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Rurbane Landschaften | Land und Ländlichkeit | bpb.de

Land und Ländlichkeit Editorial Neue Ländlichkeit. Eine kritische Betrachtung Geschichte und Gegenwart des Dorfes Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012 Politik im und für den ländlichen Raum Flüchtlinge aufs Land? Migration und Integration im ländlichen Raum Urbane Dörfer. Städtische Lebensformen im dörflichen Kontext Rurbane Landschaften. Landschaftsentwürfe als Projektionen produktiver Stadt-Land-Verschränkungen

Rurbane Landschaften Landschaftsentwürfe als Projektionen produktiver Stadt-Land-Verschränkungen

Sigrun Langner

/ 14 Minuten zu lesen

In dem Beitrag wird Raum jenseits der Kategorien von Stadt und Land beschrieben und nach produktiven Verschränkungen von urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen, Projektionen und Raumstrukturen gefragt.

Prozesse der Urbanisierung schreiten voran. Bereits jetzt leben über 50 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten, bis 2050 wird das Verhältnis zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung voraussichtlich zwei Drittel zu einem Drittel betragen. Die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft werden in urbanen Zusammenhängen verhandelt: die Anpassung an den Klimawandel, die Bewältigung des demografischen Wandels, Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilung von Lebenschancen ebenso wie die Förderung kultureller und ökonomischer Innovationen. Der Fokus der aktuellen sozial- und raumwissenschaftlichen Diskussionen um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft liegt eindeutig auf den Städten und Metropolräumen.

Unsere Perspektive auf die Geschehnisse um uns ist eine urbane. Sind Perspektiven des Ruralen irrelevant geworden, oder können sie zukunftsfähige, nachhaltige und lebenswerte Räume in einer urbanen und globalisierten Welt sichtbar und gestaltbar machen? Um bisher ungesehene, aber produktive Beziehungen zwischen dem Urbanen und dem Ruralen aufzudecken und auch zu entwerfen, ist es zunächst nötig, die uns umgebenden Landschaften als veränderliche (Re-)Kombinationen von urbanen und ruralen Praktiken, Strukturen, Werten und Sinnkontexten zu lesen.

Veränderliche (Re-)Kombinationen zwischen Stadt und Land in "rurbanen Landschaften" und deren (Re-)Präsentationen in Raumentwürfen und -bildern sind Gegenstand dieses Beitrags. Der Begriff "rurbane Landschaften" beschreibt Raum jenseits der Kategorien von Stadt und Land und fragt nach den Verschränkungen von urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen, Projektionen und Raumstrukturen. Wie urban ist das Land? Wie ländlich die Stadt? Wo gehen Stadt und Land neuartige und produktive Verbindungen ein?

Urbane Projektionen auf das Land

Digitalisierung, Energiewende, globalisierte Produktions- und urbane Lebensweisen, aber auch die Suche nach dem "guten Leben", stehen für die treibenden Kräfte einer Transformation des Landes. Diese "Global Countryside" und die damit einhergehenden räumlichen Veränderungen ländlicher Regionen lassen sich dabei nur in Relation zum Urbanen denken.

Bereits in den 1970er Jahren beschrieb der Philosoph Henri Lefèbvre den voranschreitenden und weltumspannenden Urbanisierungsprozess mit der Metapher des "urbanen Gewebes", das sich mal mehr, mal weniger dicht über das Land spinnt. Dieses urbane Gewebe umfasst "die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes".

Der sukzessive sich ausdehnende urbane Raum ist das Ergebnis vielschichtiger gesellschaftlicher Prozesse. Ökonomische, technische und politische Schranken, die bis zur Moderne die Stadtbevölkerung innerhalb von Stadtmauern zusammenhielten, sind entfallen. Technologische Fortschritte, unter anderem im Transportwesen und der Informationsverbreitung, sowie allgegenwärtige Formen und Erscheinungen medialer Repräsentationen haben den Stadt-Land-Gegensatz erodieren lassen. Eine urbane Lebensweise ist heute, zumindest in den industriegesellschaftlich geprägten Regionen, überall möglich und auch nahezu überall zu finden, unabhängig von bestimmten Raumtypologien. "Stadt ist also nicht unbedingt dort, wo eine dichte Bebauung vorherrscht, sondern dort, wo sich die Bewohner eine städtische Mentalität angeeignet haben."

Der Begriff der Stadt erfährt aus dieser Perspektive in den raumwissenschaftlichen Diskussionen eine Entgrenzung. Städte werden nunmehr weniger als physische und siedlungsstrukturelle Einheiten verstanden, sondern zunehmend als fließende Räume. In einem solchen "Raum der Ströme" zirkulieren Finanz- und Kapitalströme sowie Informationen, Wissensprodukte und Bilderwelten nahezu ortlos und tragen zur Ausdehnung des urbanen Gewebes bei. Die Dominanz der Stadt über das Land wird in der aktuellen Auseinandersetzung mit globalen Urbanisierungsprozessen konstatiert. Hat also die Stadt den Sieg über das Land davongetragen?

Urbanisierungsprozesse beschränken sich dabei nicht nur auf die wachsenden Agglomerationsräume. Geht man von der These einer vollständigen Urbanisierung aus, dann existieren nur noch unterschiedliche Formen des Urbanen. So wird beispielsweise in der 2005 vorgelegten Studie "Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait" die gesamte Schweiz als ein städtischer Zusammenhang mit unterschiedlichen Ausprägungen von Urbanität beschrieben.

In den Raumwissenschaften gibt es eine Vielzahl an Studien und Arbeiten, die die räumlichen und soziokulturellen Veränderungen im vormals ländlichen Raum durch Urbanisierungsprozesse beschreiben. Selbst wenn hierbei die Herausbildung eigenständiger Raumkonfigurationen zwischen Stadt und Land beschrieben wird, geschieht dies vordergründig aus einer urbanen Perspektive heraus. Sind Perspektiven des Ländlichen irrelevant geworden? Wie und in welchen Kontexten beziehen wir uns noch auf das Rurale?

Narrative des Ruralen in einer urbanen Welt

Auch in unserer urbanisierten Welt tauchen immer wieder vielfältige und widersprüchliche Aspekte des Ländlichen auf, sei es in den Medien, in der Idyllisierung des Landlebens in den einschlägigen Landmagazinen, aber auch in literarischen und filmischen Narrativen des Ländlichen als Anti-Idylle oder in raumplanerischen und politischen Diskussionen um die Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen sowie in agrarpolitischen Auseinandersetzungen, letztlich auch in unzähligen individuellen Einzelentscheidungen zur Verwirklichung bestimmter Wohn- und Lebensvorstellungen – um nur einige wenige zu nennen. In verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen scheinen immer wieder solche Repräsentationen des Ländlichen auf, die sich mit jeweils verschiedenen Zwecken auf das "Andere" zur Stadt beziehen. Die erzeugten Bilder des Ländlichen sind mit vielschichtigen Bedeutungszuschreibungen besetzt und bilden nach wie vor wirkmächtige Imaginationsräume. Gegenwärtig lässt sich in den Medien, in Literatur und Kunst sogar eine regelrechte Konjunktur des Ländlichen verzeichnen.

Dabei stehen sich eine romantisierende Verklärung des Ländlichen auf der einen Seite und dramatisierende Untergangsszenarien des Dorfes beziehungsweise dystopische Beschreibungen des Ländlichen auf der anderen Seite gegenüber. Diese beiden Seiten des Ländlichen haben eine lange Tradition in der Wirklichkeitsdeutung und waren bereits Bestandteil des urbanen Selbstbildes eines erstarkenden städtischen Bürgertums im 18. Jahrhundert. Einerseits wurde das idealisierte Sehnsuchtsbild eines arkadischen Landlebens der höfischen Gesellschaft adaptiert, andererseits suchte man sich gegen die vermeintlich rohe bäuerliche Lebensart abzugrenzen. Das Land wurde assoziiert mit Unkultiviertheit und Rückständigkeit. Solche Zuschreibungen zwischen ländlicher Idylle und Anti-Idylle drücken sich gegenwärtig bei der Suche nach traditionellen Kulturlandschaftsbildern während des Sonntagsausfluges aus, bei der Verwirklichung von naturnahen Wohn- und Lebensvorstellungen oder eben auch in krisenhaft wahrgenommenen Situationen einer schrumpfenden Daseinsvorsorge auf dem Land und in medialen Repräsentationen des Ländlichen als defizitäre und abgehängte Räume aus.

Eingebunden in verschiedene Sinnzusammenhänge wird das "Ländliche" so zu einer Folie und einem Kommunikationsfeld für Selbstbeschreibung und Selbstverortung gegenwärtiger Gesellschaften. Repräsentationen des Ländlichen bieten letztlich Auskunft über individuelle und kollektive Bedürfnisse, Ansprüche und auch Ängste einer urbanisierten Gesellschaft. Es ist daher zu fragen, welche Funktionen Narrative des Ländlichen in unterschiedlichen Kontexten und Situationen haben. Für was steht das Ländliche als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum innerhalb einer urbanen Welt?

Rurale Projektionen auf die Stadt

Das Ländliche ist nicht als ein räumlich zu verortendes Territorium außerhalb der Stadtmauern, der Stadtagglomerationen und Metropolen zu verstehen. Vielmehr ist das Rurale als Handlungs- und Imaginationsraum Bestandteil einer urbanen Realität, etwa, wenn als ländlich geltende Praktiken und Lebensweisen in der Stadt gelebt werden oder Bilder, die mit dem Ländlichen verbunden werden, in den Städten auftauchen.

In alltäglichen lebenspraktischen Handlungsmustern zeigen sich Formen einer wiederkehrenden Dörflichkeit in der Stadt: So werden durch Baugruppenprojekte und Nachbarschaftsgärten kleine vernetzte Struktureinheiten gepflegt und die soziale Nähe des Dorfes in die Stadt transportiert. Mit Projekten zur urbanen Landwirtschaft und zum urban gardening werden Fragen der Selbstversorgung diskutiert und erprobt. Handelt es sich bei der "Rückkehr der Gärten in die Stadt" um Korrektivvorstellungen einer urbanen Gesellschaft, verbunden mit einem veränderten Verständnis gegenüber dem Wert gemeinschaftlicher und solidarischer Arbeits- und Lebensweisen?

Räumliche Sehnsuchtsbilder vom offenen Land mit weitem Horizont finden sich inmitten der Metropolen und werden aktiv durch die "Urbaniten" verteidigt. Auf dem Tempelhofer Feld in Berlin wurde beispielsweise durch einen Volksentscheid und eine aktive Bürgerinitiative das offene, weite Wiesenmeer des ehemaligen Flughafengeländes per Gesetz gegen die geplante Randbebauung gesichert. Künstlerische, gärtnerische und soziale Projekte experimentieren mit dem neu gewonnenen Freiraum. Die Feldlerche liefert dazu über dem Tempelhofer Feld den Sound des Landes.

Schließlich tauchen hier inmitten der Stadt Strukturen der artenreichen traditionell bewirtschafteten Kulturlandschaft auf. Vor dem Hintergrund von Naturschutz und extensivem Pflegemanagement werden auf städtischen Grünflächen wie dem Tempelhofer Feld traditionelle landwirtschaftliche Bewirtschaftungsformen wie Beweidung und Mahd (Mähen) eingesetzt. Das führt unter anderem auch dazu, dass die Stadt mittlerweile für bestimmte Pflanzen- und Tiergruppen eine höhere Biodiversität aufzeigt als das scheinbar naturnähere Land.

Die räumliche Trennung in Stadt/Land, verbunden mit Zuschreibungen wie innen/außen, naturfern/naturnah, anonym/nachbarschaftlich, scheint immer weniger einer gelebten und erlebten Alltagsrealität zu entsprechen. Mit dem Begriff "rurbane Landschaft" soll daher ein dynamisches Raumgeschehen zwischen urbanen und ruralen Raumstrukturen, Handlungspraktiken und Imaginationsräumen beschrieben werden. Dem liegt ein relationales Verständnis von Raum zugrunde, das Orte nicht in fixe und unveränderliche Kategorien wie ländlich und städtisch einzuordnen sucht, sondern die vielfältigen ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Beziehungsgefüge in den Blick nimmt. In diesem dynamischen Beziehungsgeschehen verflüssigen sich die Grenzen zwischen Stadt und Land zugunsten neuer netzwerkartiger und hybrider gesellschaftlicher Raumverhältnisse.

Projektionen hybrider Stadt-Land-Strukturen

Mit städtischen und ländlichen Räumen werden unterschiedliche sozialräumliche, funktionale und ästhetische Attribute verbunden. Diese stehen sich als Bild und Gegenbild komplementär gegenüber. Doch nicht nur innerhalb lebenspraktischer Handlungsmuster verweben sich urbane und rurale Praktiken, Bilder und Orientierungsmuster, auch in landschaftsplanerischen und städtebaulichen, teilweise utopischen Raumentwürfen wurden und werden Modelle einer gelingenden Verbindung der positiv konnotierten Seiten von Stadt und Land entworfen und erdacht. Über solche Stadt-Land-Projektionen wird gleichzeitig ausgehandelt, wie eine Gesellschaft ist, sein kann, aber auch nicht sein soll. Das Ländliche dient hierbei häufig als Korrektivvorstellung einer als problembehaftet und krisenhaft wahrgenommenen urbanen Realität.

Idealvorstellungen einer gelingenden Verbindung von Stadt und Land entstanden beispielsweise als Reaktion auf die Probleme der industrialisierten und wachsenden Stadt: Ebenezer Howards Gartenstadtmodell (1898) will die jeweiligen Vorzüge der Stadt und des Landes miteinander verbinden und zugleich ein Idealbild des menschlichen Zusammenlebens sein; in Leberecht Migges "Grünem Manifest" (1919) wird ein Recht auf Selbstversorgung auch im urbanen Raum eingefordert, die ländliche Praktik der Subsistenzwirtschaft sollte dabei die lohnabhängigen städtischen Industriearbeiter emanzipieren. "Wer rettet die Stadt? Das Land rettet die Stadt. Die alte Stadt kann ihr Dasein nur retten, indem sie sich mit Land durchsetzt: Schafft Stadtland!" In Frank Lloyd Wrights Broadacre City (1932/35) wird eine gesellschaftliche Utopie einer dezentral besiedelten Agrarlandschaft beschrieben, die gleichzeitig eine deutliche Sozialkritik an der Ungleichheit in der industriellen Stadt ist.

Projektionen hybrider Stadt-Land-Strukturen entstanden auch im Umgang mit der postindustriellen und schrumpfenden Stadt. Was bedeutet es für die dichte europäische Stadt, wenn sie großflächig durch landschaftlich und landwirtschaftlich geprägte Räume durchzogen wird? Verliert sie an Urbanität durch die Abnahme baulicher Dichte oder gewinnt sie eine neue Form an Urbanität durch den Zuwachs neuer Freiräume?

Oswald Mathias Ungers entwickelte im "Manifest Berlin: ein grünes Archipel" (1977) für die damals schrumpfende Stadt Berlin die Vision eines grünen Stadtarchipels. Dieses Idealstadtkonzept geht davon aus, dass überflüssige beziehungsweise schlecht funktionierende Stadtteile abgerissen werden und so Stadtinseln mit spezifischer Identität innerhalb eines "Naturrasters" entstehen. Die grünen Zwischenräume werden zu neuartigen Freiräumen. In ihnen verbinden sich Verkehrsinfrastrukturen, suburbane Strukturen, Landwirtschaft, Wälder und ökologische Reservate zu einem fließenden Raum, der Raumstrukturen und vagabundierende Lebensstile aufnehmen kann, die in der bestehenden Stadtgestalt keinen Platz finden. Die Ausdünnung der baulichen Struktur und das Entstehen von Zwischenzonen erzeugt Kontraste und Spannungen. Die landschaftlichen Zwischenzonen mit ihren Möglichkeiten, neuartigen Raumtypologien und Nutzungen sind für die Fiktion eines grünen Archipels wesentlich, um Urbanität zu erzeugen und "ein Metropolengefühl eher [zu] intensivieren als [zu] vermindern". Als Denkmodell erfuhr Ungers’ Stadtarchipel gerade in der Schrumpfungsdebatte der 2000er Jahre neue Aufmerksamkeit.

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau 2010 wurde mit dem Projekt "Landschaftszug Dessau" beispielsweise die Frage diskutiert, welche Potenziale offene, weite Wiesenflächen bei der stadträumlichen Neustrukturierung schrumpfender Städte bieten können. Welche neuartigen Landschaften entstehen, wenn der bauliche Zusammenhang der Stadt sich aufzulösen beginnt? Das Stadtentwicklungskonzept "Urbane Kerne und Landschaftliche Zonen" formuliert ein Leitbild, nachdem notwendige Abrisse in "landschaftlichen Zonen", in denen bereits etliche Grundstücke brachliegen, konzentriert werden und so einer kleinteiligen Perforation der Stadt entgegengewirkt werden soll. Gleichzeitig werden die "urbanen Kerne" in ihrer Struktur gestärkt und entwickelt. Die landschaftlichen Zonen sollen aber keine aufgegebenen Resträume darstellen, sondern werden räumlich und konzeptionell mit dem umgebenden und positiv konnotierten Dessau-Wörlitzer Gartenreich verbunden. Mit dem Leitthema "das Gartenreich in die Stadt holen" wird sowohl an das räumliche Bild einer offenen und extensiv bewirtschafteten Wiesenlandschaft angeknüpft als auch an das Prinzip, Flächenbewirtschaftung, ästhetische Gestaltung und Innovation miteinander zu verbinden. Räumliche Elemente des Gartenreiches wie durch Baumgruppen markierte Eingänge und Querungen, durch Blickbeziehungen eingebundene Landmarken oder das Spannungsverhältnis zwischen offener Weite und markanten Baumgruppen und Gehölzrändern werden aufgegriffen, neu interpretiert und ein räumlich-gestalterisches Vokabular für den Landschaftszug entwickelt. Dieses arbeitet bewusst auch mit ländlichen Assoziationen.

Die entstehenden großflächigen offenen Räume werden als kultivierte Weite interpretiert. Durch landwirtschaftliche Bewirtschaftungstechnik und standortangepasste Wiesenmischungen werden zum einen die Pflegekosten dieser neuen urbanen Freiräume gesenkt. Zum anderen entstehen so Typen struktur- und artenreicher Wiesenlandschaften, die in den ausgeräumten Agrarlandschaften nur noch als Relikte kleinbäuerlicher traditioneller Bewirtschaftung auftauchen. Das weite offene und bunte Wiesenbild, das der Städter auf seinem Landausflug sucht, taucht plötzlich inmitten der Stadt auf. Doch hier ist es noch oft mit einer konflikthaften Wahrnehmung verbunden, da extensive Wiesenflächen in der Stadt schnell mit vernachlässigten und ungepflegten Räumen assoziiert werden. Umso wichtiger sind Zeichen und Praktiken, die kulturelle Deutungen der neuen Freiräume ermöglichen: Landmarken wie ein ehemaliger Räucherturm, der heute als Aussichtsturm genutzt wird, oder ein Schornstein, der Brutplätze für unterschiedliche Vogelarten bietet, sind Orientierungspunkte in der neuen offenen Stadtlandschaft und erzählen gleichzeitig etwas über die Nutzungsgeschichte der heutigen Wiesenflächen. Verbleibende Solitärbauten werden als Landsitze neu interpretiert, und sogenannte Landmeister sollen sich um kleinteilige Pflege und nachbarschaftliche Kommunikation kümmern, engagierte Bürger können als Paten Claims in den landschaftlichen Zonen besetzen und bewirtschaften. Ein räumlich-gestalterischer Rahmen und die "In-Kulturnahme" der landschaftlichen Zonen durch verschiedene Akteure sind wichtige Zeichen in diesem langfristigen Umbauprozess, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um ein Stück aufgegebene Stadt handelt, sondern ein neuer Freiraumtypus einer rurbanen Landschaft mit eigenen Raumqualitäten entstehen wird.

Während in schrumpfenden Städten Strukturen der ländlichen Agrarlandschaft Einzug in die Innenstädte halten, steht in wachsenden Agglomerationsräumen die Frage im Vordergrund, wie sich die wachsende Stadt mit der umgebenden Agrarlandschaft verbinden kann. Das Projekt "Bern rUrban" spielt mit den unterschiedlichen räumlichen Qualitäten urbaner und ländlicher Räume. Das Projekt setzt an einem Spezifikum der Region Bern an: die Durchsetzung mit bäuerlichen Hofstellen bis fast in die Kernstadt hinein. Um diese charakteristische räumliche Strukturierung durch die Hofstellen und deren umgebenden landwirtschaftlichen Flächen auch in Zukunft, trotz Wandels in der Landwirtschaft und trotz wachsenden Bedarfs an Bebauungsfläche, zu erhalten, wurden räumliche Strategien für die Durchdringung von Siedlungsstrukturen und Landwirtschaft entwickelt.

Ein räumliches Grundgerüst wurde entworfen, in dem die landwirtschaftlichen Flächen in eine weitere Siedlungsentwicklung der Agglomeration Bern integriert werden können. Die bestehenden sternförmigen Infrastrukturachsen des Agglomerationsraumes werden in Entwicklungskorridoren aufgegriffen. Sogenannte Landschaftsintarsien sollen in diesen Entwicklungskorridoren jedoch von einer zukünftigen Bebauung freigehalten werden, um die räumliche Qualität aus dichter baulicher Struktur und offener landwirtschaftlicher Fläche zu erhalten und zu entwickeln. Gleichzeitig wurden Überlegungen angestellt, wie diese räumliche Qualität auch bei einem Wegfall der konventionellen landwirtschaftlichen Bewirtschaftung erhalten werden kann, als Agropark, Allmende oder Prärie, und wie leerstehende Hofstellen als Landlofts nachgenutzt und in Wert gesetzt werden können.

Das Projekt diskutiert mithilfe von Bildentwürfen die Zukunftsfähigkeit landwirtschaftlicher Flächen im Umfeld wachsender Agglomerationsräume. Wie wird sich die traditionelle rurale Kulturlandschaft im Berner Umland verändern? Und welche Möglichkeitsräume können zukünftige rurbane Landschaften entfalten? Diese Diskussion ist nicht frei von Konflikten, da hier am Tabu der Veränderung und Transformation des traditionellen bäuerlichen Kulturlandschaftsbildes gerüttelt wird.

Navigieren zwischen dem Urbanen und dem Ruralen

Durch das Gegenüberstellen, Verbinden und (Re-)Konfigurieren ländlicher und urbaner Strukturen in räumlichen Entwurfsbildern werden neue Lesarten auf mögliche produktive Zwischenformen von Stadt und Land eröffnet, darstellbar und verhandelbar. Über diese Raumbilder können zum einen mögliche Handlungsoptionen ausgelotet werden. Zum anderen unterstützen sie die individuelle und kollektive Positionierung und Sinnorientierung innerhalb komplexer Raumzusammenhänge zwischen Stadt und Land sowie deren zukünftigen Entwicklungsoptionen und stoßen Diskussionen darüber an.

Die Perspektive des Ländlichen bietet hierbei einen Schlüssel zum Verständnis der in solchen Projekten entworfenen und genutzten Raumvorstellungen. Es lässt sich fragen: Welche räumlichen Qualitäten, Strukturen und Eigenarten repräsentiert das "Ländliche" in diesen Projekten? Wer bezieht sich wie und warum auf das "Ländliche"? Welche Vorstellungen des "guten Lebens" werden über solche Bilder transportiert? In welchen Landschaften wollen wir leben oder eben auch nicht leben?

Die Perspektive des Ländlichen kann auch zu einem differenzierten Verstehen des Städtischen beitragen. Stadt und Land und die damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen und Sinnkonstruktionen sind darin Orientierungspunkte innerhalb eines dynamischen Raumgeschehens, in dem rurale und urbane Praktiken und Strukturen mannigfaltig verflochten sind. Es gilt dabei nicht nur zu fragen, wie durch globale Urbanisierungsprozesse das Land transformiert wird, sondern auch zu erkunden, wie das Land die Stadt verändert und welche zukunftsfähigen Beziehungen zwischen Stadt und Land vorstellbar und wünschenswert sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs, World Urbanization Prospects: The 2014 Revision, Highlights, 2014, Externer Link: http://esa.un.org/unpd/wup/Highlights/WUP2014-Highlights.pdf.

  2. Michael Woods, Engaging the Global Countryside: Globalization, Hybridity and the Reconstitution of Rural Place, in: Progress in Human Geography 4/2007, S. 485–507.

  3. Henri Lefèbvre, Die Revolution der Städte, Dresden 2003 (1970), S. 14.

  4. Vgl. Walter Siebel, Wandel Europäischer Urbanität, in: Renate Bornberg/Klaus Habermann-Nieße/Barbara Zibell (Hrsg.), Gestaltungsraum Europäische StadtRegion, Berlin 2009, S. 87–95, hier S. 89.

  5. André Corboz, Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen, Basel 2001, S. 146.

  6. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Bd. 1: Das Informationszeitalter, Opladen 2001.

  7. Vgl. Corboz (Anm. 5), S. 146.

  8. Vgl. Roger Diener et al., Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, 3 Bde., Basel 2005.

  9. Vgl. Werner Nell/Marc Weiland (Hrsg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014. Siehe dazu auch den Beitrag von Claudia Neu in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  10. Vgl. Dieter Hassenpflug, Urbanität, in: ders., Reflexive Urbanistik. Reden und Aufsätze zur europäischen Stadt, Weimar 2006, S. 57–68, hier S. 60.

  11. Dieser Frage wird derzeit in dem durch die Volkswagenstiftung gefördertem interdisziplinären Forschungsprojekt "Experimentierfeld Dorf" behandelt. Siehe Externer Link: http://www.dorfatlas.uni-halle.de.

  12. Vgl. Werner Nell, Die Stadt als Dorf. Über die Generalisierung von Nahräumen und ihre Grenzen, in: Nell/Weiland (Anm. 9), S. 175–194.

  13. Christa Müller (Hrsg.), Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München 2011.

  14. Vgl. Josef Reichholf, Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen, München 2007.

  15. Zum Begriff des "Raumgeschehens" aus einer landschaftlichen Perspektive vgl. Hille von Seggern/Julia Werner/Lucia Grosse-Bächle (Hrsg.), Creating Knowledge. Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften, Berlin 2008.

  16. Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001.

  17. Vgl. Hassenpflug (Anm. 10), S. 75.

  18. Leberecht Migge, Das grüne Manifest, in: Christoph Mohr/Michael Müller, Funktionalität und Moderne. Das neue Frankfurt und seine Bauten 1925–1933, Köln 1984, S. 33.

  19. Vgl. Charles Waldheim, Notes Toward a History of Agrarian Urbanism, in: Graz Architektur Magazin 7/2011, S. 122–133, hier S. 124.

  20. Florian Hertweck/Sébastien Marot (Hrsg.), Die Stadt in der Stadt – Berlin: ein grünes Archipel, Zürich 2013, S. 18.

  21. Ein prozessorientiertes Entwicklungskonzept für den "Landschaftszug Dessau" wurde zwischen 2007 und 2010 von Station C23 – Büro für Landschaftsarchitektur, Architektur und Städtebau in Zusammenarbeit mit der Stadt Dessau im Rahmen der IBA Stadtumbau 2010 erarbeitet.

  22. Vgl. Sigrun Langner, Navigating Urban Landscapes – Adaptive and Specific Design Approach for the "Landschaftszug" in Dessau, in: JoLa. Journal of Landscape Architecture 2/2014, S. 16–27.

  23. "Bern rUrban" entstand innerhalb des offenen Testplanungsverfahrens "Ein Bild für die Region Bern" des Vereins Region Bern, der aus der Stadt Bern und ihren 26 Umlandgemeinden besteht.

  24. Vgl. Michael Koch/Martin Schröder, ZwischenStadtEntwerfen. Plädoyer für konzeptionelle Strategien im regionalen Maßstab oder: Für ein raumplanerisches Entwerfen, in: Deutsches Architektenblatt 9/2006, S. 18–21.

  25. Vgl. Marc Redepenning, Reading the Urban Through the Rural: Comments on the Significance of Space-Related Distinctions and Semantics, in: Dieter Hassenpflug/Nico Giersig/Bernhard Stratmann (Hrsg.), Reading the City: Developing Urban Hermeneutics, Weimar 2011, S. 85–101.

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ist Juniorprofessorin für Landschaftsarchitektur/-planung an der Bauhaus-Universität Weimar. E-Mail Link: sigrun.langner@uni-weimar.de