegen sie Krieg geführt werden. Sie selbst, ihre Frauen und Kinder würden gefangen, versklavt, verkauft oder in anderer Weise verwendet werden." (…)

Auf der protestantischen Seite ist das Bild ähnlich. Lange Zeit, bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein, gab es zwar oppositionelle Stimmen, aber sie wurden meistens von anderen übertönt und an den Rand gedrängt. Im Jahr 1642 musste die protestantische Synode in Rouen "übermäßig skrupelhafte" Personen tadeln, die es für gesetzeswidrig hielten, wenn protestantische Kaufleute mit Sklaven handelten. Und als einige Baptisten in South Carolina heim nach England schrieben und um Weisung baten, wie sie mit einem Mitbruder ihrer Glaubensgemeinschaft verfahren sollten, der seinen Sklaven kastriert hatte, erhielten sie die Antwort, dass sie doch keine Zwistigkeiten in ihrer Bewegung riskieren sollten wegen "geringfügiger oder gleichgültiger Streitgegenstände".

Es wäre aber ungenügend, nur auf die Bereitschaft der Repräsentanten des christlichen Glaubens hinzuweisen, die erstaunlichsten argumentativen Rechtfertigungen für die Sklaverei zu ersinnen. In Nordamerika trug nämlich das Christentum – und in diesem Fall vornehmlich die anglikanische Variante – wesentlich dazu bei, die ethischen Vorstellungen über das angemessene Verhalten von Pflanzern und Sklaven im Umgang miteinander erst zu formen. Die Forschung zur Religionsgeschichte der britischen Kolonien in Nordamerika hat – etwa durch die Auswertung erhaltender Predigttexte – gezeigt, wie stark die Erörterungen der Frage, ob Sklaven getauft werden sollten, von der Angst durchsetzt waren, die Sklaven könnten sich als Christen zur Forderung nach Freilassung ermächtigt fühlen oder doch zumindest zur Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit dann, wenn die Befehle eines Sklavenhalters göttlichen Geboten widersprechen. Protestantisches Freiheitspathos und die Bedingungen der Sklaverei mussten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.

Einige koloniale Gesetzgeber behalfen sich damit, den Sklaven wegen ihrer "barbarity", "rudeness", "weakness and shallowness of their minds" die Fähigkeit, Christ zu werden, pauschal abzusprechen. Damit gerieten sie natürlich in Widerspruch zum Auftrag Jesu, zu allen Völkern der Welt zu gehen, sie zu taufen und zu lehren (Mt 28, 18–20). Andere kamen auf die Idee, ein spezielles Ritual einzuführen, das der Taufzeremonie vorgeschaltet wurde. Dieses bestand darin, die Täuflinge in Anwesenheit ihres Herrn einen Eid ablegen zu lassen, demzufolge sie aus der Taufe keinerlei Anspruch auf Freilassung oder Einschränkung des absoluten Gehorsams ableiten würden. Vielleicht ist die Beobachtung dann nicht überraschend, wie sehr die Predigten durchsetzt sind von Appellen an die Sklaven, ihren Herrn als von Gott eingesetzt zu betrachten und ihm dankbar zu sein dafür, dass er sie immerzu und auch in Krankheit und Alter versorge.

Wichtiger noch als solche Moralpredigten war der Beitrag von christlichen Predigern zur rechtlichen Rationalisierung der Sklaverei in Gestalt der entstehenden Regelungen, die auch den Sklavenhaltern genaue Vorschriften machten. Diese Vorschriften dienten aber kaum jemals der Einschränkung ihrer Verfügungsmacht über die Sklaven, sondern stellten im Gegenteil Sicherungen gegen mögliche Milde und Nachlässigkeit aufseiten der Sklavenhalter dar. Sklaven zu bestrafen war nicht einfach ein Recht der Sklavenhalter, sondern ihre Pflicht. (…)

Ganz gewiss will ich die oppositionellen Stimmen und den ebenfalls vorhandenen Diskurs gegen die Sklaverei nicht bagatellisieren oder gar ignorieren. Es gab solche Stimmen und solchen Diskurs, z.B. in der spanischen Spätscholastik und bei den Quäkern, in der Auseinandersetzung mit der modernen Sklaverei. Es gab ihn vereinzelt schon in Auseinandersetzung mit antiken und mittelalterlichen Formen bei patristischen und mittelalterlichen Denkern, und natürlich gab es ihn in der Aufklärung. Mein Punkt ist also nicht, dass es nie ernsthafte Kritik an der Sklaverei gegeben habe, sondern dass Kritik und Widerstand so schwach und inkonsequent waren. Dies aber gilt für alle großen religiösen und philosophischen Traditionen. Ich kann dies hier nicht an allen von ihnen vorführen; andere haben das bezogen auf den Islam, aber auch Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus getan. Dabei zeigt sich in jeder von ihnen, wie achsenzeitliche Ansprüche und soziale Wirklichkeiten interagieren. Auf deprimierende Weise bestätigt sich, dass es ein unfruchtbares Unterfangen ist, sich darüber zu streiten, ob die Menschenrechte vornehmlich oder gar ausschließlich säkularen oder christlichen Ursprungs seien. (…)

"Keine Religion", schrieb ein französischer Gelehrter (Jacques Jomier), "darf in Sachen Sklaverei den ersten Stein werfen." Dem ließe sich hinzufügen: Und keine Tradition des säkularen Humanismus ist gegen diese oder ähnliche Verfehlungen gefeit. In den französischen Kolonien wurde die Sklaverei zwar 1794 unter dem Eindruck auch der haitischen Revolution abgeschafft, aber von Napoleon wenige Jahre später (1802) erneut bestätigt. An die Stelle der retrospektiven Selbstfeier einer Tradition muss deshalb ein genaues Verständnis treten, wie das oft unwirksame Potenzial mobilisiert werden kann und wann es historisch mobilisiert worden ist, warum etwa die so lange schüchterne christliche Sklaverei-Kritik an einem bestimmten Punkt zu einer mächtig anschwellenden Bewegung "erweckt" wurde. Wir müssen fragen, welche Verschiebungen von Interesselagen, auch welche kognitiven Veränderungen eine Rolle spielen, was die (häufig transnationalen) Bedingungen für den Erfolg solcher moralischer Bewegungen sind und ob es ein historisch sich herausbildendes Muster für erfolgreiche Mobilisierungen dieser Art gibt. (…)

Mit meinen Ausführungen wollte ich (…) daran erinnern, dass die Resultate einer produktiven Überwindung unserer Gewaltgeschichte nicht "einen kulturellen Triumphalismus symbolisieren (dürfen), dem zufolge die Menschenrechte wie ein fest gegründeter Besitz erscheinen, der die Überlegenheit der eigenen Kultur unter Beweis stellt." Auch in der Rede von den "europäischen Werten" höre ich häufig weniger die Herausforderung zur Selbstkritik und mehr den Tonfall sicheren Besitzes. Eine solche Verwendung universalistischer Werte aber ist selbstwidersprüchlich in einer Weise, die der ähnelt, die wir von der "Verwendung des zentralen Leidens- und Opfersymbols der christlichen Kultur, nämlich des Kreuzes, als Kriegs- und Siegeszeichen" her kennen.

Dr. phil., Dr. h.c., geb. 1948; Soziologe und Sozialphilosoph; Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. hans.joas@hu-berlin.de