Terror oder Terrorismus? Der "Islamische Staat" zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt
Die zentrale Rolle von Gewalt für Expansion, Machtanspruch und Machterhalt des selbsternannten "Islamischen Staats" zu erkennen, bedarf keiner eingehenderen Analyse: Die Kriegsrhetorik seiner Repräsentanten, die Brutalität seiner Kämpfer, aber vor allem die Zelebrierung "entgrenzter Gewalt"[1] in sorgsam inszenierten Videoclips des gruppeneigenen "Al-Hayat Media Center" sprechen eine allzu deutliche Sprache. Doch inwiefern Gewalt und die Möglichkeit ihrer Anwendung den Prozess der Ausdehnung und Aufrechterhaltung der territorialen Kontrolle und der Herrschaft über dieses Territorium dynamisiert und definiert, stellt uns mit Blick auf terroristische Anschläge jenseits dieses Territoriums vor ein analytisches Dilemma: Im Hinblick auf die zeitgleich sehr unterschiedlichen Arten des Gewalthandelns Daeshs, wie der "Islamische Staat" hier bezeichnet werden soll,[2] scheint die Trennschärfe zwischen Terror "von oben" und Terrorismus "von unten", zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt, vor unserem analytischen Auge zu verschwimmen. Was tun, wenn die soziale Realität den Rahmen bewährter Konzepte sprengt?Eine abschließende Antwort kann insbesondere aufgrund der Informationslage in absehbarer Zeit nicht gegeben werden – wenig Überprüfbares aus den kontrollierten Gebieten steht der permanent hohen Dynamik des Geschehens vor Ort gegenüber. Die Einblicke, die der externe Beobachter durch Propagandamaterial und Augenzeugenberichte bereits heute erhält, zeigen, dass sich drakonische Strafen für jedwede Dissidenz mit einer fortschreitenden Professionalisierung staatstypischer Überwachung und dem langfristigen Ziel der Gruppe,[3] der totalen Kontrolle über eine ihr durch freie Entscheidung, Umstände und Zwang zugeführte Bevölkerung, paaren. Sich mit diesem territorialen Anspruch auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, den "Islamischen Staat" als eben einen solchen und somit als legitim im Sinne des Völkerrechts anzuerkennen. Vielmehr geht es darum, Territorialität als zentrales Element der religiös motivierten Ideologie einer endzeitlich-totalitären Bewegung zu verstehen und den territorialen Anspruch der Gruppe entsprechend ernst zu nehmen.
Um dies analytisch zu bewältigen, wird in diesem Beitrag sowohl für einen interdisziplinären Brückenschlag als auch für eine Wiederaufnahme der verstummten Totalitarismusdebatte in Deutschland und ihre Anbindung an die internationale Debatte zum totalitären Charakter der Bewegung des dschihadistischen Salafismus argumentiert. Zweifelsohne kann die Entscheidung, das Kalifatsprojekt Daeshs mithilfe der modernen Staatstheorie zu untersuchen, kritisch betrachtet werden und muss sich in der Fallanalyse bewähren. Im Folgenden sollen deshalb erste Überlegungen zumindest das Erkenntnispotenzial dieses Vorgehens belegen[4] sowie analytische Herausforderungen und theoretische Leerstellen aufzeigen.
Unterscheidung von Staatsterror und nichtstaatlichem Terrorismus
Weder das Phänomen des Terrorismus[5] noch die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Gewalthandeln staatlicher Repräsentanten gegenüber der Bevölkerung sind abschließend definiert. Lediglich die analytische Unterscheidung zwischen staatlichem Terror "von oben" und nichtstaatlichem Terrorismus "von unten" ist, zumindest größtenteils, unstrittig – liefert die Differenzierung doch zuverlässige und scharfe Werkzeuge für das Klassifizieren und Verstehen von Gewalt in Gesellschaften und die Auswirkungen ihrer Organisation und Institutionalisierung.[6] Mit Blick auf die vom Territorium des "Islamischen Staats" aus gesteuerten Anschläge in Paris 2015 und Brüssel 2016 und die Selbstmordattentate in der Region lässt sich das Gewalthandeln Daeshs als terroristisch verstehen, als "planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund", aber auch gegen die Zivilbevölkerung und Vertreter des erklärten Feindes, um "Unsicherheit und Schrecken (zu) verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft (zu) erzeugen".[7] Das mit dem territorialen Anspruch und der territorialen Kontrolle verbundene Gewalthandeln[8] Daeshs lässt sich demgegenüber jedoch nicht unter diese Definition subsumieren.Denn in den kontrollierten Gebieten tritt mehr und mehr "staatstypisches" Gewalthandeln an die Stelle terroristischer Akte, wobei langfristig das Ziel erkennbar wird, die entgrenzte Gewalt des Kriegs aus der Gesellschaft an die Ränder des kontrollierten "Territoriums" zu drängen. Gemeint ist die für Staatsbildungsprozesse typisierte, parallel zur Zentralisierung von (staatstypischem) Gewalthandeln erfolgende Externalisierung von Gewalt zur inneren Befriedung der Gesellschaft. In der religiös motivierten Ideologie findet sich dieser Prozess in der Schwarz-Weiß-Zeichnung zwischen dem Kalifat als dār al-islām, der muslimischen Heimat des friedlichen Zusammenlebens, und allen Gebieten außerhalb als dār al-ḥarb, der Heimat des Kriegs.[9] Erzeugt wird nicht nur eine gruppenkohäsive Situation des "Wir gegen die Anderen", sondern das Gefühl der Umzingelung durch einen übermächtigen und entmenschlichten Feind. Diese "Belagerungssituation" lässt das exzessive Gewalthandeln nicht nur gegenüber dem äußeren Feind, sondern auch gegenüber den Feinden im Innern, den angeblichen Zweiflern, Abtrünnigen und Verrätern, als Ultima Ratio erscheinen. Auf dem eigenen Gebiet ersetzt staatstypisches Gewalthandeln terroristische und Kriegsgewalt, um entlang totalitärer Logiken akute Konflikte aufzulösen beziehungsweise zu unterdrücken sowie zukünftige zu verhindern.