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Asien Editorial Asien nach dem "Wunder": Auf dem Weg in eine bessere Zukunft? Asien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Wirtschaft, Gesellschaft und Außenpolitik Japans China - die kommende Großmacht Sonnenschein über Pyöngyang

Asien nach dem "Wunder": Auf dem Weg in eine bessere Zukunft?

Rüdiger Machetzki

/ 8 Minuten zu lesen

Während der letzten drei Jahrzehnte ist Ostasien zur dritten großen Schlüsselregion der Weltwirtschaft herangewachsen. Im Jahre 1997 schien das "Wunder" jedoch ein abruptes Ende zu finden.

Einleitung

Vor nunmehr zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Gunnar Myrdal, der große schwedische Nationalökonom, sein in der Entwicklungsforschung bahnbrechendes Opus magnum "Asian Drama - Eine Untersuchung zur Armut der Nationen". Myrdal gelangte zu der deprimierenden Schlussfolgerung, das nachhaltige Entwicklungsversagen in den meisten Staaten des südlichen und östlichen Asiens sei im Wesentlichen auf unzulängliche Ordnungskompetenz der nationalen Entwicklungsführungen zurückzuführen - ein Erklärungsmuster, das Mitte 1997 nach langen Jahren des "Dornröschenschlafes" zumindest vorübergehend wieder an Prominenz gewann. Zur Erläuterung seiner Grundthese führte Myrdal den später zum Gemeinplatz gereiften Begriff des "soft state" ein. Dieser molluskelhaft "weiche Staat" stelle seinerseits nichts anderes als die negative Erblast entwicklungshemmender politisch-gesellschaftlicher Kulturtraditionen in der asiatischen Großregion dar.

Nur fünfundzwanzig Jahre später, im Herbst 1993, stellte die Weltbank ihre international Aufsehen erregende Standardstudie zum so genannten "East Asian Miracle" vor, eine Untersuchung zum "wundersam neuen Wohlstand" im pazifisch-asiatischen Raum. Die Botschaft war klar und konnte nach der demonstrativen Überzeugung der beteiligten Experten nur von Unwissenden angezweifelt werden: Acht ostasiatische Länder seien im Verlaufe einer historisch beispiellosen Erfolgsgeschichte ins Zentrum des globalen Wirtschaftsgeschehens vorgestoßen und hätten in Ostasien die dynamischste Schlüsselregion der Weltwirtschaft nahezu wortwörtlich aus dem Boden gestampft. China mit seinem vom Hochwachstum geprägten Küstengürtel war von der Studie noch ausgenommen. Man wollte dem wirtschaftlich aufstrebenden Subkontinent eine eigene Studie widmen.

1997 ereignete sich dann - "plötzlich und (un)erwartet" - das große wirtschaftliche Desaster in der Region. Nach zehn langen Boomjahren stürzten die meisten "Wunderwirtschaften" in einer zerstörerisch harten Landung ab. Die berühmte Dynamik der Region hatte sich in fataler Weise als "richtungsoffen" erwiesen. Wichtiger noch mit Blick auf die Zukunft: Seit Beginn der plötzlichen und zutiefst überraschenden finanz- und industriewirtschaftlichen Eruptionen haben sich die Betroffenen und auch außenstehende Beobachter mehr oder weniger ratlos gefragt, wie es ausgerechnet in der Weltwirtschaftsregion, deren hohe Dynamik (Hochwachstum plus Strukturwandel) ebenso bewundert wie gefürchtet wurde, zu einem derartig katastrophalen Erdrutsch kommen konnte. Wie konnten so überlegene Volkswirtschaften in eine solche Zwangslage geraten? Die Frage ist bis heute nicht beantwortet, jedenfalls nicht in einer Weise, die allgemein zu überzeugen vermag.

Eine stattliche Anzahl von Beobachtern machte in erster Linie ein eklatantes Versagen der Ordnungspolitik in den betroffenen Ländern für den Ausbruch der Krise(n) verantwortlich. Stichwort: "Bad governance!" Es fällt schwer, dem Hinweis zu widerstehen, dass der gleiche Chor von Beobachtern bis Anfang 1997 noch das Hohelied vom "segensreichen Wirken" eben dieser Ordnungspolitik gesungen und entsprechende westliche Ordnungsdefizite vielstimmig beklagt hatte.

Eine ebenso stattliche Riege anderer Bobachter verlegte sich darauf, die Asiaten von schweren "Sünden" weitgehend freizusprechen und statt dessen ein Versagen der globalen Finanzmärkte, teilweise sogar deren prinzipielle Störanfälligkeit in den Mittelpunkt ihrer Kritik zu stellen. Die allgemeine Ungewissheit, um nicht zu sagen Ratlosigkeit, ist nicht eben befriedigend, aber letzten Endes wohl nicht zu vermeiden. Sie zeigt die Grenzen jeglicher Prognostik auf, eine Tatsache, die schon den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zu dem Bonmot inspiriert hatte, Prognosen seien immer schwierig, insbesondere jene über die Zukunft. Leicht polemisch gesagt, erwies sich nur so viel: Auch "Wunder" dauern nicht ewig an, und - mehr noch - sie sind augenscheinlich nicht "unfallsicher". Vielleicht besteht jedoch Hoffnung, dass sie sich wiederholen.

In der ersten Phase nach Ausbruch der Krise(n) gingen viele Asienexperten - Weltbank und Internationaler Währungsfonds nicht ausgenommen - von der optimistisch eingefärbten Annahme aus, die Folgen der großen Entwicklungsrückschläge ließen sich wahrscheinlich innerhalb von sechs bis zwölf Monaten bewältigen. Spätestens ab Frühjahr 1998 herrschte jedoch ein bis dato ungewohnter Pessimismus vor. Jetzt verkündeten die "Auguren" kommende "magere Jahre" voll krisenhafter Schwächen, möglicherweise stehe sogar ein "verlorenes Jahrzehnt" nach unrühmlichem lateinamerikanischen Muster bevor.

In der Zwischenzeit hat die Wirklichkeit beide Szenarien überholt. Die Optimisten waren zu optimistisch. Sie hatten Tiefe und Ausmaß der wirtschaftlichen Verwerfungen unterschätzt. Was als Währungskrise begann, weitete sich zu einer wirtschaftlich-gesamtgesellschaftlichen Krise aus, zu einem allgemeinen Verlust der Balance, der die betroffenen Gesellschaften in ihrem Fortschrittsverständnis bedrohte. Andererseits waren die Pessimisten zu pessimistisch. Sie unterschätzten die Widerstandskraft und die Leidens- wie Opferfähigkeit der ostasiatischen Gesellschaften. Sind doch die meisten unter ihnen, wie wir heute erkennen können, nach einer gewissen Zeit der Lähmung ihrem zuvor erworbenen Ruf als "crisis eaters" mehr oder weniger nachdrücklich gerecht geworden. Die einzige Ausnahme bildet bisher Indonesien, das in seinem Krisenbewältigungsprozess um zwei Jahre hinter den anderen Akteuren zurückliegt. Mit anderen Worten: Für die Gesamtregion ist die akute Krisenphase vorbei. Über Asien darf in der internationalen Berichterstattung wieder ohne Verwendung des Begriffs "Krise" berichtet werden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Man sollte das Ende der akuten Krise nicht vorschnell mit einer langfristig gesicherten "Erholung" der Region verwechseln. Eine wirkliche Gesundung der ostasiatischen Wirtschaftsgesellschaften wird sich erst dann überzeugend diagnostizieren lassen, wenn erstens die gravierenden Verluste an internationaler Kaufkraft (Folge der Währungskrisen) kompensiert werden können, wenn sich zweitens die jungen Mittelschichten, die Träger der modernen Entwicklungen, materiell und psychologisch von ihrem Krisentrauma erholt haben und wenn drittens die dramatisch angestiegene Massenarbeitslosigkeit nachhaltig abgebaut werden kann. Arbeitslosigkeit ist letzten Endes nicht nur ein soziales Problem, sondern - und das gilt im besonderen Maße für Ostasien - auch ein Problem des Vertrauens in die nationale Gestaltungskompetenz der politisch-wirtschaftlichen Eliten.

In Europa ist es seit einiger Zeit en vogue, gesellschaftlich über das Zeitalter der "Postmoderne" und wirtschaftlich über die "postindustrielle Wirtschaft" zu räsonieren. Solche Debatten sind nicht gänzlich frei von Elementen geistiger Nabelschau. Zu selten wird ernsthaft bedacht, dass diese neuen historischen Konstellationen - wenn überhaupt - nur für höchstens ein Viertel der Menschheit die gesellschaftliche Realität bestimmen. Gut drei Viertel aller Menschen existieren auch zu Beginn dieses Jahrhunderts - mit Blick auf ihre wirtschaftlichen Lebensverhältnisse - immer noch unter vor- oder frühindustriellen Bedingungen, und politisch-gesellschaftlich leben sie in Gemeinwesen mit zerstörten Traditionsgrundlagen, ohne dass es zur Herausbildung neuer geschichtlicher Institutionen gekommen wäre. Für die große Mehrheit der Menschen liegt die so genannte "Moderne" also bestenfalls in einer unsicheren Zukunft.

In diesem Zusammenhang scheint es bemerkenswert und - wichtiger noch - keineswegs dem bloßen historischen Zufall geschuldet, dass die meisten Länder außerhalb der atlantischen Weltregion, denen man deutliche Fortschritte innerhalb des langfristigen Modernisierungszeitalters bescheinigen muss, in Ostasien zu finden sind. Dennoch: Es wäre verfrüht, von wirklich nachhaltigen gesellschaftlich-wirtschaftlichen "Modernisierungsdurchbrüchen" für die gesamte Region zu sprechen. Von dieser "Schwelle" sind mit Ausnahme Japans, Taiwans und der kleinen Stadtstaaten der Region alle anderen Gesellschaften noch mehr oder weniger weit entfernt.

Vor allem sollte man nach den lehrreichen Erfahrungen 1997 bis 1999 nicht erneut vorschnelle Schlussfolgerungen aus den seit Anfang 2000 wieder positiv geprägten Zahlen der üblichen gesamtwirtschaftlichen Indikatoren ziehen und sie mit der jeweiligen Realität hinter diesen Indikatoren gleichsetzen. Es ist in der Tat erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit die weltweite "Gemeinschaft" der Wirtschaftsanalysten und die internationalen Organisationen (Weltbank, Internationaler Währungsfonds usw.) heute wieder auf die Autorität der gleichen "Einheitsstatistiken" zu vertrauen scheinen, die in ihren Reihen bis Anfang 1997 nicht die geringsten Alarmsignale hinsichtlich der realen Entwicklungen in Ostasien ausgelöst hatten. Es sollte also hinreichend Anlass bestehen, die jüngst gewonnene "Distanz zur Euphorie" auch weiterhin zu wahren.

Dennoch spricht vieles dafür, dass die ostasiatische Region ihre globale Position ungeachtet aller krisenbedingten Entwicklungsrückschläge während der nächsten Jahrzehnte mit großer Verlässlichkeit ausbauen wird. Sie wird die dynamischste Region im globalen Wirtschaftsgeschehen bleiben und überdurchschnittlich expandieren. Das muss nicht unbedingt für jede einzelne Volkswirtschaft gelten, wohl jedoch für das gesamtregionale "Ensemble". Das heisst: Das neue Jahrhundert wird vor allem wirtschaftlich, vielleicht auch politisch ein wahrhaft "globales Jahrhundert" werden. Die Zeiten einseitiger westlicher Dominanz nähern sich ihrem Ende.

Die meisten ostasiatischen Gesellschaften haben während der letzten dreißig Jahre eine außerordentlich beeindruckende Lernfähigkeit bewiesen. Sie sind in der Tat nicht nur nach eigenem Dafürhalten "fast learners". Nichts spricht also dagegen, dass sie auch aus der jüngsten Krise ihre Lehren ziehen werden. Für jeden, der ihre Bemühungen um Krisenbewältigung der letzten beiden Jahre intensiv verfolgt hat, sind wesentliche Lernergebnisse zumindest in drei verschiedenen Bereichen bereits heute sichtbar.

Erstens haben die Lehren, die die Verantwortlichen aus dem Verlauf der Krise(n) gezogen haben, offensichtlich die allgemeine Bereitschaft gestärkt, in Zukunft wirtschaftlich und auch politisch enger zusammenzuarbeiten. Im November 1999 kamen die nordost- und südostasiatischen Teilnehmer eines gesamtregionalen Gipfeltreffens in Manila überein, die Realisierungsmöglichkeiten für eine Gemeinschaft "ASEAN Plus Three" (die zehn südostasiatischen Staaten plus Japan, China, Südkorea) ernsthaft auszuloten. Nach Auffassung des südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung "werfen zwei Jahre des wirtschaftlichen Elends ein bezeichnendes Licht auf eine einfache Wahrheit. Die asiatischen Länder müssen zusammenarbeiten . . . und dem Weg Europas und Nordamerikas folgen, indem sie letztlich eine solche Körperschaft einrichten . . . Um die Wachstumpotentiale der Region maximal zu nutzen, müssen wir Kooperationsprogramme erarbeiten und verwirklichen, um unsere Interessen auf wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Feldern unter uns selbst verfolgen zu können."

Zweitens repräsentieren Fragen der politisch-wirtschaftlichen Ordnungskompetenz einen weiteren großen Lernbereich der Krisenjahre. Die mit erheblichen Opfern verbundenen Reformbemühungen in den meisten Ländern Ostasiens signalisieren nicht zuletzt, dass sich in der Zwischenzeit das öffentliche Bewusstsein darüber deutlich vertieft hat, wie wichtig es für die eigene Zukunft ist, ein Klima wesentlich größerer politisch-wirtschaftlicher Ordnungssicherheit zu erzeugen. Zum einen geht es um die Steigerung der Leistungsfähigkeit der entsprechenden Institutionen und um ein prinzipiell marktorientiertes Verhalten der Akteure, das heißt insbesondere um die Unterbindung sachfremder politischer Einflussnahme auf die Unternehmenswelt. Zum anderen wird die Verstetigung angemessener Kontroll- und Aufsichtsverfahren angestrebt, um Fehlentwicklungen, wie sie zur jüngsten Krise geführt haben, in Zukunft frühzeitig zu registrieren und ihnen entsprechend gegensteuern zu können.

Drittens haben die Krisengeschehnisse den Regierungen der meisten Länder schmerzvoll verdeutlicht, dass ihre Gesellschaften auf allen Ebenen der nationalen Erziehungs- und Ausbildungssysteme unter schweren strukturellen Schwächen leiden, deren Existenz man zuvor "ausgeblendet" hatte. Es versteht sich von selbst, dass grundlegende Erfolge beim Abbau dieser Defizite nicht innerhalb weniger Jahre erwartet werden können, aber die ersten Weichenstellungen sind vorgenommen worden. Wichtig ist, dass Übereinstiummung zu herrschen scheint, das Motto dürfe nicht länger "Weiter so wie bisher!" lauten.

Um ein kurzes abschließendes Fazit zu ziehen: Während der letzten beiden Jahre sind in Singapur, Korea und anderen Ländern Ostasiens nicht wenige nachdenkliche Stimmen hörbar geworden, die der Krise ihrer Gesellschaften durchaus auch die Wirkung eines "versteckten Segens" zuschreiben. In einer zwei Jahre vor Krisenbeginn veröffentlichten Abhandlung mit dem Titel "The Asian Renaissance" hatte Malaysias früherer Stellvertretender Ministerpräsident Anwar Ibrahim eine kritische Zukunftsbotschaft formuliert, die im Sog des weithin narkotisierenden Fortschrittsoptimismus - "Die Zukunft wird besser, die Zukunft ist unser" - kaum Gehör fand. Heute gilt diese Botschaft praktisch als geistiges Gemeingut in der Region:

"Das wirtschaftliche Wachstum Asiens wird vor allem davon abhängen, ob der Kontinent in der Lage ist, das Tempo der weltweiten Verschiebungen in Richtung neuer wirtschaftlicher Strukturen zu halten, deren Energie aus den Köpfen und nicht aus der Muskelkraft stammt. . . Demgemäß wird die Bedeutung der Erziehung und der menschlichen Ausbildung in dem Maße entscheidend sein, in dem Asien danach strebt, eine eigenständige wissenschaftlich-technologische Kultur zu entfalten, und ebenso wird es um die Neugestaltung gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen gehen, die von der hierarchischen Natur des industriellen Zeitalters herrühren. Asien muss sich einem Paradigmenwechsel unterziehen."

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Dr. phil., geb. 1941; wissenschaftlicher Referent am Institut für Asienkunde Hamburg.

Anschrift: Institut für Asienkunde, Rothenbaumchaussee 32, 20148 Hamburg.