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Kalter Krieg oder neue Ostpolitik? Ansätze deutscher Russlandpolitik

Andreas Heinemann-Grüder

/ 17 Minuten zu lesen

Das Verhältnis zu Russland spaltet die politischen Parteien, die Öffentlichkeit und die Sozialwissenschaften, insbesondere seit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. Im Ukrainekonflikt kulminierten unter anderem tiefer liegende Probleme der deutschen und europäischen Ostpolitik, die sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten. So hat es nach Auflösung der Sowjetunion 1991 nie einen Konsens über die Zielvorstellung der Russlandpolitik gegeben: Sollte Russland als Teil Europas, als Partner oder als Gegner betrachtet werden? Niemand hierzulande konnte sich Russland als EU- oder NATO-Mitglied vorstellen, und solange es schwach war, galt es als quantité négligeable. Umgekehrt machte es auch die russische Politik den Deutschen und Europäern schwer, eine klare Haltung zu entwickeln, denn was die politische Elite Russlands jenseits ihrer Überlegenheits- und Unterlegenheitskomplexe bewegte, war kaum auszumachen. Wollte Russland ein Teil Europas sein oder als euro-asiatische Macht ein Gegengewicht bilden?

Das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin steht unter internem und externem Erfolgszwang; Außenpolitik ist für ihn somit auch eine Fortsetzung der Innenpolitik. Teile der russischen politischen Elite befinden sich mental offenbar in einem Kriegszustand mit dem Westen und sehen Politik als eine Form der Kriegführung. Die gegenwärtige Politik Russlands kombiniert zaristische, bolschewistische und euro-asiatische Traditionslinien. Eine Wertegemeinschaft mit der EU ist damit nicht mehr gegeben. Welche Kosten-Nutzen-Kalküle das Verhalten des Machtzirkels um Putin bestimmen, können externe Beobachter allerdings nur erahnen. Der Kreis der Entscheidungsbeteiligten ist heute kleiner als zu Sowjetzeiten, die Intransparenz aber ist vergleichbar.

Die Einschätzungen, ob Russland mit seiner militärischen, geheimdienstlichen und medialen Einflussnahme in den zurückliegenden Jahren an "Gestaltungsmacht" gewonnen hat, gehen auseinander. Russland hat an Sichtbarkeit, an Veto- und Chaosmacht im postsowjetischen Raum, im Nahen Osten und auf dem westlichen Balkan gewonnen, aber strategisch könnte das Regime Putins eher Verlierer sein, denn die Aussichten für die von ihm favorisierte Euro-Asiatische Union haben sich infolge des Ukrainekonfliktes vermindert, das russische Kapital flieht, und selbst autoritäre Nachbarn wie Kasachstan und Belarus sind misstrauisch geworden. Zudem ist Russland außenpolitisch von den gegensätzlichen Interessen seiner "Partner" Iran, Syrien, Hizbollah und Ägypten abhängig.

Unterschiedliche Antworten

Aus der Wahrnehmung des putinschen Regimes werden in Deutschland (und darüber hinaus) unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen – es gibt sowohl Plädoyers für Entspannung als auch für Eindämmung und Abschreckung sowie schließlich auch solche, sich für einen Regimewandel einzusetzen. Angesichts der Sorge vor einer militärischen Konfrontation sind die westlichen Reaktionen auf die russische Politik von einer Mischung aus diplomatischer Deeskalation und militärischer Versicherung der neuen NATO-Mitglieder in Mittel- und Südosteuropa geprägt.

Eine Sichtweise, der zufolge Putin nur aufgrund von gekränktem Narzissmus handelt, hofft auf eine Wiederannäherung. Spannungen zwischen Deutschland und Russland wären demnach allein ein Kommunikationsproblem. Doch die Psychologisierung des russischen Verhaltens bietet kaum Anlass zur Beruhigung: Letztlich bedeutet sie, dass es im politischen System Russlands an verlässlichen Regeln fehlt und es die Bereitschaft gibt, eine Politik militärischer Eskalation zu verfolgen. Welche Art von Außen- und Sicherheitspolitik ist also mit und gegenüber einer Großmacht wie Russland möglich, die seit gut zehn Jahren einen antiwestlichen Kurs verfolgt? Aufgrund unterschiedlicher Weltanschauungen, Paradigmen und konträrer Lektionen aus dem Kalten Krieg sind die Ansichten hierzu gespalten. Russland ist daran nicht unbeteiligt, denn es wirkt über soziale Medien, globale Fernsehkanäle wie RT (ehemals "Russia Today") und die Unterstützung antiliberaler, antieuropäischer und rechtspopulistischer Parteien auf die Meinungsbildung in westlichen Staaten ein.

Für einige mittelosteuropäische Staaten und konservative Militärs in der NATO verkörpert Putins Russland eine Fortsetzung des zaristischen und sowjetischen Imperialismus. Konträr dazu werden am rechten und linken Rand des politischen Spektrums russische Feindbilder von der Ukraine, der NATO oder der EU im Sinne einer pauschalen Schuldzuweisung an "den Westen" übernommen. Die NATO-Erweiterung, der Kosovokrieg, der Irakkrieg, die Libyenintervention, die westliche Syrienpolitik und ein militärischer und wirtschaftlicher "Drang nach Osten" dienen dann der Entlastung von Russland, das vermeintlich nur auf westlichen Expansionismus reagiere.

Von Willy Brandt und Helmut Schmidt über Helmut Kohl bis zu Gerhard Schröder traten deutsche Kanzler als verlässliche Fürsprecher russischer Befindlichkeiten auf. Aufgrund der doppelten Vergangenheit des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und der Ermöglichung deutscher Einheit empfanden deutsche Politiker lange Zeit eine Bringschuld. Mit Ausnahme der Grünen (contra) und der Linken (pro) sind die Parteien heute intern uneins, ob deutsche Russlandpolitik die ältere Entspannungspolitik fortsetzen oder auf Abwehr setzen soll. Vertreter eines "Wandels durch Annäherung" werben um Verständnis, sie beschwören die Gefahr eines großen Krieges und wähnen das Haupthindernis in der Dämonisierung Putins. Deutsche Russlandpolitik sah sich zudem lang in der Rolle eines Entwicklungshelfers: Russland sollte durch deutsches Wirken moderner, effizienter und rechtstaatlicher werden.

Manche Interessen und Botschaften Russlands sind in der jüngeren Vergangenheit in der Tat missachtet beziehungsweise fehlgedeutet worden; insbesondere die Kränkung der politischen Eliten über den Statusverlust nach der Auflösung der Sowjetunion und die Wahrnehmung der NATO-Erweiterung seit den 1990er Jahren wurden im Westen unterschätzt. Doch die Vorstellung, es habe gar keinen Dialog mit Russland gegeben, ist eine Legende. Russland hatte ausreichend Gelegenheit, seine Positionen vorzutragen: im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), im UN-Sicherheitsrat, im NATO-Russland-Rat, auf der Münchner Sicherheitskonferenz, beim Treffen der G8-Regierungschefs, in G20-Runden, in den Verhandlungen mit der EU – bis vor zehn Jahren sprachen beide Seiten noch von einer strategischen Partnerschaft – und bilateral bei den Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen oder im Petersburger Dialog. Die Vertreter Russlands taten dies zunehmend in bewusster Abgrenzung. Russland versteht eine "Politik auf Augenhöhe" als Anerkennung eines Status, der allen anderen 28 EU-Staaten und den USA zusammengenommen entspräche.

Zwischen den heterogenen Kräften in Deutschland und Europa, die ihre je eigene Agenda auf Putin projizieren, hat sich eine eigentümliche Allianz herausgebildet, die das klassische Links-rechts-Schema unterläuft. Ihre Gemeinsamkeiten liegen im Antiamerikanismus, in der Geringschätzung für die Mittelosteuropäer, in der Anerkennung Russlands als "Gestaltungsmacht" und im Appeasement gegenüber Putins Eskalationsdominanz. Antiimperialisten und Antiamerikaner finden in Putin einen potenten Bündnispartner in der Gegnerschaft zur NATO. In der Partei Die Linke sammeln sich Kräfte, die in Putin einen Verbündeten im Kampf gegen den "Ukro-Faschismus" und die Dominanz der EU sehen. Rechtspopulisten erkennen wiederum ihre Gemeinsamkeit mit Putin in der Ablehnung einer offenen Gesellschaft, im Schutz von Volk und Staat und konservativen Familienwerten, in der Ablehnung von Homosexualität sowie von Geschlechtergerechtigkeit. Das russische Regime wiederum bemüht sich, seine rechtsextremen Freunde in einer Internationale zu vereinen.

Neben den Parteien wirken auch nichtstaatliche Akteure auf die deutsch-russischen Beziehungen ein. Zwischen den Wirtschaftseliten beider Länder hat sich eine gewisse Interessenkonvergenz herausgebildet. Es gibt in Russland gegenwärtig rund 5200 Unternehmen mit einer deutschen Kapitalbeteiligung, die von niedrigen Löhnen und Vergünstigungen wie etwa Steuererleichterungen profitieren. In Rankings zu Investitionsbedingungen liegt Russland wegen seiner Bürokratie und der notorischen Korruption zwar auf hinteren Rängen, und deutsche Unternehmen beklagen den russischen Fachkräftemangel, erwarten Reformen beim Zoll, bei Genehmigungs- und Zertifizierungsverfahren, bei der Bekämpfung des Protektionismus und der Visavergabe – aber dennoch wird das Geschäftsklima überwiegend positiv beurteilt. Entsprechend setzt sich der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft für die Aufhebung der Russland-Sanktionen ein: diese hätten nichts gebracht und nur Kosten verursacht. Vor dem Deutsch-Russischen Forum im Mai 2016 machte sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier das Votum für eine Lockerung der Sanktionen zu eigen. Tatsächlich ist das bilaterale Handelsvolumen seit 2012 von 80 Milliarden auf 47 Milliarden Euro zwischen Januar und November 2016 gesunken. Für den Rückgang der Exporte nach Russland sind jedoch insbesondere die niedrigen Gas- und Ölpreise entscheidend, nicht die Sanktionen.

Eine Vielzahl von Organisationen ist im Schüler- und Jugendaustausch, im Wissenschaftsaustausch und in Städtepartnerschaften aktiv. Auch deutsche Wissenschaftsorganisationen engagieren sich tatkräftig. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ermöglicht fast 1900 Deutschen pro Jahr einen Aufenthalt in Russland, über doppelt so viele russische Akademiker kommen nach Deutschland – es ist das Topstudienzielland für Russen. Wenn Russland stärker in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung investieren würde, wären die Beziehungen freilich weniger asymmetrisch.

Entspannung, Eindämmung oder Regimewandel?

Je nach zugrunde liegendem Paradigma lassen sich drei prinzipielle Optionen für eine Politik gegenüber Russland unterscheiden. Vereinfacht gesprochen, stehen sich eine entspannungspolitische, eine realistische und eine regimetheoretische Lesart gegenüber. Die entspannungspolitische Sicht setzt auf Wandel durch Annäherung, die realistische baut auf Eindämmung und Abschreckung, die regimetheoretische Perspektive meint, dass sich die russische Außenpolitik nur infolge eines inneren Regimewandels ändern wird.

Wandel durch Annäherung

Für einen Dialog mit Russland lassen sich gewichtige Argumente vorbringen, dazu gehört die Einhegung von militärischen Eskalationsrisiken an der Nahtstelle zur NATO sowie im Ukraine- und im Syrienkonflikt, die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, das humanitäre Konfliktmanagement und die Zusammenarbeit in der Bekämpfung von Terror und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln. Ein Grund für Entspannung ist die Befürchtung, dass Kritik russische Feindbilder verstärkt, dass die russische Bevölkerung sich weiter von Europa entfremdet und den russischen Hardlinern unnötig Argumente geliefert werden. So setzte Frank-Walter Steinmeier während seiner ersten Amtszeit als Außenminister von 2005 bis 2009 auf eine "Modernisierungspartnerschaft", um die wirtschaftliche, soziale und politische Leistungsfähigkeit Russlands zu stärken. Freilich setzten sich in Russland die Hardliner anstelle der "Modernisierungspartner" um den seinerzeitigen Präsidenten Dmitri Medwedew durch, weil die Partnerschaft mit der EU als bedrohlich für das eigene Regimeüberleben angesehen wurde.

Eine pragmatische Version der Entspannungspolitik plädiert für eine gesamteuropäische Ordnung, die die russische Innenpolitik außen vor lässt, sich auf den Aufbau leistungsfähiger Staatlichkeit konzentriert (anstelle von Demokratie, Menschenrechten und freien Medien), Wirtschaftsbeziehungen pflegt, die transformativen Ambitionen der EU reduziert und die OSZE revitalisiert. Die Vorstellung, Russlands Regime könne vor Kritik an Demokratiedefiziten, Menschenrechtsverletzungen und äußerer Aggression geschützt werden, um die Beziehungen zu entspannen, mutet jedoch unwirklich an. Kommunikative Räume und normative Diskurse lassen sich heute nicht mehr durch einen "eisernen Vorhang" begrenzen.

Der Appell zur Mäßigung erscheint insofern wirklichkeitsfremd, weil sich demokratische und autoritäre Weltsichten gegenüberstehen und hinter der russischen Abwehr von Demokratie gewichtige politische Interessen stehen. Das Plädoyer für eine Rückkehr zur Entspannungspolitik verkennt, dass die europäische Staatenwelt seit 1989 auf der Freiheit der Wahl beruht und sich die nicht-russischen Völker Osteuropas für Selbstbestimmung entschieden haben. Die Vertreter der Entspannungspolitik bleiben der Logik des Kalten Krieges verhaftet, wenn sie von unverrückbaren Einflusssphären ausgehen.

Zweifellos sind Foren für das Aushandeln wirtschaftlicher Interessen vonnöten, doch hat die wirtschaftliche – vor allem die energiewirtschaftliche – Verflechtung mit Russland weder einen sicherheits- oder friedenspolitischen Effekt gezeitigt, noch hat sie zum Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung beigetragen. Die engen Handelsverbindungen haben die russische Regierung nicht davon abgehalten, eine aggressive Außenpolitik zu verfolgen. Wenn es die Notwendigkeit für Entspannungspolitik gibt, dann wohl am dringlichsten in der Sicherheitspolitik, das heißt bei der Rüstungskontrolle, für vertrauensbildende Maßnahmen und für Kooperation in Regionalkonflikten sowie im Kampf gegen Terroristen.

Eindämmung und Abschreckung

Eindämmung zielt darauf, einem weiteren Ausgreifen Russlands Einhalt zu gebieten. Für den Fall einer erneuten Eskalation der Gewalt in der Ostukraine könnte zum Beispiel das bestehende Sanktionsregime um Export-, Import- und Finanzsanktionen und um Waffenlieferungen erweitert werden. Eindämmung würde Putins Kalkül unterminieren: Der Westen würde keine Schwäche zeigen, die "Sanktionsfront" bliebe geschlossen, und zwischen den USA und der EU käme es nicht zu einer Spaltung. Teil dieser Politik wäre es, den Status quo zu akzeptieren, das heißt die Annexion der Krim und die Existenz der selbstproklamierten "Unabhängigen Volksrepubliken" im Donbass. Das bedeutete jedoch nicht, diese auch juristisch anzuerkennen. Der Eindämmung entspräche es, die Abhängigkeit der EU von Gaslieferungen aus Russland durch Diversifizierung der Importe oder durch Substitution zu überwinden – sich also um Öl und Gas aus anderen Ländern oder andere Energieträger zu bemühen. Schließlich würde Eindämmung heißen, künftigen EU-Assoziierungskandidaten politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe für den Fall russischer Intervention zu gewähren.

Das realistische Paradigma geht davon aus, dass Putins Machtpolitik nicht mit Normen begegnet werden kann. Realisten argumentieren daher entweder zynisch und fatalistisch – Putins Machtpolitik sei Ausdruck der ewiggleichen internationalen Beziehungen – oder sie rufen zu robuster Gegenwehr auf. Diejenigen, die Letzteres tun, plädieren dafür, sich auf die Regeln der "alten Ordnung" einzustellen: Demnach agiere Russlands Regierung aggressiv und imperial nach außen und autoritär nach innen. Folglich sei es an der Zeit, sich auch militärisch auf noch schlimmere Gewalt einzustellen.

Abschreckung würde über Eindämmung noch hinausgehen und rote Linien signalisieren. Eine solche Politik könnte etwa darin bestehen, eine robuste internationale Friedensmission für die Ostukraine zu beschließen, die ukrainisch-russische Grenze international zu sichern, Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrraketen und Überwachungsdrohnen an die Ukraine zu liefern, das dortige Militär entsprechend auszubilden und Militärberater zu entsenden. Auch die Aufnahme von Verhandlungen über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, ein entsprechender "Membership Action Plan" oder die Verlegung von NATO-Truppen nach Osteuropa wären in der Abschreckungslogik denkbar. Allerdings ginge all dies mit dem Risiko einer sich immer schneller drehenden Aktions-Reaktions-Spirale einher. Negative Folgen wären nicht nur für die deutsche Exportwirtschaft zu erwarten. Eindämmung und Abschreckung wären für die EU-Staaten zudem kostenintensiv. Gleichwohl gilt es abzuwägen, ob das Fehlen von Eindämmung und Abschreckung nicht selbst zur Eskalation beiträgt.

Abschreckung jenseits des NATO-Bündnisses wird von der deutschen Politik aus Sorge vor einer Eskalation und Stellvertreterkriegen überwiegend abgelehnt. Doch jeder Staat hat das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 UN-Charta), insbesondere wenn die internationale Gemeinschaft einen Staat nicht vor Aggression schützt. Die EU- und die NATO-Staaten verlassen sich auf wechselseitigen Schutz; von daher kann Staaten wie Georgien, Moldau oder der Ukraine mit völkerrechtlichen Argumenten nicht das Recht abgesprochen werden, sich ebenfalls um ausreichenden Schutz vor russischer Militärintervention zu bemühen.

Regimewandel

Am weitreichendsten wäre eine Politik, die auf einen russischen Regimewandel setzt, das heißt auf eine Regimeliberalisierung unter oder nach Putin. Externe Demokratieförderung ist begrenzt auf Austauschprogramme, Städtepartnerschaften, die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, die sich an demokratischen Werten orientieren, den Ausbau medialer Kommunikation mit der russischen Gesellschaft sowie Visaerleichterungen. Doch demokratischer Wandel muss von innen wachsen, Mehrheiten finden und durch Parteien und Eliten gestützt werden – weder Deutschland noch die EU ist in der Lage, Russlands Regime zu transformieren. Denn ein autoritäres Regime wie das putinsche benötigt das westliche Feindbild, äußere Spannung und periodische Krisen – einschließlich Ablenkungskriegen –, um seine Macht im Innern zu sichern. Eine grundlegende Öffnung würde erst wahrscheinlich, wenn anstelle der negativen Integration durch Nationalismus die russische Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Defizite des Regimes richtete.

Ein positiver Langzeiteffekt des gorbatschowschen "Neuen Denkens" lag in der Aufweichung des Bildes vom feindlichen Westen unter den osteuropäischen Völkern. Und hierin bestünde ein Grund, auf eine zweite Perestroika hinzuwirken, um nämlich mit soft power gegenüber der russischen Bevölkerung die Vorzüge freier Gesellschaften erfahrbar zu machen. Das Angebot einer künftigen EU-Assoziierung etwa würde einer Einladung gleichen, mithilfe der EU-Normen zur Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses zurückzufinden.

Wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und der Eurasischen Union könnte längerfristig "Wandel durch Handel" befördern. Im November 2010 hatte selbst Putin noch für eine gesamteuropäische Freihandelszone "von Lissabon bis Wladiwostok" plädiert. Freilich ignorierte die russische Delegation dann beim Wirtschaftsforum in Davos im Januar 2015 die Idee von Bundeskanzlerin Angela Merkel, diesen Vorschlag wieder aufzugreifen, knüpfte sie ihn doch an die Einhaltung des Minsker Abkommens und eine Friedenslösung für den Krieg in der Ukraine.

Ein ungewisser Regimewandel in den autoritären Nachfolgestaaten der Sowjetunion muss nüchtern gegen transformative Kapazitäten abgewogen werden, denn niemand kann garantieren, dass nach Putin eine liberale oder gar demokratische Regierung an die Macht kommt. Das System Putin befindet sich in einer kumulativen Radikalisierungsdynamik. Das Argument, Putin wäre gegenüber noch radikaleren Nationalisten das kleinere Übel und müsse gegen Destabilisierung geschützt werden, gemahnt an die Präferenz für autoritäre Stabilisierung, die in der Vergangenheit gegen die Solidarność in Polen oder gegen den Arabischen Frühling vorgebracht wurde. Wenn die entscheidende Triebkraft für das russische Außenverhalten in dessen Innenpolitik liegt, dann kann kooperative Außen- und Sicherheitspolitik längerfristig nur nach einem Regimewandel erwartet werden.

Der Schlüssel zum Regimewandel in Russland liegt nun darin, dass die Transformation in der Ukraine gelingt und auf Russland positiv zurückstrahlt. Kern der deutschen und europäischen Russlandpolitik sollte daher vor allem sein, der ukrainischen Wirtschaft und Politik bei der Überwindung von Korruption und Oligarchenmacht beizustehen. Gelingt die Transformation der Ukraine nicht, wird Putins Russland aus der ukrainischen Staatsschwäche weiter politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewinn ziehen. Entscheidet sich die EU gegen eine Parteinahme im Ukrainekonflikt, dann wird die EU-Nachbarschaftspolitik dauerhaft Schaden nehmen, die "Partnerschaft für den Frieden" der NATO Geschichte sein und die Hoffnung auf transformative Hilfe im postsowjetische Raum sterben.

Was lehren die Konflikte?

Das Verhalten aller Beteiligten im Ukrainekonflikt und im Syrienkrieg folgt der fatalen Logik eines Nullsummenspiels. Offensichtlich bedarf es mehr Frühwarnung, verlässlicher Information und Expertise, zudem ist wechselseitig mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit über militärisches Verhalten vonnöten. Eine direkte Koordination von Erwartungen misslingt bisher, weil der Bestand geteilter Wertvorstellungen zwischen Russland und dem Westen bereits seit Jahren auf ein Minimum geschrumpft ist. Das ist auch der Grund, weshalb keine stabilen Institutionen zur Konfliktregelung entstanden und die existierenden wie die OSZE, der NATO-Russland-Rat und der UN-Sicherheitsrat blockiert sind. Doch Nullsummenspiele sind nicht unvermeidlich.

Da Kriege sich nicht durch ferne Aussichten auf den "demokratischen", den "gerechten" oder den "positiven" Frieden verhindern lassen, müssen zwei grundsätzliche Fragen beantwortet werden. Erstens: Wie lassen sich Erwartungen wechselseitig so vermitteln, dass auf der jeweils anderen Seite ein möglichst realistisches Bild von den Präferenzen und beabsichtigten Handlungen entsteht? Und zweitens: Wie kann Kommunikation über die jeweiligen Absichten durch Handlungen ergänzt werden, die das Kalkül der Gegenseite so beeinflussen, dass die eigenen Interessen berücksichtigt werden und Zusagen und Verpflichtungen vollstreckbar werden?

Die Identifikation von Absichten – was will ich, was will der andere? – setzt eine Definition eigener Interessen voraus: Was wollen die EU, die NATO und die USA mit welchem Grad an Selbstverpflichtung gegenüber Russland und anderen postsowjetischen Staaten erreichen? Das Identifikationsproblem besteht nicht nur im Arkanum der russischen Entscheidungsprozesse und der Unsicherheit, ob dort ideologische, machtpolitische oder situative Motive dominieren, sondern in der diffusen Finalität der EU-Nachbarschaftspolitik. Eine Lehre besteht also darin, sich dem Identifikationsproblem zu stellen, das heißt, eigene Absichten gegenüber Russland und Assoziationskandidaten wie der Ukraine deutlich auszusprechen und zugleich das Bild von Russlands Absichten nicht durch Wunschdenken à la "Modernisierungspartnerschaft" zu trüben. Gleichwohl sollte Russland nicht als homogener Akteur wahrgenommen werden: Die russischen Wirtschaftseliten sind nicht grundsätzlich antiwestlich, neben den dominanten Nationalisten gibt es auch Liberale, und die temporär hohen Zustimmungsraten für Putin sollten nicht mit bedingungsloser Regimetreue verwechselt werden.

Für die Frage nach den eigenen Handlungen, die nötig wären, um strategische Kalküle der Außen- und Sicherheitspolitik Russlands zu ändern, können nur Überlegungen skizziert werden. Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates stehen außerhalb der Vollstreckbarkeit des Völkerrechts, weil sie selbst die obersten Richter sind. Eskalationsverhalten lässt sich nur durch die Verflechtung von Verwundbarkeit ändern. Die Bestandteile der atomaren Abschreckung wie massive Vergeltung, die wechselseitig gesicherte Zerstörungsfähigkeit und ein möglichst perfektes Gleichgewicht des Schreckens haben in der Zeit des Kalten Krieges die strategischen Kalküle der USA und der Sowjetunion eingehegt. Da Abschreckung im bilateralen Verhältnis nach wie vor leidlich funktioniert, im Verhältnis zu anderen Parteien sich jedoch weder Russland noch die USA abschrecken lassen, sind konventionelle Kriege seit 1989/90 tendenziell leichter zu führen, allzumal in Gestalt von "hybriden" Kriegen, und die Gefahren einer militärischen Ost-West-Konfrontation nehmen zu.

Eine Alternative zur militärischen Abschreckung heißt "Sanktionen". Aber diese werden erst nachträglich verhängt, nicht präventiv – von daher ist ihr Effekt auf künftige Regelbeachtung ungewiss, und sie lassen sich nicht ewig aufrechterhalten. Wie könnten also Regeln zwischen und gegenüber Akteuren durchgesetzt werden, die sich keiner unabhängigen dritten Partei unterwerfen?

In der Ökonomie wird der wechselseitige Tausch von Pfandstücken – meist hochwertige Güter, die an den Betrogenen eines Deals fallen – als Mittel zur Durchsetzung von Verträgen angesehen. Ein hinterlegtes Faustpfand erhöht den Anreiz, die eigenen Handlungsabsichten offenzulegen. Allerdings funktioniert das Pfand nur, wenn jener, der es hinterlegt, weiß, dass es eingezogen oder zerstört werden kann. Das wechselseitige Stellen von Sicherheiten beruht auf bewusster, institutionalisierter Verletzbarkeit. Was könnten solche Pfandstücke in den sicherheitspolitischen Beziehungen mit Russland sein?

Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates könnten Vertrauen stärken, indem sie Absichtserklärungen hinterlegen, sich im Falle einer Völkerrechtsverletzung einer unabhängigen Untersuchung durch den UN-Sicherheitsrat und den Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen. Rivalen würden sich gleichermaßen dem Risiko eines ungewissen juristischen Prozesses aussetzen. Das wechselseitige Vertrauen würde durch die Akzeptanz von vorab definierten Sanktionen für den Fall von Regelverletzung gestärkt. Hätte Russland etwa im Vorfeld gewusst, welchen Schaden es durch sein Verhalten im Ukrainekonflikt auf sich zieht, hätte es möglicherweise weniger autistisch kalkuliert. Im Handel, im Kultur- und Wissenschaftsaustausch gibt es viele Güter zwischen Deutschland und Russland, die sich als Faustpfand eignen. Würden sie als solches behandelt, dann gäbe es nicht die Möglichkeit, "den Betrieb ganz normal weiterlaufen zu lassen", wie es in weiten Bereichen der deutsch-russischen Beziehungen nach der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine geschah.

Durch die Akzeptanz von Beobachtermissionen und Untersuchungskommissionen und das Zugänglichmachen von kritischen Informationen, zum Beispiel zur Verschiebung von Truppen und militärischem Gerät, setzen sich rivalisierende Konfliktparteien dem Risiko aus, der Lüge, des Missbrauchs oder des Betrugs überführt zu werden. Vertrauen kann nur wieder entstehen, wenn es nicht mehr der Beliebigkeit unterliegt, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche erkannt und wirksam geächtet oder ob sie als "fake news" abgetan werden wie zum Beispiel aktuell in Syrien. An die Stelle der atomaren Abschreckung würde eine gegenseitige Verpflichtung für den Fall von Regelverletzung treten (mutually assured vulnerability). Ob dies zustande kommt, hängt von wechselseitiger Bereitschaft ab – sie wäre zugleich ein Test für die westlichen Staaten, sich nicht nur als Advokaten des Völkerrechts zu präsentieren, sondern sich auch dessen Urteilen zu unterwerfen.

Die Hoffnung, alt-neue Männerfreundschaften oder die Exportinteressen der deutschen Industrie könnten das zerrüttete Verhältnis wieder richten, ist illusionär. Eine Rückkehr zur Politik des modus vivendi mit Russland setzt die Anerkennung von Grundnormen der Charta von Paris voraus, mit der die Länder der OSZE (damals noch KSZE) 1990 den Ost-West-Konflikt offiziell beilegten und eine auf Menschenrechten beruhende europäische Friedensordnung schufen. Das Verhältnis zu Russland kann nur auf Grundlage des Völkerrechtes erneuert werden. In dieser Hinsicht sollten sich Deutschland und die Europäische Union nicht scheuen, auf Augenhöhe zu sprechen.

ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Senior Researcher am Bonn International Center for Conversion (BICC). Zu seinen Schwerpunkten zählen die Friedens- und Konfliktforschung sowie der postsowjetische Raum. E-Mail Link: heinemann-grueder@bicc.de