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Nur Populismus? Politische Kultur in Lateinamerika und das Erbe der linken Ikonen

Toni Keppeler

/ 13 Minuten zu lesen

Das Jahrzehnt linker Regierungen in Lateinamerika war nicht revolutionär, es war ein Jahrzehnt dringend notwendiger Sozialpolitik. Auch wenn der Glanz der linken Protagonisten inzwischen verblasst ist, so will doch kaum jemand zurück in die Zeit davor.

Auf dem Weg von Europa nach Lateinamerika ändern politische Begriffe bisweilen ihre Konnotation: Wenn man in Europa von Populismus spricht, denkt man in der Regel an rechtslastige Parteien. In Lateinamerika denken wir an linke (ehemalige) Präsidenten wie Hugo Chávez in Venezuela (Präsident von 1999 bis 2013), Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien (2003 bis 2011), Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien (2007 bis 2015) oder Evo Morales in Bolivien (seit 2006). Auch das, was mit populistischer Politik gemeint ist, scheint in Lateinamerika anders gemeint zu sein: Wenn Morales der verarmten Bevölkerung Boliviens im Alter eine Mindestrente von umgerechnet kaum 50 Euro garantiert, nennt man das in deutschen Zeitungen "populistische Wahlgeschenke". Wenn aber in Deutschland der Minimalsatz staatlicher Sozialleistungen auf das Achtfache der bolivianischen Volksrente festgesetzt wird, dann sprechen dieselben Zeitungen von "Sozialabbau". Ganz offensichtlich messen wir Europa und Lateinamerika an sehr unterschiedlichen Maßstäben.

Die zurückliegenden Jahre waren in Lateinamerika geprägt von linken Regierungen, die in Europa vielfach ausschließlich als populistisch wahrgenommen wurden. Nach dem Wahlsieg des linken Militärs Hugo Chávez in Venezuela Ende 1998 war eine linke Regierung nach der anderen an die Macht gekommen: in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, El Salvador, Nicaragua, Paraguay und Uruguay. Und meist waren die Präsidenten charismatische Figuren. Ihre Zeit ist nun abgelaufen: In Argentinien gewann Ende 2015 nach drei Linksregierungen in Folge der neoliberale Unternehmer Mauricio Macri die Präsidentschaftswahl. In Brasilien hat die alte Elite des Landes Präsidentin Dilma Rousseff, die hölzerne Nachfolgerin des Volkslieblings Lula, Ende August 2016 aus dem Amt gedrängt. In Bolivien hat das Volk im Februar 2016 in einem Referendum entschieden, dass sich der linke Indígena Evo Morales nicht ein viertes Mal in Folge um das Präsidentenamt bewerben darf. Und Venezuela steckt seit dem haushohen Wahlsieg der Opposition bei der Parlamentswahl im Dezember 2015 in einer schweren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise. Es scheint, als gehe das "linke Jahrzehnt" seinem Ende entgegen und Lateinamerika werde wieder so, wie es vorher war: eine Region, deren politische Geschicke von einer kleinen und reichen Elite bestimmt werden.

Eliten und ihr Staat

In ihren Verfassungen sind die meisten lateinamerikanischen Republiken tadellose Demokratien nach westeuropäischem und nordamerikanischem Vorbild. In ihren Herzen aber sind sie es nicht. Zwischen der Idee eines Staats und seiner Wirklichkeit klafft ein tiefer Graben. Mehr noch: "Die Ideen verschleiern die Wirklichkeit, anstatt sie offenzulegen und zum Ausdruck zu bringen", schrieb der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz vor bald 70 Jahren in seinem fulminanten Essay "Das Labyrinth der Einsamkeit". Das gilt noch immer und hängt mit der Entstehungsgeschichte dieser Staaten zusammen.

Die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken wurde – mit Haiti als Ausnahme – nicht von geknechteten Arbeitern oder gar Sklaven auf den Plantagen und in den Gold- und Silberminen der Kolonialherren erkämpft, sondern von den Kolonialherren selbst: von den in Lateinamerika geborenen und "Kreolen" genannten Nachkommen der spanischen Eroberer. Sie wollten sich im 19. Jahrhundert vom niedergehenden spanischen Weltreich nicht mehr gängeln lassen, sondern selbst über ihren Handel bestimmen und den daraus resultierenden Reichtum mit niemandem teilen. Die Reden der lateinamerikanischen Unabhängigkeitshelden mögen revolutionär geklungen haben. Ihr Diskurs aber und ihr Bezug auf die Werte der Französischen Revolution waren kaum mehr als eine modische Attitüde, eine republikanische Tarnkappe. Noch einmal Paz: "Gleich nach der Erlangung der Unabhängigkeit haben die herrschenden Klassen sich als die Erben der alten spanischen Ordnung konsolidiert. (…) Die Gruppen, die die Unabhängigkeitsbewegung angeführt hatten, stellten keine neuen sozialen Kräfte dar, sondern nur die Verlängerung des Feudalsystems."

Aus eben diesem Grund wurde der Traum des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar von einem vereinten Lateinamerika nie wahr. Die jeweiligen Eliten mit all ihren Widersprüchen und Eigeninteressen steckten ihre Claims ab und gründeten zu deren Schutz ihre Staaten. Vordergründig wurde das republikanische Spiel gespielt: Es gab Parteien und Wahlen. Gewählt aber hat lange nur eine verschwindend kleine Minderheit, denn das aktive Wahlrecht war an Bedingungen gebunden: Man musste erwachsen sein (oft wenigstens 25 Jahre alt), über ein festgesetztes Mindestvermögen verfügen und die spanische Sprache lesen und schreiben können. Die indigene Bevölkerung – in Ländern wie Guatemala oder Bolivien die Bevölkerungsmehrheit – war schon allein durch die letzte Bedingung lange vom Wahlrecht ausgeschlossen. Kombiniert mit den anderen beiden Regelungen führte dies dazu, dass in Bolivien bis in die 1950er Jahre hinein kaum fünf Prozent der Bevölkerung – die fünf weißesten und reichsten Prozent, versteht sich – an Wahlen teilnehmen durften. Selbst im europäisch anmutenden Chile waren bis 1970, dem Jahr des Wahlsiegs des Sozialisten Salvador Allende, nur 20 Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt.

Guerilleros und Militärs

Der Staat gehörte einer elitären Minderheit, und die bestätigte sich immer nur selbst in allen wichtigen Ämtern. Die Interessen der kreolischen Agrar-Oligarchie vertraten dabei in der Regel die sogenannten konservativen Parteien. Spätere europäische und nicht selten palästinensische Einwanderer dominierten bald den Handel und die Banken und gründeten die liberalen Parteien. In fast allen lateinamerikanischen Ländern gab es irgendwann Bürgerkriege zwischen Konservativen und Liberalen, zuletzt in Kolumbien. Von 1948 bis 1958 dauerte diese blutige Phase dort, die bis heute in den Geschichtsbüchern la violencia – die Gewalt – genannt wird. Zwischen 200.000 und 300.000 Kolumbianerinnen und Kolumbianer fielen ihr zum Opfer. Es waren nicht die Eliten, die ihr Leben für ihre Interessen gaben. Es war ihr Fußvolk, das rasch vergessen wurde, als sich die Oligarchen schließlich auf eine Teilung der Macht einigten. Versprengte und betrogene Milizen gründeten damals eigene autonome Enklaven im Hinterland, die sie selbst verwalteten und "Republiken" nannten. Als diese ein paar Jahre später von der kolumbianischen Armee überwältigt wurden, entstanden die ersten Guerilla-Organisationen – der Ausgangspunkt eines militärischen Konflikts, der erst in jüngster Zeit, durch den im Spätsommer 2016 geschlossenen Friedensvertrag zwischen der Regierung und einer der beiden Guerilla-Organisationen, den "Revolutionären Streitkräften Kolumbiens" (FARC-EP), ein Ende zu finden scheint.

Die Guerillas, inspiriert vom Erfolg Fidel Castros in Kuba, stellten die Dominanz der kreolischen Eliten vor allem in den 1970er und 1980er Jahren mit Waffengewalt infrage – in Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien und Peru zunächst in den ländlichen Regionen, in Brasilien, Uruguay, Argentinien und Chile als Stadtguerillas. Erfolgreich war nur die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua. In El Salvador und Guatemala endeten die Bürgerkriege mit Verhandlungslösungen, die den Aufständischen eine gewisse politische Teilhabe garantierten. Kolumbien, so scheint es, folgt diesem Weg. Alle anderen bewaffneten Bewegungen wurden militärisch zerschlagen.

Nüchtern und aus der Distanz betrachtet ging es den Guerillas um die gleichberechtigte Anerkennung der im politischen und wirtschaftlichen Leben marginalisierten Bevölkerungsmehrheit. Oder anders gesagt: um die Aufhebung der Herrschaft der hergebrachten Eliten. Diese wiederum verteidigten ihre Privilegien mit der Armee und übergaben ihr den Staat, wenn es brenzlig wurde. Es folgten die Jahrzehnte der Militärdiktaturen. Die Spannungen wurden als offene Bürgerkriege ausgefochten wie in Nicaragua und El Salvador oder als schmutzige Kriege des Militärs gegen die Opposition wie in Argentinien und Chile. Die Spannungen waren hausgemacht, eine Konsequenz der in die Republiken hinübergeretteten kolonialen Strukturen. Ausgetragen aber wurden sie unter den ideologischen Vorzeichen des Kalten Kriegs. Die Militärherrscher und die von ihnen verteidigten Eliten sprachen von einer von Moskau gesteuerten kommunistischen Weltverschwörung und wurden von den USA politisch, logistisch, finanziell und oft auch militärisch unterstützt. Auf der anderen Seite pflegten die Guerilla-Kader einen marxistischen Diskurs und bekamen ihre Waffen meist aus Kuba.

Das übergestülpte Schema des Ost-West-Konflikts hatte diese Kriege erst angeheizt – und trug dann zu ihrem Ende bei. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 waren die Ideologien des Kalten Kriegs obsolet. Die USA drängten auf ein Ende der Militärherrschaft in Lateinamerika und auf formale Demokratisierung. Die für Jahrhunderte Ausgeschlossenen haben somit zumindest eines erreicht: Es gilt heute überall das allgemeine Wahlrecht.

Paternalismus und Korruption

Die hergebrachten Eliten aber konnten sich – von ein paar Ausnahmen abgesehen – ihre Privilegien bewahren. Und doch war es für sie nun schwieriger geworden: Vorher hatten sie im Wesentlichen nur sich selbst gewählt, jetzt mussten sie sich dem ganzen Volk stellen. Sie lösten das Problem mit einem Rückgriff auf die noch immer bestehende Wirtschafts- und Sozialstruktur der Kolonialzeit. Die Eroberer waren von ihrer jeweiligen Krone mit Grundbesitz belohnt worden, die auf diesem Boden lebende indigene Bevölkerung hatten sie einfach dazu bekommen. Diese faktischen Leibeigenen waren an die Haciendas und damit an deren Besitzer gebunden. Die hacendados knechteten sie, garantierten aber gleichzeitig ihre Existenz. Diese enge Bindung zwischen dem patrón und dem peón ist bis heute ein Grundmuster lateinamerikanischer Politik: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing, beziehungsweise: der bekommt meine Stimme. Denn wenn es dem patrón gut geht, geht es den peónes zumindest nicht so schlecht, wie es ihnen gehen könnte.

Landarbeiter wählen die Großgrundbesitzer, auf deren Land sie oft schon seit Generationen leben. Viele der inzwischen als korrupt bekannten Abgeordneten und Senatoren aus den ländlichen Gebieten Brasiliens kommen genau so zu ihren Ämtern. Zum Teil werden politische Posten innerhalb einer Familie vererbt. Mehrheiten werden nicht durch Überzeugungsarbeit oder ausgehandelte Kompromisse errungen, sondern gekauft – und das war lange Zeit selbstverständlich. Das derzeitige politische Drama des Korruptionsskandals rund um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in Brasilien zeigt: Die Akteure haben keinerlei Schuldbewusstsein. Woher auch?

Parteien sind in diesem Spiel meist nur Hüllen und bestenfalls Wahlkampfmaschinen, die den persönlichen Interessen ihrer Anführer dienen. Manche sind langlebig und inhaltsleer wie die Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB), der stärksten in ihrem Land. In ihr findet sich zu jeder Position auch die diametrale Gegenposition. Andere sind ganz auf einzelne Personen oder kleine Klüngel zugeschnitten. So wurde in Peru im Juni 2016 mit Pedro Pablo Kuczynski ein Präsident gewählt, der seine wirtschaftsliberale Partei nur für den Wahlkampf gegründet und ihr – unter Missachtung der spanischen Orthografie – den Namen Peruanos por el Kambio ("Peruaner für den Wandel", tatsächlich müsste es Cambio heißen) gegeben hatte, damit die Kurzform PPK seine Initialen ergibt. Die Ermittler der UN-Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) veröffentlichten kürzlich einen Bericht, dem zufolge der dortige Partido Patriota – von Januar 2012 bis zum Sturz des der Korruption bezichtigten Präsidenten Otto Pérez Molina im September 2015 Regierungspartei – nicht etwa mit einer politischen Vision gegründet wurde, sondern mit dem Ziel, den Staat auszunehmen und die Parteigründer zu bereichern.

Aufstieg der Linksparteien

In dieser ganz auf Personen und nicht auf Programme bezogenen Art, Politik zu machen, spielt die Gabe der Rede eine zentrale Rolle. In einer Region, in der die Mehrheit der Bevölkerung bis vor wenigen Jahrzehnten weder lesen noch schreiben konnte, hat das kunstvoll beherrschte Wort ein kaum zu überschätzendes Gewicht. Poeten, denen in Europa ein armseliges Leben beschieden wäre, können in Lateinamerika wahre Volkshelden sein. Fidel Castro wurde von den Kubanern nicht zuletzt wegen seiner viele Stunden dauernden Reden bewundert. Hugo Chávez hat dem Volk geradezu lutherisch aufs Maul geschaut. In Europa mögen seine Reden oft eher derb gewirkt haben – in Venezuela hat er die Massen begeistert.

Es gab nur wenige Ausnahmen von dieser personenbezogenen Politik: Die christdemokratisch orientierten Parteien etwa waren Ausdruck einer langsam wachsenden bürgerlichen Mittelschicht und ihres politischen Willens. Vor allem aber sind die Linksparteien am ehesten Programmparteien im mitteleuropäischen Sinn. Entstanden sind sie meist im Widerstand gegen die Militärdiktaturen: Zur Partei gewandelte ehemalige Guerilla-Organisationen wie die FSLN in Nicaragua und die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) in El Salvador, aber auch die aus der Gewerkschaftsbewegung kommende Arbeiterpartei (PT) in Brasilien oder die Partei für die Demokratie (PPD) in Chile, die so etwas wie eine Tarnkappe für die unter der Diktatur des Augusto Pinochet verbotene Sozialistische Partei war. Dass sich die FSLN in Nicaragua unter der Führung von Daniel Ortega von einer Programmpartei zu einer rein auf die Führungsperson bezogenen Organisation zurückentwickeln konnte, zeigt, wie wirkungsmächtig solche Muster in der lateinamerikanischen Politik sind.

Bei den ersten freien Wahlen nach der Epoche der Diktaturen (in den 1980er und 1990er Jahren) hatten diese Linksparteien noch keine Chance. Zu groß war die Angst der Wähler vor den eben gebändigten Militärs. Sie befürchteten, dass diese, sollten ihre einstigen linken Todfeinde die Regierung übernehmen, noch einmal zuschlagen könnten. Nur in Chile waren die inzwischen sehr gemäßigten Sozialisten als Regierungspartei möglich – in einer Koalition mit den Christdemokraten und unter einem christdemokratischen Präsidenten. Ansonsten folgten den Militärjuntas wieder Präsidenten aus den hergebrachten Eliten (wie in El Salvador und Guatemala), charismatische Provinzfürsten (wie Carlos Menem in Argentinien) oder aus dem Nichts aufgetauchte scheinbare Technokraten (wie Alberto Fujimori in Peru). Sie prägten die neoliberalen Jahre, in denen der Internationale Währungsfonds mit seinen Strukturanpassungsprogrammen die politischen Leitlinien vorgab. Es wurde auf Teufel komm raus privatisiert, wobei sich die alten und auch neue Oligarchen bereicherten und die ohnehin schon breite Kluft zwischen sehr wenigen Reichen und vielen Armen noch breiter wurde.

Man muss diese Geschichte kennen, um zu verstehen, warum es ab der Jahrtausendwende zu einer ganzen Reihe von Linksregierungen gekommen ist: Die zunehmenden sozialen Spannungen, kombiniert mit der nachlassenden Angst vor den Militärs, brachten sie an die Macht. Die einzige Ausnahme war Hugo Chávez in Venezuela, der selbst ein Militär und gescheiterter Putschist war. Aber Venezuela hatte nicht wie Argentinien, Brasilien oder Chile eine Militärdiktatur erlebt. Die Armee war im Wesentlichen politisch neutral geblieben und galt als eine der wenigen Institutionen, in der Menschen aus der Unterschicht sozial aufsteigen konnten. Chávez war einfach ein starker Mann aus dem Volk, der den herrschenden Familien die Stirn bot. Sein Wahlsieg 1998 war ein Sieg der vielen Underdogs gegen die schmale Elite.

In Brasilien war die Kluft zwischen Arm und Reich so gefährlich geworden, dass im Wahlkampf 2002 selbst Großunternehmen den Arbeiterführer Lula da Silva unterstützten, weil sie unter einer weiteren neoliberalen Regierung eine soziale Explosion befürchteten. In Argentinien kam nach einem Staatsbankrott und politischem Chaos der damals weitgehend unbekannte Néstor Kirchner eher durch Zufall an die Macht. Er war alles andere als charismatisch: Er schielte und nuschelte und wirkte mit seinem schlecht geschnittenen Haar und den viel zu weiten Anzügen eher wie ein zwielichtiger Gebrauchtwagenhändler. Charismatisch wurde er erst durch seine Politik.

Eines muss dabei festgehalten werden: Nirgends – nicht einmal in Venezuela – wurde der Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell grundsätzlich infrage gestellt. Das Jahrzehnt der linken Regierungen war nicht revolutionär, es war ein Jahrzehnt der Sozialreformen. Am bekanntesten wurde die von Lula da Silva in Brasilien aufgelegte Bolsa Família, mit der arme Familien einen Einkommenszuschuss bekommen, wenn sie gleichzeitig ihre Kinder regelmäßig zur Schule und zur Gesundheitsvorsorge schicken. Die Bolsa wurde in vielen Ländern kopiert und an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Allein in Brasilien haben mindestens 35 Millionen Menschen mit der Hilfe solcher Programme die Armut überwunden und sind in die untere Mittelschicht aufgestiegen.

Zur populären Sozialpolitik kam, dass so gut wie jeder der linken Präsidenten eine starke Persönlichkeit und eine beeindruckende Geschichte hatte. Lula da Silva (Brasilien), Néstor Kirchner (Argentinien) und Michelle Bachelet (Chile) hatten unter den jeweiligen Militärregimes Verfolgung und Haft erlebt, José Mujica (Uruguay) und Dilma Rousseff (Brasilien) gar Folter. Evo Morales (Bolivien) kam aus ärmsten Verhältnissen und war als Gewerkschaftsführer von Militärs mehrfach zusammengeschlagen und verhaftet worden. Es war die Kombination aus Sozialreform und Persönlichkeit, die diese Präsidentinnen und Präsidenten so beliebt machte.

Was bleibt?

Dass der Glanz der linken Ikonen jetzt verblasst, haben sie zum Teil sich selbst zuzuschreiben. So gut wie alle lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind nach wie vor vom Rohstoffexport abhängig. In den Jahren, in denen China den Weltmarkt "leerkaufte" und die Preise nach oben trieb, ließen sich aus den Erlösen die Sozialprogramme finanzieren. Eine Diversifizierung der Wirtschaft aber wurde, wenn überhaupt, nur zögerlich angegangen. Venezuela hat sogar mehr denn je einzig und allein auf den Export von Erdöl gesetzt. Außer Bolivien hat kein Land in den goldenen Jahren nennenswerte Reserven für schlechte Zeiten angelegt. Und niemand war auf einen derartigen Preissturz für Rohstoffe vorbereitet, wie er in jüngerer Zeit eingetreten ist: Für Erdöl wird heute nur noch ein Drittel der Boompreise bezahlt, für Soja nur noch rund die Hälfte. Die Folge: In Venezuela stürzt die Wirtschaft ab, in Argentinien und Brasilien herrscht Rezession, in fast allen anderen Ländern sind die über Jahre stabil hohen Wachstumsraten empfindlich geschrumpft.

Zur wirtschaftspolitischen Kurzsichtigkeit gesellte sich ein Übel, das aus rohstoffreichen Ländern längst bekannt ist: Je mehr Bodenschätze vorhanden sind, desto größer ist für die Regierenden die Versuchung der Korruption – gegen die auch ehemalige Befreiungsbewegungen nicht gefeit sind. Es ist diese Kombination aus Krise und Korruption, die die Menschen gegen die linken Regierungen aufgebracht hat. Fatalerweise reagieren sie darauf mit Angst vor der eigenen Politik: In Chile sagt Präsidentin Bachelet, sie wolle ihre Reformversprechen aus dem Wahlkampf den wirtschaftlichen Umständen anpassen. Sie meint damit: Sie sollen gestreckt, verzögert, auf unbestimmte Zeit verschoben werden. In Argentinien präsentierten die Peronisten bei der Wahl Ende 2015 mit Daniel Scioli einen Kandidaten ihres wirtschaftsliberalen Flügels, der sich programmatisch kaum vom knapp siegreichen Konservativen Mauricio Macri unterschied. Oft war es die regierende Linke selbst, die den Rollback zu neoliberaler Austeritätspolitik einläutete. Nur in Venezuela reagiert der Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro mit Trotz und autoritären Methoden.

Wenn es in jüngster Zeit in Lateinamerika einen Rechtsruck gegeben hat, dann spielte er sich in den linken Regierungsparteien ab. Von den Menschen aber, die durch Sozialprogramme die Armut überwunden haben und deren Kinder durch linke Bildungspolitik möglicherweise ein paar mehr Chancen im Leben haben, will niemand, dass all dies wieder rückgängig gemacht wird. Und wenn es eine revolutionäre Entwicklung gegeben hat, dann an dieser Basis. Die linken Regierungen kamen allesamt durch Wahlsiege an die Macht, durch Wähler, die sich nicht mehr mit Wahlversprechungen und Geschenken der immer gleichen Elite einfangen ließen. Diese Basis mag angesichts von Krise und Korruption bröckeln. Das Bewusstsein der eigenen Kraft aber ist ungebrochen.

Am greifbarsten ist das in Bolivien, wo die Indígenas – also die Mehrheit im Land – für Jahrhunderte bestenfalls Dienstboten waren und sich kaum trauten, Weißen in die Augen zu blicken. Nach zehn Jahren Regierung unter Evo Morales wissen sie: Wir können ein Land regieren, und wir können es besser, als es die Weißen je getan haben. Dieses Selbstbewusstsein kann ihnen niemand mehr nehmen. Im Nachbarland Chile geht die Jugend weiterhin massenhaft auf die Straße und fordert von Bachelet trotz Krise die versprochene Bildungsreform ein. Und in Argentinien formiert sich schon nach wenigen Monaten Widerstand gegen Macris Politik, die auf Kosten der einfachen Leute vor allem Unternehmen entlastet.

Das ist vielleicht das größte und nachhaltigste Verdienst von charismatischen Figuren wie Hugo Chávez und Lula da Silva, Evo Morales und Cristina Fernández de Kirchner: Sie haben sich von einer erwachenden Basis tragen lassen und gezeigt, dass eine andere (Sozial-)Politik möglich ist, und dass, wer bitterarm geboren wurde, nicht bitterarm bleiben muss.

ist Journalist und schreibt seit mehr als 30 Jahren über Lateinamerika. Mit einer Kollegin betreibt er das Journalismus-Büro Latinomedia. Er lebt in Tübingen, San Salvador und Santiago de Chile. E-Mail Link: tkeppeler@latinomedia.de