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Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches "Verfassungsgericht"? | Europäische Union | bpb.de

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Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches "Verfassungsgericht"?

Tanja Hitzel-Cassagnes

/ 23 Minuten zu lesen

Die europäische Rechtsordnung hat sich weitgehend von ihrer "völkerrechtlichen" Grundlage gelöst. Sie versucht, die Rechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten und weite Bereiche der nationalen Rechtsordnungen umzugestalten.

I. Einleitung

Das Recht als Wirkungsinstrument von Hoheitsträgern spielt bei der Entwicklung der europäischen Politik eine Schlüsselrolle. Das Stichwort "Europa als Rechtsgemeinschaft" identifiziert das Recht als das primäre Form- und Gestaltungsprinzip der EU. Die europäischen Institutionen - und insbesondere der Europäische Gerichtshof (EuGH) - binden die politischen Akteure und Einheiten (einschließlich der Mitgliedstaaten) in ein kaum zu durchbrechendes Netz rechtlicher Verfasstheit ein. Das Gemeinschaftsrecht hat - als eigenständige Rechtsordnung - die Kraft, die Rechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten und weite Bereiche der nationalen Rechtsordnungen umzugestalten. Der Kompetenzbereich und die Stellung der politischen Einheiten und nationalstaatlichen Institutionen werden tiefgreifend verändert, das Recht der Mitgliedstaaten ist zu einem großen Teil "importiert", und die Rechtssetzung auf nationaler Ebene wird inhaltlich maßgeblich durch europäisches Recht vorgeprägt und gestaltet. Ohne den Europäischen Gerichtshof, dessen Rechtsprechung eine verbindliche Rechtsquelle im europäischen Rechtssystem darstellt, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Denn der Gerichtshof hat "das Gemeinschaftsrecht von der völkerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung auf eine Verfassung im Sinne einer weite Gebiete des öffentlichen Zusammenlebens steuernden vorrangigen Grundstruktur hin entwickelt" .

Der EuGH wird vielfach als "Universalgerichtsbarkeit" , als "polyvalente Gerichtsbarkeit" , als "umfassende Rechtsschutzinstanz" und als "Verfassungsgerichtsbarkeit" qualifiziert. Die Gründe für diese Einschätzungen, die das Gericht mehr oder minder als (Quasi-) Verfassungsgerichtsbarkeit beschreiben, sind mannigfaltig und liegen auf verschiedenen Ebenen; sie beziehen sich auf die normierten Zuständigkeiten, die Qualität der Vertragsgrundlage, die Organqualität, die richterliche Praxis und die Spezifika des Gerichts als (rechtlicher und/oder politischer) Akteur im Institutionengefüge.

Im Folgenden sollen die Gründe für diese Qualifizierung systematisch erörtert und gleichzeitig ein Einblick in die Akteursqualität und Rechtsprechungspraxis des Gerichts und die Rolle des Rechts gegeben werden. Zu diesem Zweck werden zuerst die vertraglich normierten Zuständigkeiten und Funktionen des Gerichts sowie einige Spezifika der europäischen Verträge und schließlich das "richterliche Selbstverständnis" und die (durch die Selbstbeschreibung maßgeblich determinierte) Spruchtätigkeit, die einen weit tieferen Einblick in Qualität und Wirkung des Akteurs und des europäischen Rechts erlauben, dargestellt.

II. Die vertraglich normierten Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes

Der EuGH ist seit 1958 institutionell und funktionell ein unabhängiges Gericht. Der Gerichtshof ist Teil des institutionellen Rahmens der Union, besitzt allerdings nur marginale Rechtsprechungskompetenz auf dem Gebiet des spezifischen Unionsrechts. Er ist eines der fünf Hauptorgane der Gemeinschaft, der "nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse" handelt . Sowohl die Organe der Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten sind seiner Rechtsprechung unterworfen. Die vertraglich geregelten Verfahrensarten übertragen dem Gerichtshof vielfältige und umfassende Rechtsprechungs- und Rechtsschutzbefugnisse . Die praktisch bedeutsamsten Kompetenznormen und Verfahren sollen im Folgenden dargestellt werden.

Im Vertragsverletzungsverfahren können die Kommission (als "Hüterin der Verträge") oder ein Mitgliedstaat (durch die nationalen Exekutivbehörden, Parlamente oder Gerichte) auf Feststellung eines Vertragsverstoßes durch einen anderen Mitgliedstaat klagen , indem "objektiv vertragswidriges Verhalten" geltend gemacht wird. Prüfungsmaßstab ist hierbei das primäre und das sekundäre Recht gleichermaßen. Im Rahmen der Nichtigkeitsklage (Aufhebungsklage) können Handlungen bzw. verbindliche Akte der Gemeinschaftsorgane (Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen) auf ihre Vereinbarkeit mit dem primären Gemeinschaftsrecht überprüft und gegebenenfalls für nichtig erklärt, d. h. aufgehoben werden . Die Nichtigkeitsprüfung umfasst die Zuständigkeit der Organe, Formvorschriften, Vertragsverletzung und Ermessensmissbrauch. Obwohl Empfehlungen und Stellungnahmen eigentlich ausgenommen sind, wendet der EuGH die Bestimmungen analog auch auf diese Handlungen an, insofern sie "Rechtswirkung gegenüber Dritten" entfalten. Klagebefugt sind die Mitgliedstaaten, der Rat und die Kommission sowie juristische und natürliche Personen, die "unmittelbar und individuell" betroffen sind, d. h., sie müssen ein besonderes Rechtsschutzinteresse darlegen. Die Untätigkeitsklage ist ein Unterfall der Vertragsverletzung durch die Gemeinschaftsorgane und ergänzt demnach die Nichtigkeitsklage. Die Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsorgane sowie juristische und natürliche Personen können eine "vertragswidrige" Untätigkeit des Rates, der Kommission oder des Europäischen Parlaments beanstanden. Hierbei kann der Gerichtshof wohl eine rechtswidrige Unterlassung feststellen, jedoch nicht den Erlass des "unterlassenen" Rechtsaktes erzwingen. Interessanterweise zog der Gerichtshof der Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen hier enge Grenzen (engere Grenzen zumal als in den Fällen, in denen die Individuen zugunsten der Gemeinschaft agieren). Ähnlich wie im Rahmen der Nichtigkeitsklage wurden an das Rechtsschutzinteresse (individuelle und unmittelbare Betroffenheit) strenge Anforderungen gestellt: wenn nämlich die Entscheidung den Kläger "wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung" .

Im "Vorabentscheidungsverfahren" legt ein nationales Gericht dem EuGH eine Frage der Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts vor. In der Regel versucht eine der Prozessparteien des innerstaatlichen Gerichtsverfahrens eine nationale Regelung oder Handlung der öffentlichen Gewalt unter Hinweis auf Europäisches Recht anzufechten. Für die letztinstanzlichen nationalen Gerichte besteht sogar eine Vorlagepflicht einer strittigen Frage, alle anderen Gericht sind hingegen vorlageberechtigt. Es gibt daher keinen Anspruch der Bürger auf Vorlage (als verfahrensrechtliches Grundrecht) und keine Beschwerdemöglichkeit gegen Vorabentscheidungsverfahren, die zu Unrecht eingeleitet wurden. Der EuGH beantwortet in der Regel eine abstrakte Rechtsfrage - in der Form ,gutachterlicher Äußerung' - in Bezug auf Europarecht (wohlgemerkt nicht innerstaatliches Recht) ohne Anwendung auf den Einzelfall und ohne den konkreten Rechtsstreit zu entscheiden. In der Praxis hat das Vorabentscheidungsverfahren eine hohe Bedeutung: "So sind fast alle Urteile, in denen die Rechtsnatur der Gemeinschaft herausgearbeitet und die Konzeption der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten des EWGV entwickelt worden sind, im Vorlageverfahren ergangen." Die De-facto-Funktion liegt vielfach in einer (indirekten) Überprüfung von nationalem Recht auf seine Vereinbarkeit mit Europarecht und kommt im Ergebnis einem Vertragsverletzungsverfahren gleich. Die herausragende Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens liegt eben darin begründet, dass hier praktisch jede Regelung und jedes Rechtsgebiet auf Vereinbarkeit mit europäischem Recht überprüft werden kann und im Sinne abstrakter und konkreter Normenkontrolle faktisch über "Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit" entschieden wird (obwohl keine Fall-Entscheidung ergeht).

Der Rechtsprechungsauftrag aus Art. 220 EGV begründet zwar keine Einzelzuständigkeit im Sinne einer bestimmten Verfahrensart, er gewinnt indessen als Generalklausel bzw. umfassende Rechtsschutzklausel besondere Bedeutung: "Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags." Der praktische Effekt ist eine Rechtsprechungsbefugnis über alle Rechtsfragen, die auch nur im Entferntesten die europäische Rechtsordnung tangieren, und die Möglichkeit, auf der Grundlage eines "Rechtsverweigerungsverbotes" ein umfassendes Rechtsschutzsystem zu etablieren. Zudem ist "Rechtswahrung" eine äußerst vage und schwer zu spezifizierende Funktionsbeschreibung - im Zweifelsfall kann "Rechtswahrung" auch die Entscheidung von Grundsatzfragen nach der allgemeinen Orientierung oder dem Werte- und Prinzipiensystem, das in der Gemeinschaft gelten soll, beinhalten. Obwohl im europäischen Rechtssystem keine Individualrechtsbeschwerdemöglichkeit institutionalisiert ist, zeigt die Spruchpraxis, dass der EuGH auch die Wahrung der Grundrechte durch die europäischen Institutionen sowie durch die Mitgliedstaaten prüft, falls sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden. Die Quelle individueller (Grund-)Rechte sind hierbei die allgemeinen (ungeschriebenen) Rechtsgrundsätze, die der Gerichtshof hauptsächlich durch ,wertende Rechtsvergleichung' aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ableitet und "integrationsadäquat" anwendet .

Die allgemeinen Rechtsgrundsätze spielen im Europarecht eine größere Rolle als im traditionellen Völkerrecht. Sie erfüllen in erster Linie drei Funktionen: als Interpretationshilfe zur Konkretisierung bestehender Normen, als Lückenfüller und als eigenständiger Prüfungsmaßstab für Rechtssetzungsakte der Gemeinschaftsinstitutionen (und zum Teil sogar der mitgliedstaatlichen Rechtssetzung). Obwohl die allgemeinen Rechtsgrundsätze primär aus den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen abgeleitet sind und auf Rechtsvergleichung basieren, liegt ihre eigentliche Quelle häufig im Dunkeln. Besondere Probleme und Fragen ergeben sich bei der Qualifizierung des "Gemeinsamen" der Grundsätze: Sind die Prämissen und Grundpositionen überhaupt kompatibel und ergeben sich Widersprüche und Divergenzen in Bezug auf Terminologie, Definition und Reichweite eines Rechts oder Rechtsinstituts? Ein weiteres Problem ist die Bindungs- und Invalidierungswirkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als eigenständiger Prüfungsmaßstab. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der internen Hierarchisierung, d. h., gibt es gegebenenfalls einfache versus fundamentale Rechtsgrundsätze, und falls ja, welche Folgen sind an diese Qualifizierung geknüpft? Im Wesentlichen haben die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" die Tendenz, sich von "den Mitgliedstaaten gemeinsamen" in genuin "(euro-)richterrechtliche Grundsätze" zu verwandeln .

Fazit: Im Vergleich zu innerstaatlichen Gerichtsbarkeiten nimmt der EuGH Kompetenzen als Verfassungsgericht, Verwaltungsgericht, Zivilgericht, Dienst- Disziplinargericht wahr. Die Rechtswege sind jedoch formal nicht eindeutig ausdifferenziert, insbesondere die (quasi-)verfassungs- und die verwaltungsrechtliche Kontrolle sind miteinander verschlungen und erstrecken sich über praktisch jedes Rechtsgebiet . In den o. g. Verfahren geht es in erster Linie um die Sicherung des Gemeinschaftsrechts, in zweiter Linie um den subjektiven Rechtsschutz. Der EuGH hat eine umfassende Kontrollbefugnis über die Handlungen der Gemeinschaftsorgane; er wacht über die "Verfassungsmäßigkeit" des sekundären Gemeinschaftsrechts und alle Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkung erzeugen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane umfasst sowohl die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung wie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung - das europäische Recht kennt sozusagen keinen "gerichtsfreien" politischen Streit, da alle Rechtsakte vor Gericht angegriffen werden können. Die "quasi"-verfassungsgerichtliche Funktion des EuGH zeigt sich insbesondere in der Rechtsprechung zum vertikalen und horizontalen Kompetenzgefüge des "Mehrebenensystems" (die in der Tat der traditionellen (nationalen) verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Gewaltenteilung sehr nahe kommt). Obwohl es für Organstreitigkeiten keinen gesonderten Weg gibt, überwacht der Gerichtshof nicht nur die vertikale Zuständigkeitsverteilung (bzw. Gewaltenteilung), sondern auch die horizontale Zuständigkeitsverteilung über die Nichtigkeits- und Unterlassungsklage, er überprüft insbesondere die Abgrenzung der Organkompetenzen und die Abstimmungsmodalitäten, die Funktion, Arbeitsweise und Zusammensetzung der Organe. In diesem Kontext wird das Gericht vielfach als "Hüter des institutionellen Gleichgewichts" bezeichnet. Insgesamt tritt der EuGH bei der Rechtswahrung der normierten Zuständigkeiten hauptsächlich als "Hüter der Gemeinschaft" in Erscheinung.

III. Spezifika der europäischen Verträge

Die Qualifizierung des Europäischen Gerichtshofes als "Verfassungsgericht" ergibt sich nicht nur aus den eigentlichen Kompetenznormen und Verfahrensarten, die seinen Rechtsprechungsauftrag umschreiben, sondern ebenso aus der Natur und Qualität der "Verträge". Die Fülle der Vertragsbestimmungen und die Komplexität der vertraglichen Grundlage, die zum Teil undurchsichtigen und diffusen Bestimmungen verweisen auf einen enormen Kompetenzbereich des Gerichts. Ähnlich wie in nationalen Verfassungen finden sich in den Europäischen Verträgen offene Normen und Zielbestimmungen, Generalklauseln, Lapidarformeln und Formelkompromisse mit den damit einhergehenden Widersprüchen und Inkommensurabilitäten. Dies befördert den EuGH an den Grenzbereich von Recht und Politik. Das Problem der Justiziabilität allgemeiner Prinzipien (z. B. Subsidiarität) und Zielvorgaben (z. B. aus der Präambel) und generell das Problem der Konkretisierung von Rechtsnormen, deren konkrete Ausgestaltung ,präzedenzlos' ist (man denke nur an Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, die die Art der Beziehung zwischen der EU als politischer Autorität und dem Einzelnen oder der "Europäischen Bürgerschaft" offen lässt), machen die Grenzziehung zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung höchst fragwürdig. Aber auch die breite Palette und Komplexität der europäischen Entscheidungsfindung, die Intransparenz des Rechtssetzungsprozesses und die uneindeutige Hierarchie der Rechtssetzungsinstrumente machen das Gericht zum zentralen Akteur im Institutionengefüge. Die gesamte Konstruktion des Rechtssystems der EU (das nicht synonym mit dem der EG ist) ist uneinheitlich und inkohärent. Der Anspruch eines "einheitlichen institutionellen Rahmens" ist darum höchst fraglich, supranationale und intergouvernementale Element stehen nebeneinander oder sind vermischt .

Im Vergleich zu nationalen Verfassungen tragen die Verträge stärker programmatische und dynamische Züge, als "eine auf Wandel angelegte Gemeinschaftsordnung" sind sie in hohem Maße prozess- und zielorientiert. Hieraus folgte wohl die bedeutsamste Kompetenzzuweisung, denn das Gericht wurde mit der Auslegung und damit Verwirklichung eines politischen Programms beauftragt. Diese Kompetenz nahm es dann auch in Anspruch, indem es die expansive Auslegung von Gemeinschaftskompetenzen zwingend aus der funktionalen Ausgestaltung der rechtlichen Grundlage ableitete und die "EG-Verfassung" als intentional und per se auf dynamische Fortentwicklung angelegt ansah .

IV. Das richterliche Selbstverständnis

Die Selbstreferenz des Gerichts z. B. als Hüter (oder sogar "Motor") der Integration, des institutionellen Gleichgewichts und des "acquis communautaire" eröffnet eine andere Perspektive als die einer einfachen Schiedsgerichtsbarkeit des internationalen Rechts. So hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung sowohl die negative als auch die positive Integration vorangetrieben. Indem er vielfach eine "föderalisierende" und "zentralisierende" Spruchpraxis verfolgte, hat er die Politiken der Mitgliedstaaten häufig transzendiert . Dem Selbstverständnis als Hüter und Motor der Integration entsprechend, orientierte das Gericht seine Spruchpraxis explizit an einer teleologischen Methode, die phänomenologisch vom Text und Willen der Vertragsparteien abzugrenzen ist: Unter der Notwendigkeit dynamischer Interpretation erscheinen die Verträge als (zu systematisierendes) Instrument, um bestimmte Ziele - in erster Linie der gemeinsame Markt und die Durchsetzung der vier Marktfreiheiten - zu erreichen und zu verwirklichen . Mit dieser (einseitigen) Zweckorientierung hat der EuGH also einen Abkoppelungsprozess vom Völkerrecht in Gang gesetzt, der die Integrität der mitgliedstaatlichen Verfassungssysteme dem "Telos" der Integration unterordnet. Ein instruktives Beispiel ist die dynamische - d. h. kompetenzerweiternde - Interpretation des Prinzips der "zugewiesenen Befugnisse" ("compétence d'attribuation") im Sinne der "begrenzten Einzelermächtigung" und des "Rechtsanwendungsbefehls" durch die Mitgliedstaaten. Dies geschah mit Hilfe der folgenden Doktrinen. "Implied Powers": Die Vorschriften der Gründungsverträge schließen implizit die - nicht ausdrücklich in ihnen enthaltenen - Rechtssätze und Vorschriften ein, ohne welche die Verträge nicht "sinnvoll" und "vernünftig" angewendet werden könnten, d. h., erlaubt ist sozusagen alles, was nicht explizit verboten ist; "Effet utile": Die Akte des Gemeinschaftsrechts sind so auszulegen, dass sie eine "nützliche" Wirkung entfalten, d. h., ihren Zweck erreichen und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gewährleisten; und "Pre-emption": Sobald ein Politikbereich von europäischem Recht erfasst wird, regeln die Gemeinschaftsinstitutionen ihn in ausschließlicher Zuständigkeit.

Der EuGH nahm vielfach Kompetenzen in Anspruch, die sich nicht unmittelbar aus den Verträgen ergaben und kaum antizipierbar waren. Die Selbstbeschreibung als Rechtsschutzinstanz, die sich dem Rechtsverweigerungsverbot verpflichtet fühlt, ließ das Gericht vermeintliche "Rechtslücken" zum Schutz individueller Rechte und im Interesse eines umfassenden Rechtsschutzsystems füllen .

Zum richterlichen Selbstverständnis gehört schließlich die Auffassung, dass das Gericht im Interesse eines kohärenten Rechtssystems die Autorität besäße, die Maßnahmen der Gemeinschaft (auch ohne vertragliche Kompetenznormen) zu überprüfen und zu annullieren . Als "neue, eigene Rechtsordnung" brauche die Gemeinschaft ein eigenständiges, systematisches und kohärentes Verfassungs- und Streitschlichtungssystem (wohlgemerkt mit gemeinschaftsspezifischen Auslegungsregeln), das die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gewährleistet. Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich dann sozusagen zwangsläufig ein "Recht auf umfassende richterliche Rechtsfortbildung". Die Praxis der Rechtsfortbildung verlief hierbei weitgehend kontinuierlich, insbesondere führten Vertragsänderungen keineswegs zu gravierenden Änderungen der Rechtsprechung, sondern höchstens zur Modifikation einzelner Rechtsprechungselemente - insgesamt hat das Gericht gleichwohl gerade in den Bereichen, in denen eine eindeutige positiv-rechtliche (Verfassungs-) Grundlage fehlte, am offensichtlichsten die Funktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit und eines Verfassungsgebers erfüllt.

V. Die "konstitutionalisierende" Rechtsprechungspraxis des Gerichts

Wesentliche Elemente der "europäischen Verfassung" sind ohne hinreichend deutliche Vertragsnormierung als Auslegungsergebnisse der Rechtsprechung ausgeformt und gestaltet worden; u. a. die Effektuierung des Integrationsziels durch die Abgrenzung der Gemeinschaftszuständigkeiten, die Beantwortung von Strukturfragen in der Kompetenzzuordnung der Gemeinschaftsorgane und die Ausgestaltung des Rechts(staats)prinzips mit der Eruierung allgemeiner Rechtsgrundsätze in Form von Grundrechten. Daraus folgt, dass sich das Gemeinschaftsrecht nicht mehr aus dem Wortlaut der Verträge, sondern aus den Leitentscheidungen des EuGH erschließt, ganz in dem Sinne: "The constitution is what the judges say it is." Mehr noch: Das supranationale Rechtssystem ist in erster Linie das Produkt einer (mehr oder minder "unübersichtlichen") Peu-à-peu-Konstruktion durch den EuGH, d. h. ein System a posteriori.

Die Konstitutionalisierung der Gründungsverträge der EG durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nahm schon in den sechziger Jahren ihren Anfang . In diesem Prozess scheint es, als wirke ein rechtlicher Imperativ. Denn häufig stellen sich Entwicklungslinien als "naturgegebene", notwendige und nicht rechtfertigungsbedürftige, kurz selbst-evidente Entwicklung dar : so z. B. die Doktrinen "Direkte Wirkung" mit dem europäischen Rechtssystem als eigenständiger Rechtsordnung, die Rechte und Pflichten zwischen den Mitgliedstaaten, den Individuen, der Gemeinschaft (und inter se) begründet und "Vorrang" von europäischem vor nationalstaatlichem Recht, "implied powers" und "Pre-emption"; die Einschreibung - bzw. "reverse incorporation" - von Grund- und Menschenrechten; die Expansion der Gemeinschaftskompetenzen; der (euro-)richterliche Aktivismus per se und die Kooperation der nationalen Gerichte.

Die meisten Fälle mit "konstitutionalisierender" Wirkung wurden über das Vorabentscheidungsverfahren entschieden, d. h. unter direkter Beteiligung individueller Kläger und nationaler Gerichte. So bezeichnet Stein den rechtlichen Integrationsprozess als einen dialektischen Prozess, der von einer ,symbiotischen' Beziehung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten gekennzeichnet ist. Die Mitgliedstaaten stehen vielfach "in the shadow of the law", insbesondere, wenn sich Bürger an ihre Gerichte wenden, um nationalstaatliches Recht anzufechten und Gemeinschaftsrecht durchzusetzen . Die Konstitutionalisierung lässt sich an verschiedenen Doktrinen oder Teilbereichen der Rechtsprechung exemplifizieren, unter denen folgende am bedeutsamsten sind: "Direkte Wirkung" und deren Reichweite, "Vorrang", der Rechtsschutz des Einzelnen, die Rolle nationaler Gerichte bei der Rechtsdurchsetzung und richterliche Präzedenzwirkung sowie Vorgaben für die Implementation europäischen Rechts.

Autonomie

Den Grundstein zur Konstitutionalisierung legte der EuGH 1962 mit dem Postulat der Eigenständigkeit und Autonomie der europäischen Rechtsordnung unter Betonung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, der Durchsetzungskraft des europäischen Rechts und der Abgrenzung zum Völkerrecht: "Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist." Das Gericht lieferte hiermit den Unterbau für die EG als neue öffentliche Gewalt mit einem selbständigen Rechtssystem und mit eigenen Rechtsquellen, -grundsätzen und -behelfen und gleichzeitig das Fundament für die Verknüpfung der europäischen und nationalstaatlichen Ebene - mit dem europäischen Rechtssystem als integralem Bestandteil der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme. Europäisches Recht als autonome, nicht nur von den Mitgliedstaaten abgeleitete Rechtsquelle sicherte der EG einen eigenständigen Handlungsspielraum, der unabhängig von nationalen Kriterien beurteilbar ist. Dies führte denn auch zu der Ansicht, der EuGH sei die eigentliche Instanz, die die Grenzen der Anwendung von Europarecht und die Grenzen zwischen den Rechtsordnungen zu ziehen habe.

Direkte Wirkung

Schon 1963 behandelte der EuGH die Frage nach der direkten Anwendung europarechtlicher Normen unter dem Gesichtspunkt, ob sich hieraus individualrechtliche Ansprüche des einzelnen Bürgers ableiten lassen, die die nationalen Gerichte und gegebenenfalls der EuGH zu schützen hätten . Dies wurde - erstmals unter Rückgriff auf die Formel "aus Geist, System und Wortlaut der Bestimmung" - bejaht. Der Grundstein zu einem grundlegenden Strukturprinzip der EG als Rechtsgemeinschaft war gelegt, die im Gegensatz zum Völkerrecht die Möglichkeit hat, unmittelbar auf den Bürger zuzugreifen, und Rechte bzw. Pflichten begründet. Der EuGH hat "den Gemeinschaftsbürger als Subjekt der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt und somit ein unmittelbares Verhältnis des Marktbürgers zur Gemeinschaft hergestellt" .

Im weiteren Verlauf der EuGH-Rechtsprechung erfuhr der Grundsatz der "Direkten Wirkung" eine vierfache Ausweitung: Erstens von einer negativen zu einer positiven Verpflichtung des EWG-Vertrages gegenüber den Mitgliedstaaten bzw. von einer Unterlassungs- zu einer Handlungspflicht. Zweitens von vertikaler zu horizontaler direkter Wirkung (von Vertragsbestimmungen) auch zwischen Privatpersonen, insofern es sich um grenzüberschreitenden Warenverkehr handelt . Drittens von direkter Wirkung des primären Vertragsrechts zur direkten Wirkung des sekundären Rechts, d. h. der Gemeinschaftsrechtssetzung . Die ursprüngliche Annahme, dass Richtlinien nur an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und vor ihrer Umsetzung in nationales Recht keine Rechtswirkung für den Einzelnen entfalten, relativierte der EuGH insofern, als gegebenenfalls (unmittelbar anwendbare und hinreichend klare und konkrete) Bestimmungen unmittelbare Wirkung entfalten, ohne dass die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum bei der Form- und Mittelwahl der Umsetzung genutzt hätten. Bemerkenswert ist, dass die direkte Wirkung unmittelbar geltender Richtlinienbestimmungen tendenziell von vertikaler auf horizontale Ebene ausgeweitet wurde (z. B. wenn der Staat im privatwirtschaftlichen Gewand auftritt) und dass sich der Einzelne nicht nur vor Gericht, sondern vor allen staatlichen Stellen auf die Anwendung von Richtlinien berufen kann . Viertens bezieht sich die unmittelbare Wirkung auch auf EG-Abkommen .

Vorrang

Die Begründung der "Direkten Wirkung" und deren Ausweitung bezog sich in erster Linie auf den "effet utile", den "Telos" der Gemeinschaft (d. h. die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes) und die Rechtsschutzpflicht gegenüber dem "Marktbürger". Auch um das Vorrangprinzip zu rechtfertigen, verwies der EuGH auf die Ziele, Kompetenzen und insbesondere auf die Funktionsfähigkeit und Effektivität der Gemeinschaft . Die herausragende Bedeutung des Vorrangprinzips - der "supremacy without supremacy-clause" - liegt einmal darin, dass es zur rechtlichen Föderalisierung beitrug, indem europäisches Recht zu höherrangigem Recht erklärt wurde und der EuGH gleichzeitig ein indirektes Prüfungsrecht gegenüber innerstaatlichem Recht in Anspruch nahm; ebenfalls konnte durch die zwei (komplementären) Grundsätze "Direkte Wirkung" und "Vorrang" der "Panzer des Nationalstaates" durchbrochen und die "Immediatisierung" des Marktbürgers zur Gemeinschaft hergestellt werden.

Grund- und Menschenrechte

Ursprünglich beanspruchte der EuGH "direkte Wirkung" und "Vorrang" uneingeschränkt und differenzierte nicht nach dem Status des innerstaatlichen Rechts, selbst dann nicht, wenn nationales Verfassungsrecht tangiert war. Den Anstoß zu einer Grund- und Menschenrechtsdiskussion gaben die Debatten zur "Verfassungsmäßigkeit" der EG (und insbesondere die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit der nationalen Verfassungsgefüge), worauf sich der EuGH veranlasst sah - entgegen seiner ursprünglichen Auffassung -, den Schutz von Grund- und Menschenrechten als Bestandteil allgemeiner Rechtsgrundsätze in das europäische Rechtssystem sowie in seine Rechtsprechungskompetenz zu integrieren. Die formale Verteidigung eines absoluten Vorrangs wurde durch den die EG-Institutionen verpflichtenden Charakter von Grundrechten differenziert bzw. ergänzt . Besonders bemerkenswert war die Absicht, die Akzeptanz und Befolgung des Vorrangprinzips zu gewährleisten , d. h., der EuGH schien primär daran interessiert zu sein, die Effektivität und Durchsetzung von europäischem Recht zu gewährleisten, und der Individual- und Grundrechtsschutz bot die Möglichkeit, die einzelnen Bürger als Kläger (gegen nationales Recht) zu diesem Zwecke zu instrumentalisieren. Denn nach Ansicht des Gerichts muss die Grundrechtsgewährleistung "zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muss sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen" . Den Ausgangspunkt für die Individualrechtsjudikatur bildet demnach der gemeinsame Markt, die Grund- und Menschenrechte sind zu dessen Verwirklichung notwendig und in der Folge kontingent, d. h. dem "Telos" untergeordnet. Gleichzeitig postulierte das Gericht, dass der "gemeineuropäische" Grundrechtsschutz und -standard dem nationalen Verfassungsrecht nicht untergeordnet sei und es selbst als "europäisches" Gericht die Gültigkeit europäischer Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten festzustellen habe. Die Hauptkritik an dieser Spruchpraxis richtet sich gegen eben den Umstand, dass die Grund- und Menschenrechte dem Zweck der Gemeinschaft untergeordnet sind und die Marktfreiheiten zu universalen (Grund-)Rechten erklärt werden. Das bedeutet: Die Grund- und Menschenrechte sind nicht mehr die höchsten in der Normenhierarchie, und die Gemeinschaftsorgane, zur Verwirklichung der Marktfreiheiten berufen, sind die eigentlichen Hüter "gemeineuropäischer" Grundrechte - Rechte verlieren ihre Qualität als "Trümpfe" in der Hand der Individuen gegen die Exekutive, sind jedenfalls kein übergeordnetes, nicht zur Disposition der politischen Organe stehendes verbindliches Recht mehr.

Das Gericht nimmt prinzipiell für sich in Anspruch, "europäische" Grundrechte definitorisch auszugestalten und deren Anwendung zu sichern. Dies geschieht in der Form der "allgemeinen Rechtsgrundsätze", die das kodifizierte Recht ergänzen, deren Quellen allerdings unklar sind. Der EuGH ist wohl bemüht, "gemeineuropäische Rechte" aus dem System existierender Rechte und Prozeduren der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme abzuleiten, dennoch sind die positiven Referenzpunkte eher nebulös. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten, die Verfassungstradition und -überlieferung sowie gemeineuropäische und internationale Menschenrechtsvereinbarungen als die wichtigsten Rechtsquellen (an die der EuGH formal jedoch nicht gebunden ist) sind in ihrer Gesamtheit und Einzelbetrachtung problematisch, insbesondere da unklar ist, was durch einen kreativen Eklektizismus zukünftig zum gemeineuropäischen Grundrecht erklärt und inhaltlich konkretisiert wird. Das Ganze ist um so heikler, als der Grundrechtsstandard der Gemeinschaft eine Rückwirkung auf die Konkretisierung des Gemeinschaftsrechts im staatlichen Bereich hat; in der Konsequenz unterliegen die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme nun faktischen Anpassungszwängen, die ihr System fundamentaler Rechte gegebenenfalls transformieren. Ein weiteres Resultat eines "gemeineuropäischen Grundrechtsstandards" ist die Fragmentierung der innerstaatlichen Rechtssysteme und somit eine Abnahme an Rechtssicherheit: Rein innerstaatliche Sachverhalte unterliegen potentiell anderen Grundrechtsanfordungen als "europäische" Sachverhalte.

Die Aufnahme von Grund- und Menschenrechten war jedoch nicht nur dazu geeignet, das Vorrang-Prinzip zu verteidigen und gleichzeitig die Legitimität der EG als "Rechtsgemeinschaft" hervorzuheben, sondern diente auch dazu, die Integration voranzutreiben und die Rechtsprechung auf Bereiche auszuweiten, die vormals im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten lagen. Galten die Grundrechte ursprünglich nur als Prüfmaßstab für Rechtssetzungsakte der Gemeinschaftsinstitutionen, richten sie sich nun auch an die mitgliedstaatliche Gesetzgebung. Dies geschah durch eine andere Akzentuierung: Die Ablösung der Frage "Was liegt innerhalb der Rechtssetzungskompetenz der Mitgliedstaaten?" durch die Frage "Was liegt im Bereich der Gemeinschaft?" deutet einen zwar subtilen, aber nichtsdestotrotz einschneidenden Wandel der Kompetenzzuschreibung an .

Die Rolle nationaler Gerichte

Die Vorrangigkeit europäischen Rechts wirft die Frage auf, welche Rolle die nationalen Gerichte bei der Anwendung und Durchsetzung von europäischem Recht spielen, d. h., das europäische Rechtssystem steht vor der Aufgabe, ein System zentraler oder dezentraler Durchsetzung zu etablieren. Im Vorabentscheidungsverfahren sind diese beiden Elemente miteinander verknüpft bzw. stehen nebeneinander. Verschiedene Gründe legen die Vermutung nahe, dass das Vorabentscheidungsverfahren gegenüber einer zentralen Rechtsdurchsetzung durch den EuGH zunächst wenig effizient ist: Nur die letztinstanzlichen Gerichte haben eine Vorlageverpflichtung; ein Recht auf Vorlage ist nicht institutionalisiert; der EuGH ist auf die Kooperationsbereitschaft nationaler Gerichte angewiesen, und nur Fragen der (unklaren) Auslegung und Geltung müssen vorgelegt werden. Dennoch ist das Vorabentscheidungsverfahren ein wirksames Instrument der einheitlichen Interpretation von Europarecht mit Präzedenzwirkung. Der EuGH geht grundsätzlich von einem Kooperationsverhältnis mit den nationalen Gerichten aus: Die nationalen Gerichte haben demzufolge den Auftrag, eine mit dem EGV unvereinbare Vorschrift nicht anzuwenden . Die nationalen Gerichte (unterhalb der verfassungsgerichtlichen Ebene) erhalten dadurch eine höhere Kompetenz als im innerstaatlichen Rahmen, nämlich die der Normenkontrolle. Das Vorabentscheidungsverfahren macht besonders deutlich, dass die These von den getrennten Rechtssphären nicht aufrechtzuerhalten ist, es handelt sich vielmehr um eine "wechselseitige Durchdringung", d. h. nicht nur um eine Ko-Existenz von rechtlichen Systemen, sondern um ein Verschmelzen der Rechtssysteme. Die Formel "Kooperationsverhältnis" erweckt den Anschein, dass es sich um eine gleichberechtigte, nichthierarchische Beziehung handelt. Dagegen spricht, dass der EuGH prinzipiell die Vorlage von entscheidungserheblichen Fragen fordert, zu denen es noch keine gesicherte Rechtsprechung gab - es sei denn, es gibt keinen Zweifel an der Auslegung. Gleichzeitig geht der Gerichtshof davon aus, dass die nationalen Gerichte keine Befugnis haben, Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in Eigenverantwortung für ungültig zu erklären, obwohl dies in einem "Kooperationsverhältnis" nahe liegend wäre.

Vorgaben für die Umsetzung

Nationale Verwaltungsvorschriften (insbesondere das Verwaltungs- und Prozessrecht) können potentiell zu Implementationsunterschieden und somit zur indirekten Kollision mit europäischem Recht führen. "Der EuGH sah sich daher veranlasst, auch für die Umsetzung Prinzipien zu entwickeln, die das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationaler Rechtsordnung grundsätzlich präzisieren und denen daher konstituierende Bedeutung zukommt." Mit Verweis auf die Vertragserfüllungsverpflichtung der Mitgliedstaaten konkretisierte der EuGH deren Handlungs- und Unterlassungspflichten zur "ordnungsgemäßen Umsetzung" von Richtlinien. Die wichtigsten Prinzipien sind die Unbedingtheit der Umsetzungspflicht und -fristen, die Notwendigkeit von zwingenden gesetzlichen Bestimmungen der Umsetzungsmaßnahmen, die richtlinienkonforme Auslegung durch die nationalen Gerichte und insbesondere die Staatshaftung bzw. der Schadensersatzanspruch bei mangelhafter Umsetzung von Richtlinien . Diese Rechtsprechungspraxis hat erstens enorme Auswirkungen auf die Ausgestaltung des nationalen Staatshaftungsrechts. So gibt es z. B. in Deutschland keine innerstaatlichen Haftungstatbestände für "rechtswidriges" Handeln oder Unterlassen der Legislative, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gibt es nun jedoch "europäische" Haftungstatbestände. Zweitens wird - statt gesellschaftlicher Selbstregulierung - die staatliche Regulierung und Verregelung forciert, ja gefordert. Der Freiraum der Mitgliedstaaten, welche Bereiche der gesellschaftlichen Selbststeuerung überlassen sind, wird eingeschränkt. Drittens

strahlte die Rechtsprechung auch auf den Rechtsschutz bei der Umsetzung von Richtlinien aus. So verpflichtete der EuGH die nationalen Gerichte, den Rechtsschutz, der sich aus europäischem Recht ergibt, entsprechend nationalen Prozessrechtsnormen zu gewährleisten. Herausragende Bedeutung nimmt hier die Elaboration verbindlicher Maßstäbe zum vorläufigen Rechtsschutz ein, der nicht durch nationale Rechtsvorschriften behindert werden darf . Dies ist ein Schritt in Richtung auf ein einheitliches (europäisches) Verfahrens- und Prozessrecht; denn bei der Erweiterung des Rechtsschutzes als (implizites) Grundrecht legt der EuGH den nationalen Rechtsordnungen einen gemeinschaftlichen Rechtsschutz auf - es handelt sich somit um ein "europäisches Verwaltungsrecht im Werden".

Abschließend kann festgestellt werden, dass, indem der EuGH seine Kompetenzen selbst auslegt, von einem bestimmten Vorverständnis ausgeht und frei über seine Auslegungsmethoden entscheidet, er seine Judikatur prinzipiell über jede Rechtssphäre ausdehnen kann. Er hat das europäische Institutionensystem unter dem Zielparadigma eines "transnationalen, effizienten Wirtschaftssystems" maßgeblich geformt und entwickelt und die Verschmelzung der Rechtssysteme unter der Hegemonie des europäischen Rechts vorangetrieben. Als Hüter der Gemeinschaft und Förderer der Integration mit dem Anspruch, ein kohärentes Rechtssystem und umfassendes Rechtsschutzsystem zu erarbeiten, war er federführend bei der Gestaltung, Organisation und Strukturierung des europäischen "Mehrebenensystems". Ähnlich nationalen Verfassungsgerichten versetzt ihn dies in die Position eines zentralen - an der politischen Steuerung beteiligten - Akteurs, dessen Tätigkeit sich in der Grauzone zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung befindet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. v. Bogdandy, Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: T. v. Danwitz u. a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, Bonn 1993, S. 9 ff., 109.

  2. U. Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz - Probleme der europäischen Rechtsprechung aus richterlicher Sicht, in: Das Europäische Gemeinschaftsrecht im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft, Ausgewählte Aufsätze 1964-1984, Baden-Baden 1985; ders., Die Rolle des europäischen Gerichtshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, Gütersloh 1995, S. 256 ff.; H. P. Ipsen, Europäische Verfassung - Nationale Verfassung, in: Europarecht, (1987), S. 195 ff.

  3. G. C. R. Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, in: Europarecht, (1992) 3, S. 225 ff.

  4. J. Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, Baden-Baden 1983.

  5. O. Due, Ansprache des Präsidenten Ole Due anlässlich des Ausscheidens von Richter O'Higgins und Generalanwalt Mischo, in: Jahresbericht 1991. Überblick über die Tätigkeiten des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1993, S. 75 ff.; G. Nicolaysen, Der Gerichtshof - Funktion und Bewährung der Judikative, in: Europarecht, (1972) 7, S. 375 ff.; B. Beutler, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, Loseblatt, Baden-Baden 1983; J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, Baden-Baden 1995.

  6. Art. 3 EUV, Art. 46 EUV, Art. 7 EGV.

  7. Vgl. D. Siebert, Die Auswahl der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt/M. 1997.

  8. Vgl. Art. 226 und 227 EGV.

  9. Vgl. Art. 230 und 231 EGV.

  10. Vgl. Art. 232 EGV.

  11. EuGHE Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 (238).

  12. Art. 234 EGV.

  13. J. Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, in: J. Schwarze (Anm. 4), S. 69 ff.

  14. J. Schwarze (Anm. 4), S. 24.

  15. Vgl. M. Akehurst, The application of general principles of law by the Court of Justice of the European Communities, in: J. Brownlie/J. Crawford (Hrsg.), The British Year Book of International Law, Oxford 1981, S. 29 ff.

  16. Vgl. S. Shapiro/A. Stone, The New Constitutional Politics of Europe, in: Comparative Political Studies, (1994) 4, S. 412 ff.

  17. Vgl. D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: a Europe of Bits and Pieces, in: Common Market Law Review, 30 (1993), S. 17 ff.

  18. Vgl. M. Bach, Ist die Europäische Einigung irreversibel? Integrationspolitik als Institutionenbildung in der Europäischen Union, in: B. Nedelmann (Hrsg.), Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 368 ff.

  19. Vgl. J. H. H. Weiler, A Quiet Revolution: The European Court of Justice and its Interlocutors, in: Comparative Political Studies, (1994) 4, S. 510 ff.; K. J. Alter/S. Meunier-Aitsahalia, Judicial Politics in the European Community. European Integration and the Pathbreaking Cassis de Dijon Decision, in: Comparative Political Studies, (1994) 4, S. 535 ff.

  20. Vgl. J. Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, Oxford 1993.

  21. Problematisch ist allerdings, dass Rechtslücken im Sinne von Regulierungs- und Verregelungsbedarf auch neu geschaffen werden können.

  22. Vgl. D. Curtin (Anm. 17) und J. H. H. Weiler (Anm. 19).

  23. S. Joerges, Ch.: Taking the Law Seriously: On Political Science and the Role of Law in the Process of European Integration, in: European Law Journal, (1996)2.

  24. Vgl. E. Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution, in: American Journal of International Law, 75 (1981), S. 1 ff.

  25. Vgl. Z. Bankowski/A. Scott, The European Union, in: R. Bellamy (Hrsg.), Constitutionalism, Democracy and Sovereignty: American and European Perspectives, Aldershot 1996, S. 77 ff.

  26. Vgl. W. Sandholtz/A. Stone Sweet (Hrsg.), European Integration and Supranational Governance, New York 1998.

  27. RS 6/64 Costa gegen E.N.E.L., Slg. 1964, 1269.

  28. Vgl. RS 26/62, Van Gend en Loos, Slg. 1963, 1.

  29. A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik - Der Einfluss des Europäischen Gerichtshofs auf die föderale Machtbalance zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, Baden-Baden 1998, S. 94; vgl. C. D. Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 119 (1994), S. 238 ff.

  30. Vgl. RS 57/65 Lütticke, Slg. 1966, 205.

  31. Vgl. RS 36/74 Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, RS 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 und RS 78/70 Deutsche Grammophon, Slg. 1971, 487.

  32. Vgl. RS 9/70 Grad, Slg. 1970, 825 und RS 41/74 Van Duyn, Slg. 1974, 1337.

  33. Vgl. RS 103/88 Constanzo, Slg. 1989, 1839, RS C-188/89 Foster, Slg. 1990I, 3313 und RS 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891.

  34. Vgl. RS 104/81 Kupferberg, Slg. 1982, 3641.

  35. Vgl. RS 6/64 Costa gegen E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 und RS 6/60 Humblet, Slg. 1960, 1163.

  36. Vgl. RS 11/70 Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125.

  37. Vgl. M. Cappelletti/D. Golay, The Judicial Branch in the Federal and Transnational Union: Its Impact on Integration, in: M. Cappelletti/M. Secombe/J. H. H. Weiler (Hrsg.), Integration through Law, New York u. a. 1986, S. 261 ff.; vgl. RS 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419; J. Coppel/A. O'Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: Common Market Law Review, 29 (1992), S. 669 ff.

  38. RS 1170 Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 70 1125 Rn. 4.

  39. Vgl. J. Coppel/A. O'Neill (Anm. 37).

  40. S. RS 35/76 Simmenthal I, Slg. 1976, 1871.

  41. A. Wolf-Niedermaier (Anm. 29), S. 109.

  42. Vgl. insbes. RS C-6/90 und C-9/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357.

  43. Vgl. RS C-213 Factortame, Slg. 1990, I-2433.

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M. A., geb. 1969; wiss. Mitarbeiterin für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt.

Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Politikwissenschaft, Residenzschloss, 64283 Darmstadt.
E-Mail: hitzel@pg.tu-darmstadt.de

Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Heidrun Abromeit) Constitutional Change and Contractual Revision: Principles and Procedures, in: European Law Journal, (1999) 1.