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Die amerikanischen Träume zersplittern: 1967 in den USA | 1967 | bpb.de

1967 Editorial Szenen eines Jahres Krise und Protest: Signaturen eines westdeutschen Jahres Die amerikanischen Träume zersplittern: 1967 in den USA Vergebliches Werben um den "Brentrance". Großbritannien und Europa 1967 Das Jahr, das den Nahen Osten veränderte "Der Erlöser aus dem Dschungel". Ernesto Guevaras Tod, Vermächtnis und Auferstehung Reformationsjubiläum 1967 im geteilten Deutschland. Politische Abgrenzung und konfessionelle Annäherung

Die amerikanischen Träume zersplittern: 1967 in den USA

Philipp Gassert

/ 16 Minuten zu lesen

1967 zerfaserte in den USA der liberale Nachkriegskonsens. Dieser hatte auf einer Kombination mehrerer Elemente beruht: zum einen auf einem robusten außenpolitischen Antikommunismus und Internationalismus, zum anderen auf wachsender Prosperität im Zuge des Wirtschaftsbooms nach dem Zweiten Weltkrieg, womit die Ausweitung sozialstaatlicher Programme, aber auch wachsende politische Teilhabe bisher diskriminierter Gruppen einhergegangen waren. Fortschritte hatten vor allem Afroamerikaner zu verzeichnen gehabt. Staatlich sanktionierte "Rassentrennung" und der weitgehend legale Ausschluss der meisten Schwarzen vom Wahlrecht in den Südstaaten wurden mit den Bürgerrechtsgesetzen 1964/65 aufgehoben. Hierfür hatten die Köpfe der Bürgerrechtsbewegung nicht zuletzt auf den antitotalitären und antikommunistischen Konsens der USA gesetzt, weil der Kampf für die Freiheit in der Welt konsequenterweise Freiheit und Gleichheit zuhause erforderte. Dieser prekäre Kompromiss zersplitterte 1967, auch weil sich zeigte, dass rechtliche Gleichstellung nicht den raschen Abbau ökonomischer Ungleichheit zur Folge hatte. Rassismus und Ausgrenzung dauerten an, Schwarze blieben wirtschaftlich weit überdurchschnittlich schlechter gestellt. Während sich die von Mittelschichts-Amerikanern stark beargwöhnte Gegenkultur im summer of love 1967 zu ihrem Alptraum verkehrte, kam es im Juli 1967 in mehreren innerstädtischen schwarzen Ghettos, vor allem in Newark und Detroit, erneut zu massiven Aufständen, teilweise ausgelöst durch Polizeigewalt.

Auch der Krieg der USA in Vietnam wurde zunehmend angeprangert. Er wurde im Herbst 1967 zum alles beherrschenden Thema. Einen ersten symbolträchtigen Höhepunkt erreichte der Antikriegsprotest im Oktober 1967, als Demonstrierende das Verteidigungsministerium in Washington belagerten (march on the Pentagon). Der Krieg spaltete die Demokratische Partei. Ende November kündigte Senator Eugene McCarthy (Minnesota) an, sich als "Friedenskandidat" um die Nominierung der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 1968 zu bewerben. Er forderte damit Präsident Lyndon B. Johnson in dessen eigener Partei direkt heraus. Anfang November rief Johnson eine Gruppe älterer Staatsmänner und hochrangiger Berater (the wise men) zu einem Geheimtreffen zusammen, um Strategien zu überlegen, wie er das amerikanische Volk im Vietnamkrieg hinter sich halten könne. Obwohl der US-Oberkommandierende General William Westmoreland siegesgewiss von militärischen Fortschritten sprach, trennte sich Johnson Ende des Monats von seinem Verteidigungsminister Robert McNamara, der zwar zu den Architekten des Engagements in Vietnam gehört hatte, aber nun ein Ende der Bombardierungen forderte. Im Dezember 1967 ließ sich die Beat-Ikone Allen Ginsberg medienwirksam verhaften, als er zur Kriegsdienstverweigerung aufrief.

1967 zeigen sich tiefe Risse im sozialen und politischen Gefüge der USA. Bisher verborgene Konflikte wurden manifest. Ein entscheidender Umbruch bahnte sich an, der sich 1968 ereignisgeschichtlich weiter verdichten sollte. Über die "Rassenfrage", Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Fragen von Sexualität, Frauenrechte, patriarchalische Autorität und "amerikanische Werte", aber ganz besonders über Vietnam, zerbrach die innere Einheit der Demokratischen Partei und des US liberalism. Anfang 1967 trat Ronald Reagan sein Amt als Gouverneur von Kalifornien an. Er profilierte sich als harter Kämpfer für "Recht und Ordnung". Die konservative Tendenzwende, in deren Schatten die US-Politik bis heute steht, nahm Fahrt auf. Die politische Hegemonie der Demokraten endete, deren Basis Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal ab 1933 gelegt hatte. Symbolisch festmachen lässt sich die Fragmentierung des liberal-demokratischen Spektrums an einer Rede des prominentesten Repräsentanten der US-Bürgerrechtsbewegung, Dr. Martin Luther King, Jr., in der Riverside Church in New York im April und dessen wachsendem Engagement für Arme. Kings Rede bildet den Ausgangspunkt einer auf wenige Stichworte konzentrierten Zeitreise durch das Jahr 1967, in dem soziale Ungleichheit zum großen Thema wurde, daneben die counter culture (Gegenkultur) von einer Ideologie der Freiheit zur Gewaltorgie mutierte sowie Vietnam zunehmend alles andere übertönte.

Martin Luther Kings Appell an das Gewissen

Am 4. April 1967 hielt Amerikas bekanntester Geistlicher, der Baptistenprediger, Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King in der Riverside Church in New York eine Aufsehen erregende Rede. In dieser brach er endgültig sein langes Schweigen über Vietnam und redete Nation und Politik ins Gewissen. Als Friedensnobelpreisträger, aber ganz besonders als Pfarrer sei es seine Pflicht und Schuldigkeit, die Friedensbotschaft Christi ohne jedes Wenn und Aber zu verkündigen. Irgendwann werde aus Schweigen Verrat ("A time comes when silence is betrayal"). Dieser Punkt sei mit Blick auf Vietnam jetzt erreicht. Möglichen Einwänden hielt er entgegen, dass sich das Evangelium an alle Menschen richte: "Kommunisten und Kapitalisten, deren Kinder und unsere, Schwarz und Weiß, Revolutionäre und Konservative." Doch der Krieg sei deshalb so verhängnisvoll, weil er die USA im Innersten verwunde, weil er Amerikas Seele vergifte. Wie könne er die wütenden jungen Männer in den innerstädtischen Ghettos davon abhalten, in ihrer sozialen Ausweglosigkeit nicht zu Molotow-Cocktails und Gewehren zu greifen, wenn die US-Regierung der weltweit "größte Lieferant von Gewalt" ("greatest purveyor of violence") geworden sei, fragte er.

King wurde mehrfach von lang anhaltendem Applaus unterbrochen. Das Publikum von etwa 3.000 christlichen und jüdischen Kriegskritikern, überwiegend Mitglieder der Organisation Clergy and Laymen Concerned About Vietnam (CALCAV), war vorhersehbar begeistert. Es hatte auf diesen Moment der Absage an den Vietnamkrieg von einer überragenden moralischen Autorität wie King geradezu gewartet. Doch die breite Öffentlichkeit reagierte ablehnend. Die liberale "New York Times" nahm zwar seit einiger Zeit eine kritische Haltung zum Krieg in Vietnam ein, kritisierte jedoch Kings Verknüpfung mit dem Kampf gegen Armut. Eine Vermengung komplexer Probleme schade allen Seiten. King erweise seinem Anliegen einen Bärendienst, weil konservative Kongressmitglieder gegen sozialstaatliche Programme munitioniert würden, wenn er Aspekte der Kriegführung in Vietnam mit Nazi-Methoden vergleiche. Im Oval Office ließ Präsident Lyndon B. Johnson seiner Empörung freien Lauf: King sei "ein naiver schwarzer Prediger, der von den Kommunisten reingelegt worden ist".

Die ganz überwiegend feindseligen Reaktionen auf die Riverside Church Speech sind Indikator des bröckelnden Konsenses und des Zerfalls der Koalition, die die Bürgerrechtsbewegung getragen hatte. Aus liberaler Sicht schlug King sich auf die Seite der schwarzen Radikalen rund um den Vorsitzenden des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), Stokely Carmichael. Er wurde daher nicht allein im demokratischen Establishment kritisiert. Afroamerikanische Zeitungen wie der "Pittsburgh Courier" hielten die Rede für einen schweren taktischen Fehler, weil sie das Bündnis mit Johnson untergrabe. Führende Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung wie der Direktor der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), Roy Wilkins, distanzierten sich öffentlich in harschen Tönen. Schließlich gab es Fortschritte zu verzeichnen: Immer mehr Schwarze schafften den sozialen Aufstieg. Große, symbolische Durchbrüche wurden erreicht: 1966 war mit der Ernennung von Robert Weaver zum Secretary of Housing and Urban Development zum ersten Mal ein Schwarzer ins Kabinett berufen worden. Mit Edward Brooke (Massachusetts) saß seit Anfang 1967 zum ersten Mal ein direkt gewählter Afroamerikaner im Senat. Und im Herbst 1967 wurde in Cleveland mit Carl Stokes erstmals ein Schwarzer Bürgermeister einer amerikanischen Großstadt.

Als Krönung der wachsenden politischen Teilhabe von Afroamerikanern konnte die Berufung des ehemaligen NAACP-Justiziars Thurgood Marshall zum Richter am Obersten Gerichtshof im Oktober 1967 gesehen werden. Dieser hatte schon zuvor als erster Schwarzer im Amt des Chefanwalts der Regierung (Solicitor General) eine Schranke durchbrochen. Seine Wahl erfüllte die etablierten Kräfte der Bürgerrechtsbewegung mit Stolz.

Von der Teilhabe zur Gleichheit

Doch während einzelne Mitglieder der afroamerikanischen Elite eine symbolische Hürde nach der anderen nahmen, änderte dies wenig an der extremen Armut der überwiegenden Mehrheit der Schwarzen. Diese lebten in Innenstädten oft in menschenunwürdigen "Dritte-Welt"-Verhältnissen. Selbst in direkter Nachbarschaft des Capitols dehnten sich Slums aus, eine für die Supermacht USA äußerst peinliche Lage. Der Kampf um die rechtliche Gleichstellung hatte Gräben überbrückt. Doch Kings Intervention – nicht die irgendeines Radikalen, sondern des Visionärs der "farbenblinden Gesellschaft" – legte Lebenslügen des amerikanischen Traums offen. Er beharrte darauf, dass ein Konnex zwischen dem Vietnamkrieg, in dem überproportional viele afroamerikanische Soldaten starben, einem fortdauernden "institutionellen Rassismus" und dem fast unlösbaren Problem der Armut bestand. Kritikern erläuterte er, dass die Prinzipien der Gewaltlosigkeit nicht auf die USA selbst beschränkt bleiben dürften, sondern auch für ihre internationalen Beziehungen gelten würden.

Diese Mahnungen fanden traurige Bestätigung, als es im Sommer 1967 in zahlreichen Städten der USA zu blutigen Aufständen kam, wobei die race riots in Newark und dann in Detroit, allein dort mit 41 Toten, die schlimmsten waren. Natürlich verurteilte King das sinnlose Plündern und Morden. Doch zugleich beschwor er Johnson in einem Telegramm: Die sozialen Unruhen seien Folge der Untätigkeit der Regierung, die Soldaten schicke, statt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu organisieren. Der Präsident war empört über den "undankbaren Neger". King verschärfte seinerseits die Gangart. Seit dem Herbst 1967 bereitete er einen neuerlichen Sternmarsch auf Washington vor, der nach dem Vorbild der erfolgreichen Bürgerrechtsmärsche, aber auch der Protestmärsche verarmter Veteranen und Arbeitsloser in den 1930er Jahren, den Kongress zur Verabschiedung von Hilfsprogrammen zwingen sollte. Diese poor people’s campaign zielte auf alle Unterprivilegierten, nicht nur Schwarze, sondern auch arme Weiße, Ureinwohner und Latinos. Doch der Nobelpreisträger fand hierfür kaum Verständnis. In seiner Weihnachtspredigt 1967, die nur noch über den kanadischen Rundfunk ausgestrahlt wurde, sah er seine Vision seiner berühmtesten Rede von 1963 ("I have a dream") enttäuscht: "Ich sah, wie mein Traum in einen Alptraum verwandelt wurde."

Die Gleichberechtigungskampagne legte die fehlende Unterstützung durch städtische, weiße, überwiegend nicht der angelsächsischen Ethnie angehörende Wählerschichten offen (Iren, auch Polen und Italiener, in ländlichen Gebieten Iro-Schotten). Diese stellen die historische Basis der Demokratischen Partei dar. Für sie bildete nun statt Klassenfragen vermehrt die Rassenfrage den meist unausgesprochenen Orientierungspunkt. Das schwächte die Demokraten, zumal diese als historisch hegemoniale Partei des Südens dort auf der anderen Seite des Bürgerrechtskampfs gestanden hatten und aus deren Reihen mit dem ehemaligen Gouverneur von Alabama, George Wallace, ein eingefleischter Befürworter der Rassentrennung im Herbst 1967 damit begann, für sich als Drittpartei-Kandidat zu werben. 1968 sollte er den Demokraten entscheidende Stimmen wegnehmen. Wallace hatte sich mit seinem berüchtigten stand in the schoolhouse door – ein Vorfall im November 1963, als er persönlich zwei afroamerikanischen Studierenden den Zugang zur University of Alabama versperrt hatte – seinen Namen als hartgesottener Segregationist redlich erworben. Er zielte, wie im Präsidentschaftswahlkampf 2016 Donald Trump sowie vor diesem die republikanischen Kandidaten Richard Nixon, Ronald Reagan und George H.W. Bush, auf Wähler aus den weißen Unterschichten, die von einer Umverteilung potenziell auch zugunsten der urban poor (sprich Schwarze) durch wohlfahrtsstaatliche Programme nichts für sich selbst erwarteten. Hingegen versprach Wallace generöse Zuwendungen an das für die weiße Mitte überragend wichtige staatliche Rentensystem (Social Security) und nahm isolationistische Positionen ein, indem er einen Abzug aus Vietnam innerhalb von 90 Tagen nach seiner Wahl versprach, sollte sich der Krieg als ungewinnbar erweisen.

Auch in der Frauenbewegung gärte es 1967. Einerseits hatte sie ebenfalls große Erfolge vorzuweisen. Der Civil Rights Act von 1964 verbot neben der rassischen auch die geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsplatz. Doch andererseits mahlten die Mühlen der Justiz und der Antidiskriminierungsstellen vielen Frauenrechtlerinnen zu langsam, um patriarchalische Strukturen rasch zu überwinden. Die National Organization of Women (NOW) nahm auf ihrem ersten Jahrestreffen 1967 die Kampagne für ein Equal Rights Amendment zur Verfassung wieder auf. NOW, eine überwiegend von gut ausgebildeten, berufstätigen Frauen getragene Organisation ohne Massenanhängerschaft, zielte nun verstärkt auf die aktive Überwindung gesellschaftlicher Geschlechterunterschiede. Zunächst innerhalb der Neuen Linken gründete sich 1967 beispielsweise die Gruppe New York Radical Women (zu deren Mitgliedern in den 1970er Jahren prominente Feministinnen wie Robin Morgan und Shulamit Firestone gehörten). Diese Frauen fragten sich angesichts des unverhohlenen Sexismus vieler männlicher Protestler, deren Rollenverständnis verdächtig dem ihrer Väter glich, wie denn die Ideale einer partizipatorischen Demokratie in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft verwirklicht werden könnten. Denn weibliche Körper waren auch in progressiven Milieus oft männlicher Kontrolle unterworfen, auch angesichts eines recht einseitigen Verständnisses "sexueller Freiheit". Derartige, damals radikal klingende Positionen, waren für die meisten amerikanischen Mittelschichtsfrauen nicht anschlussfähig.

Albtraum der Counter Culture

Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität stellten neben dem öffentlichen, mit vielen Mythen überfrachteten, im Rückblick oft haltlos übertriebenen Drogenkonsum einer relativ kleinen Minderheit, für viele Amerikaner der "hart arbeitenden" Arbeiter- und Mittelschichten (übrigens auch traditionell sozialkonservativ eingestellter afroamerikanischer Führungsschichten) den offensichtlichsten Stein des Anstoßes dar. Angesichts der von den Protagonisten der counter culture mit Gespür für Skandale zelebrierten Zurückweisung all dessen, was unter etablierten gesellschaftlichen Normen verstanden werden konnte, sahen sich Gralshüter von "Familienwerten" gezielt provoziert. Beide Seiten orientierten sich hierbei an den fifties als mythischem Referenzpunkt einer angeblich heilen Welt beziehungsweise eines verdammenswerten Konformismus. Zugleich wurde die Gegenkultur 1967 medial zum Modephänomen angeheizt und verkehrte sich auch dadurch in ihr Gegenteil. Der im Rückblick als Festival sozialer Bewusstseinserweiterung verklärte summer of love in San Francisco endete in einer Orgie von Kriminalität und sexueller Gewalt.

Die Ursprünge der counter culture liegen an mehreren Orten, auch in New York, und zwar in der Beat-Kultur der späten 1950er Jahre. 1967 verlagerte sich ihr Epizentrum endgültig an die Westküste, als San Francisco zum Pilgerziel zahlreicher sogenannter "Blumenkinder" wurde (in Scott McKenzies epochalem Song 1967 eingängig verklärt). Der in seinen Ursprüngen etwas unklare Begriff des "Hippie" wurde 1967 medial aufgegriffen und popularisiert. Die Fernseh-Dokumentation "The Hippie Temptation" gab Warnungen besorgter Psychologen und Pädagogen über das lockere Leben der "Hipster" in San Francisco Raum und warb doch mit kräftigen Bildern erst recht für das süße, libertäre Leben in der klimatisch begünstigten, schönen Stadt im Westen. 50.000, 100.000 "Blumenkinder", so die Prognose, würden sich in einem "Sommer der Liebe" vereinen. Es wurden noch mehr. Die Horden teils extrem naiver junger Menschen, verwandelten seit den Frühjahrsferien 1967 das Szeneviertel Haight-Ashbury, ursprünglich eine arme schwarze Nachbarschaft, nach und nach in einen Slum. Sie sahen sich von Drogendealern verraten und verkauft. Kleinkriminalität, auch massenhafte Vergewaltigungen ungeschützter junger Mädchen, aber auch junger Männer, waren an der Tagesordnung und wurden erstaunlich wenig geahndet.

Im Sommer 1967 wurde San Francisco von jungen Menschen, oft noch Schülerinnen und Schüler, überrannt, die nach etwas Neuem, Unerhörtem und vor allem nach menschlicher Wärme, Erfüllung und Erfahrung von Ganzheit suchten. Viele dieser Teenager-Träume wurden brutal zerstört – im Greenwich Village in New York im wahrsten Sinne des Wortes, wo zwei von zuhause ausgebrochene "Blumenkinder", ein Junge und ein Mädchen, auf einem LSD-Trip im Oktober 1967 ermordet wurden. Das Mädchen war im zweiten Monat schwanger und war vor seiner Ermordung missbraucht worden. Auch an dieser Aufsehen erregenden Geschichte machte sich die öffentliche Distanzierung von der Gegenkultur fest. In San Francisco wiederum inszenierte die aktionistische Gruppe "The Diggers" angesichts solcher Exzesse und der krassen Kommerzialisierung der Gegenkultur eine bizarre Trauerfeier, auf der der "Tod des Hippies" erklärt wurde. Sie verabschiedete sich damit vom Traum einer Welt ohne Eigentum, Besitz, Grenzen und Konformität, voll theatralischer Selbstverwirklichung. Dieser konnte in Haight-Ashbury nicht mehr gelebt werden, wo findige Geschäftsleute voyeuristische Bustouren organisierten. Auch das die Gegenkultur zelebrierende Musical "Hair", 1967 zunächst off-Broadway produziert, schaffte den Sprung in die kommerzielle Theaterszene. Als counter culture zum Geschäftsmodell wurde, setzte sich der harte Kern der "Aussteiger" in Landkommunen und periphere Räume ab.

1967 widmete das Nachrichtenmagazin "Time" den Hippies eine Titelgeschichte. Die counter culture war somit Mode. Doch damit löste die Mischung aus Freiheitsstreben, oft mehr publizierter als praktizierter sexueller Libertinage sowie einer aggressiver auftretenden, sich kriminalisierenden Drogenszene eine politische und soziale Gegenbewegung aus. Die Gewaltexzesse von San Francisco und New York, oder dann 1968 aus Anlass der Proteste während des Demokratischen Parteitags in Chicago, riefen konservative Gralshüter von "Recht und Ordnung" und einer guten alten Moral wie Reagan und Nixon auf den Plan, die im Namen einer "schweigenden Mehrheit" Politik gegen Gegenkultur und liberalism machten. Sie sahen die Gegenkultur nicht als ein letztlich die Konsumgesellschaft konsequent übersteigerndes Phänomen, sondern als moralische Verfallserscheinung. Dies änderte nichts daran, dass sich gesellschaftliche Einstellungen zur Sexualität rasch wandelten, genauso wie der zunehmend kriminalisierte Drogenkonsum – LSD wurde in den USA Ende 1966 verboten – schon Ende der 1960er Jahre die Enklaven der Gegenkultur verließ und breitere Kreise erreichte. Somit fand auch die wachsende Kriminalisierung des Drogenkonsums mit ihren überaus negativen Folgen einen ihrer Ausgangspunkte 1967/68 in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Gegenkultur.

Höhepunkt der Antikriegsbewegung

Dies alles wurde seit dem Herbst 1967 von der immer lauter dröhnenden Debatte über den Krieg in Vietnam übertönt. Dieser hatte von Anfang an Kritik provoziert, doch überwiegend innerhalb akademischer Kreise sowie marginaler Gruppierungen der Neuen Linken. So hatten die Students for a Democratic Society (SDS) – eine damals weitgehend unbekannte Truppe aus einer überschaubaren Anzahl studentischer Aktivisten – schon im April 1965 eine erste Demonstration mit immerhin 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor dem Washington Monument organisiert. Die gleiche Gruppierung war kurz zuvor an der University of Michigan in Ann Arbor Teil des ersten Teach-in gewesen, wo Professoren und Studierende sich die Köpfe darüber heiß redeten, dass viele Universitäten nicht nur von wachsenden Investitionen der Regierung in höhere Bildung profitierten, sondern durch Rüstungsforschung direkt am Krieg partizipierten. Dieser erste Teach-in machte Schule. Im akademischen Jahr 1965/66 fanden an mehr als hundert Universitäten teils sich über Wochen ziehende Seminare zu Vietnam statt. 1966/67 sprang der Funke über und erreichte durch kirchliche Gruppierungen wie CALCAV, die für die Riverside Church Speech ein Forum geboten hatte, breitere Kreise.

Die Stimmung kippte Ende 1967. Nicht nur die "New York Times", auch "Time" und "Washington Post" nahmen auf ihren Meinungsseiten vermehrt kritisch zu Vietnam Stellung. Mitglieder der intellektuellen und kulturellen Eliten distanzierten sich nun vermehrt vom Krieg, obwohl die Bevölkerung ihn Umfragen zufolge weiter unterstützte. Zugleich nahm die Protestintensität zu. Drei Wochen nach der Veranstaltung in der Riverside Church marschierte King an der Spitze von mehr als 100.000 Menschen vom Central Park zum Sitz der Vereinten Nationen am East River. Zu einer ähnlich großen Protestveranstaltung kam es in San Francisco. Massive Aufmerksamkeit bekam dann ein Marsch vom Lincoln Memorial zum Verteidigungsministerium jenseits des Potomac am 21. Oktober 1967. Der march on the Pentagon hat auch aufgrund der fotogenen Gegenüberstellung von Protestlern und Militärpolizisten an den Stufen des damals noch frei zugänglichen Pentagon als Bildikone Geschichte gemacht.

Im Herbst 1967 konnte Johnson die Antikriegsbewegung nicht länger ignorieren. Seine öffentlichen Auftritte wurden von Demonstranten gestört. Enge Mitarbeiter wie Verteidigungsminister McNamara kehrten ihm den Rücken. Dieser hatte einst selbstsicher die Brechung des vietnamesischen Widerstands angesichts der haushohen technologischen Überlegenheit der USA vorhergesagt. Im Herbst 1967 wiederholte er intern seine Warnung, dass der Krieg militärisch nicht mehr gewinnbar sei und kündigte seinen Rücktritt an. Johnson wiederum, der sich seine Entscheidung nicht leicht machte, bat die erwähnten wise men um Rat. Alle, mit Ausnahme von Ex-Vizeaußenminister George Ball, empfahlen ein Festhalten am eingeschlagenen Kurs. General Westmoreland schilderte auf einer Pressekonferenz Ende November breit die militärischen Fortschritte bei der Bekämpfung des Feindes und sprach davon, dass das "Licht am Ende des Tunnels" zu sehen sei. Diese Formulierung fiel der Administration Ende Januar 1968 auf die Füße. Für den Durchschnittsmedienkonsumenten völlig unerwartet drang während der Tet-Offensive der militärische Gegner bis in die südvietnamesischen Städte vor und sogar in das Allerheiligste der US-Botschaft Saigon. Obwohl Tet für die vietnamesische Befreiungsfront in einem blutigen Debakel endete, trugen die Kommunisten einen psychologischen Sieg davon. Denn Johnson und die US-Militärführung büßten in den Augen der Medien und vieler Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Glaubwürdigkeit endgültig ein.

Schluss

Jahresdaten sind willkürliche Zäsuren des Zeitstroms. Doch im Rückblick gewinnen Jahre oft einen eigenen Charakter, eine eigene, in Zahlen eingeschriebene Textualität. 1967 in den USA ist weniger als 1968 ein hoch symbolischer Wendepunkt, weil ihm, trotz eindrücklicher Momente, die ganz große ereignisgeschichtliche Dramatik und Dichte der Erzählungen fehlt. Dazu trug bei, dass 1967 in Amerika kein Wahljahr war.

Doch die Ereigniskette, die dann zur konservativen Wende und zur Wahl Nixons führte, begann im Frühjahr 1967, als gleich mehrere Konfliktlinien aufbrachen: Kings Riverside Church Speech legte die Brüche innerhalb der konsensliberalen Koalition offen, indem er die Nichteinlösung sozialer Gleichheitsforderungen kausal mit dem Krieg in Südostasien verknüpfte. Der Nachkriegsliberalismus, der die Bürgerrechtsgesetze mit ermöglicht hatte, zerfaserte. Im Herbst trat George Wallace zum rassistischen Gegenschlag an. Im Sommer 1967 fanden mit der massiven Kommerzialisierung der counter culture, dem "Tod des Hippies" und der Epidemie sexueller Gewalt in San Francisco sowie quasi militärischen Konfrontationen in brennenden Armenvierteln großer Städte gleich mehrere amerikanische Träume ein brachiales Ende. "Bilder der Unordnung" waren Wasser auf die Mühlen der Konservativen. Weil Johnson seinerseits in Vietnam Kurs hielt, untergrub er seine innenpolitische Agenda und damit seine Präsidentschaft. Amerika konnte sich nicht "more guns and butter" gleichzeitig leisten. Das konsensliberale Haus kollabierte erst 1968. Doch deutliche Risse in der Fassade dieses stolzen Gebäudes waren 1967 allenthalben sichtbar geworden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Alan J. Matusow, The Unravelling of America. A History of Liberalism in the 1960s, New York 1984; Robert D. Johnson, Washington, 20. Januar 1961. Der amerikanische Traum, München 1999, S. 171ff.; Philipp Gassert/Mark Häberlein/Michael Wala, Kleine Geschichte der USA, Stuttgart 20082, S. 474ff.

  2. Vgl. Manfred Berg, The Ticket to Freedom. Die NAACP und das Wahlrecht der Afro-Amerikaner, Frankfurt/M. 2000.

  3. Vgl. Marc Frey, Geschichte des Vietnamkrieges, München 19993, S. 159.

  4. Vgl. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 68–86; Anselm Doering-Manteuffel/Jörn Leonhard (Hrsg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: dies. (Hrsg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32, hier S. 26f.

  5. Martin Luther King, Jr., "Beyond Vietnam", Address delivered to the Clergy and Laymen Concerned about Vietnam, Riverside Church, New York City, 4.4.1967, Externer Link: http://kingencyclopedia.stanford.edu/kingweb/publications/speeches/Beyond_Vietnam.pdf.

  6. Dr. Kings Error, New York Times, 7.4.1967, S. 36, Reprint in OAH Magazine of History 1/2005, S. 45.

  7. Zit. nach Peter J. Ling, Martin Luther King, Jr., London 2002, S. 274.

  8. Vgl. Britta Waldschmidt-Nelson, Gegenspieler. Malcolm X und Martin Luther King, Jr., Frankfurt/M. 20106, S. 136.

  9. Vgl. hierzu und zum Folgenden James T. Patterson, Grand Expectations. The United States, 1945–1974, Oxford 1996, S. 653ff.

  10. Vgl. King an Jay H. Cerf, o.D. (1967), Reprint in OAH Magazine 1/2005, S. 48ff.

  11. Zit. nach Waldschmidt-Nelson (Anm. 8), S. 139.

  12. Zit. nach ebd.

  13. Als klassische Kritik vgl. Alice Echols, Daring to Be Bad: Radical Feminism in America, 1967–1975, Minneapolis 1989.

  14. Gerard DeGroot spricht gar vom "summer of rape": The 60s Unplugged, London 2008, S. 301ff.

  15. Vgl. ebd., S. 305.

  16. Vgl. David Farber, The Age of Great Dreams. America in the 1960s, New York 1994, S. 188f.

  17. Details nach James Miller, Democracy Is in the Streets. From Port Huron to the Siege of Chicago, New York 1987; Farber (Anm. 16), S. 153ff.; Patterson (Anm. 9), S. 678ff.

  18. Vgl. Robert McNamara, In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam, New York 1995.

  19. Vgl. Irving Bernstein, Guns Or Butter. The Presidency of Lyndon Johnson, Oxford 1996.

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ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien. Jüngste Buchpublikation, gemeinsam mit Alexander Emmerich, "Amerikas Kriege" (2014). E-Mail Link: gassert@uni-mannheim.de