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Syrien nach Hafiz al-Asad: Zwischen Kontinuität und Wandel | Naher Osten | bpb.de

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Syrien nach Hafiz al-Asad: Zwischen Kontinuität und Wandel

Ferhad Ibrahim

/ 26 Minuten zu lesen

Der Übergang der Macht nach dem Ableben Hafiz al-Asads ist problemlos und fast planmäßig verlaufen. Die allgemeine Stagnation im Bereich der Innen- und Wirtschaftspolitik verlangt indes nach strukturellen Reformen.

I. Einleitung

Stunden nach dem Ableben des fast 70-jährigen syrischen Präsidenten Hafiz al-Asad am 10. Juni dieses Jahres ging die Macht planmäßig an seinen Sohn Bashar, den seit 1994 inoffiziell designierten Nachfolger, über. Die sofortige Änderung des Artikels 83 (Herabsetzung des Mindestalters für den syrischen Präsidenten von 40 auf 34 Jahre) der 1973 verkündeten Verfassung durch die Volksversammlung, die Ernennung Bashar al-Asads durch den Vizepräsidenten Abd al-Halim al-Khadam zum General der Armee und seine Wahl zum Vorsitzenden der regierenden Arabischen Sozialistischen Ba'th-Partei waren Indizien dafür, dass Asad allem Anschein nach in der Voraussicht seines Todes alle Maßnahmen getroffen hatte, um eine rasche Machtübernahme zu sichern. Ferner zeigte die Wahl Bashar al-Asads, des einzigen Kandidaten, mit einem Ergebnis von 97,29 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Staatspräsidenten einerseits die Präzision der vorher geplanten Schritte und andererseits die hohe Stabilität des Regimes, das der verstorbene Präsident in den letzten 30 Jahren etabliert hatte.

Obwohl der Machtwechsel in Damaskus reibungslos verlief, befindet sich Syrien in einer fast an Agonie grenzenden politischen und wirtschaftlichen Situation. Der alternde Präsident konnte in den neunziger Jahren auf dem Feld der Außen- und Regionalpolitik kaum Erfolge erzielen. An der Wirtschaftspolitik zeigte Asad während der gesamten Ära seiner Herrschaft kein besonderes Interesse. Dasselbe gilt für die Innenpolitik, die er, nachdem die Gefahr des Islamismus in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gebannt war, seinen Geheimdiensten überließ. Die Domäne seines Wirkens war stets die Außenpolitik. Syrien wurde unter seiner Führung zu einer unbestrittenen Regionalmacht, wobei anzumerken ist, dass die Erfolge nach dem Zweiten Golfkrieg nachließen. Der Friedensprozess mit Israel führte trotz zweiphasiger intensiver Verhandlungen unter amerikanischer Vermittlung von 1992 bis 1996 und von 1999 bis 2000 zu keinem Friedensvertrag. Im Bereich der Regionalpolitik konnte Syrien sein Ziel, Einfluss auf Jordanien und auf die Palästinenser zu gewinnen, nicht erreichen. Im Herbst 1998 zwang die Türkei Syrien durch massiven Druck, ihre Forderungen hinsichtlich der Sicherheitsfrage zu akzeptieren. Schließlich setzte der israelische Ministerpräsident Ehud Barak, nachdem im Frühjahr 2000 ein baldiger Frieden mit Syrien in weite Ferne gerückt war, sein während der Wahlen 1999 abgegebenes Versprechen in die Realität um. Er zog die israelischen Truppen aus der 1982 errichteten Sicherheitszone im Südlibanon ab.

Die Außenpolitik Syriens stand in engem Zusammenhang mit dem politischen Stil des verstorbenen Präsidenten sowie seinen machtpolitischen Prioritäten. Da die essentiellen außenpolitischen Entscheidungen die Strukturen der politischen Herrschaft berührten und möglicherweise einen Wandel bewirken konnten, ging die syrische Führung in der letzten Dekade sehr behutsam mit den Entscheidungen, die ein Restrisiko hinsichtlich einer möglichen Machtverschiebung implizieren konnten, um. Die Prädominanz der Sicherheit des politischen Systems bei der herrschenden Elite verhinderte jeden grundlegenden Wandel im Bereich der Politik, Gesellschaft und Kultur. Dies führte am Ende der dreißigjährigen Herrschaft Hafiz al-Asads zu einem, auch im regionalen Vergleich, nicht sehr günstigen Ergebnis für Syrien. Das Land ist nach der langjährigen Herrschaft al-Asads technologisch rückständig, hat im Vergleich zu den Nachbarstaaten eine hohe Analphabetenrate und gehört zu den Staaten, die ein sehr hohes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben. Ökonomische und politische Stagnation sowie Korruption bestimmten vor allem die letzte Dekade der Herrschaft Hafiz al-Asads.

II. Die syrisch-israelischen Friedensverhandlungen

Über den Stellenwert der Friedenspolitik im Rahmen der Herrschaftsstrategie Hafiz al-Asads scheiden sich die Geister. Die israelischen und die proisraelischen amerikanischen Nahostexperten vertreten in der Kontroverse über die Haltung Asads zum Friedensprozess die Meinung, dass Hafiz al-Asad nach dem Wandel der globalen und regionalen Strukturen infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und durch den Zweiten Golfkrieg zu Verhandlungen bereit war. Dabei ließ sich Asad allerdings nicht davon leiten, Frieden mit dem Erzfeind Israel zu schließen, vielmehr war er bemüht, eine mögliche internationale und regionale Isolierung zu vermeiden. Ein Friedensvertrag hätte die politische Öffnung des Systems, die politische Partizipation der Bevölkerung und damit das Ende der Herrschaft der alawitischen Minderheit, aus deren Reihen Asad stammte, bedeutet . Andere Stimmen gehen entweder davon aus, dass der Frieden mit Israel keine materiellen und politischen Vorteile gebracht hätte . Oder aber sie glauben, dass es deshalb zu keinem Friedensschluss kam, weil sich Asad mit weniger als einem Frieden zwischen zwei völlig gleichrangigen Partnern nicht zufrieden geben wollte .

Zweimal waren Israel und Syrien bei Verhandlungen 1992-1996 und 1999-2000 am Rande eines Friedensvertrages, und dennoch konnten sie den letzten Schritt nicht gehen. Seit dem Beginn der Friedensverhandlungen Ende 1991 mussten sich die Vorstellungen und Erwartungen der syrischen Führung den realen Gegebenheiten anpassen. Nachdem die syrische Führung der Madrider Formel bilateraler und multilateraler Verhandlungen zwischen den Kontrahenten zugestimmt hatte, erwartete sie, dass die arabischen Staaten der Formel eines gleichzeitigen und umfassenden Friedens zustimmen würden. Israel sollte keine Gelegenheit erhalten, einen Separatfrieden mit den einzelnen Akteuren zu schließen und seinen Vorteil als stärkste wirtschaftliche und militärische Macht auszuspielen. Infolge des Abschlusses des Osloer Abkommens zwischen der PLO und Israel 1993 und der im gleichen Jahr erfolgten Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung zwischen König Hussein und dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Rabin hatte Syrien nur noch den Libanon als Juniorpartner.

Syrien wollte die Auffassung Israels von der Formel "Land für Frieden" präzisiert erhalten. Über den amerikanischen Vermittler, unter anderem über den damaligen amerikanischen Außenminister Warren Christopher, soll Rabin die Bereitschaft Israels bekundet haben, im Falle eines Friedensvertrags den Golan vollständig zu räumen. Die Interpretation der "Zusicherung Rabins" wurde im Nachhinein, vor allem nach dem Wahlsieg Benjamin Netanjahus 1996 und vor dem Beginn der zweiten Verhandlungsrunde Ende 1999 zwischen den beiden Streitparteien, kontrovers dargestellt. Während Syrien die "Zusicherung Rabins" als den Rahmen für die Verhandlungen über die Detailfragen von 1994 bis 1996 betrachtete, wurde die erwähnte Zusicherung von israelischer Seite in ihrer politischen Relevanz abgeschwächt und relativiert. Sie sei eine hypothetische Antwort auf die Frage gewesen, ob Israel bei einer endgültigen Lösung des Konflikts auf das Golangebiet verzichten würde . Da die Verhandlungen 1994-1996 ohne Vertrag endeten, war der Anspruch Syriens, so die israelische Position, gegenstandslos. Nach der Ermordung Yitzhak Rabins im November 1995 übernahm Shimon Peres die Regierungsgeschäfte. Er wollte schnelle Fortschritte, doch Syrien bremste ihn. Um seine Wahlchancen nicht durch Verhandlungen über einen Abzug vom Golan zu gefährden, wurden die Gespräche abgebrochen.

Durch die Wahl Netanjahus im Mai 1996 kam es zu einem schweren Rückschlag im Friedensprozess. Er wollte die Verhandlungen nach dem Prinzip "neue Regierung, neue Verhandlungen" vom Punkt null wieder beginnen, d. h., er lehnte es ab, die bereits erzielten Fortschritte anzuerkennen. Die Vertreter der Arbeitspartei, so z. B. der ehemalige Ministerpräsident Shimon Peres, wollten nach der Wahl Netanjahus öffentlich den Stand der Verhandlungen nicht preisgeben . Die Existenz der Zusicherung wurde aber grundsätzlich nicht negiert. Syrien dagegen argumentierte auf zwei Ebenen: Zum einen hätte Syrien ohne eine prinzipielle Zusicherung keine Verhandlungen geführt, da die beiden Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 242 von 1967 und 338 von 1973, die die Rückgabe der besetzten Gebiete vorsehen, die Grundlage des Friedensprozesses seien. Zum anderen hätten die Vereinigten Staaten in ihrer Eigenschaft als Verhandlungsvermittler nie die Existenz der "Zusicherung Rabins" infrage gestellt.

Vor der zweiten Runde der Verhandlungen 1999-2000 war der Umfang des israelischen Abzugs aus dem Golan nicht der einzige Streitpunkt zwischen Syrien und Israel. Syrien ging bei den Verhandlungen von den Prinzipien der Gleichbehandlung, der Reziprozität und der Symmetrie aus, d. h., ein Zugewinn an Sicherheit des einen sollte nicht zu Lasten des anderen gehen. Dies wurde vor allem im Zusammenhang mit der Frage der Sicherheit deutlich. Israel präsentierte bei den Verhandlungen 1994-1996 ein Bündel von Forderungen für den Abzug aus dem militärisch und strategisch bedeutsamen Golan. Hierzu gehörte eine starke Reduzierung der Präsenz syrischer Truppen über den zu entmilitarisierenden Golan hinaus. Eine andere israelische Forderung bezog sich auf den Verbleib einer Frühwarnstation auf dem von Israel besetzten Mount Hermon. Es war evident, dass Syrien, was die Entmilitarisierung und andere Maßnahmen betraf, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, Gleichwertigkeit und Symmetrie bestehen würde. Grundlegend war jedoch der Umfang des Abzugs Israels aus dem besetzten Gebiet. Alle anderen Fragen hätten nach der Erreichung einer Einigung geregelt werden können. Nach einer langen Verhandlungspause, die praktisch von der Wahl Benjamin Netanjahus im Mai 1996 bis zum Wahlsieg der Arbeitspartei unter der Führung Ehud Baraks 1999 andauerte, ruhten die syrisch-israelischen Verhandlungen.

Die Wahl Baraks wurde in Syrien begrüßt. Asad und Barak zollten sich öffentlich Respekt und gingen von konstruktiven baldigen Verhandlungen aus. In einem Interview mit der arabischsprachigen Zeitung al-Hayat drückte Asad seine Reaktion auf die Wahl Baraks mit folgenden Worten aus: "Ich habe seine Karriere und seine Äußerungen verfolgt. Er scheint ein starker und ehrlicher Mann zu sein. . . . Es ist deutlich, dass er Frieden mit Syrien erreichen will. Er bewegt sich mit angemessenen Schritten vorwärts." Diese positive Haltung änderte sich jedoch, als die beiden Konfliktpartner sich nicht darauf einigen konnten, wo sie bei den künftigen Verhandlungen ansetzen sollten. Während Barak die syrische Auffassung über die "Zusicherung Rabins" zurückwies, wollte er aber die Ergebnisse der Verhandlungen 1994-1996, an denen er als Stabschef der israelischen Armee beteiligt war, faktisch anerkennen. Im Sommer und Herbst 1999 führten die beiden Kontrahenten Propagandakampagnen über die Ergebnisse der 1996 geführten Verhandlungen. Nicht anders als zuvor Rabin in der Zeitspanne zwischen 1992 und 1994 versuchte Barak zunächst, den palästinensisch-israelischen Verhandlungen eine höhere Priorität zu geben. Asad fühlte sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Er hatte immer wieder an die arabischen Akteure appelliert, eine umfassende Regelung des Konflikts anzustreben, damit Israel nicht nach dem Prinzip der Opportunität abwechselnd mit den einzelnen arabischen Akteuren verhandeln kann. Als im Herbst 1999 absehbar wurde, dass diese Verhandlungen keine baldigen Ergebnisse zeitigen würden, versuchte Barak, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, die Verhandlungen mit Syrien wieder zu beleben. Syrien unternahm erneut im Vorfeld der Gespräche den Versuch, die "Zusicherung Rabins" zu thematisieren und nach seiner Lesart zu dokumentieren. Das Ziel der syrischen Führung bestand in der Anerkennung "des Erreichten als Ganzem" und einer zügigen Wiederaufnahme der Verhandlungen.

Der Biograph Hafiz al-Asads und Syrienexperte Patrick Seale schrieb im November 1999 in der arabischsprachigen Zeitung al-Hayat eine Reihe von Beiträgen, die möglicherweise auf syrischen offiziellen Informationen über die Verhandlungen 1994-1996 basierten . Syrien hatte davor verkündet, dass die mündliche Zusicherung, den Golan in den Grenzen vom 4. Juni 1967 an Syrien zurückzugeben, durch den ehemaligen amerikanischen Außenminister Warren Christopher im Juli 1994 bei seinem Besuch in Damaskus übermittelt worden war . Nach Seale hatte Rabin im August 1993 in Anwesenheit von Christopher die Bereitschaft Israels verkündet, den Golan an Syrien zurückzugeben, wenn Asad auf die politischen und sicherheitspolitischen Forderungen eingehen würde . Rabin hat tatsächlich stets von einer Formel gesprochen, die folgenden Inhalt hatte: Der Abzug der israelischen Truppen wird parallel mit der Normalisierung der syrisch-israelischen Beziehungen einhergehen. Seale berichtete, dass nach dem Tode Rabins Peres durch Clinton über die Zusicherung informiert wurde. Peres soll dem zugestimmt haben, aber gleichzeitig auf die israelischen Wasserinteressen aufmerksam gemacht haben. Asad habe das Interesse für eine kooperative Politik signalisiert .

In einem Beitrag über die Bedingungen Asads vor der Aufnahme der ersten Verhandlungsrunde im Sommer 1994 präzisierte Seale die Forderungen des syrischen Präsidenten. Er soll den amerikanischen Unterhändlern Warren Christopher und Dennis Ross deutlich gemacht haben, dass er auf dem vollständigen Abzug Israels vom Golan bestehe und dass die Grenzen vom 4. Juni 1967 kein Gegenstand der Verhandlungen sein könnten . Die zwischen der französischen Mandatsmacht in Syrien und der britischen Mandatsmacht in Palästina 1923 vereinbarten Grenzen betrachtet Syrien als nicht bindend, da die Syrer bei der Frage des Grenzverlaufs nicht einbezogen wurden. Es ist auch anzunehmen, dass Asad Israel retrospektiv keine Legitimation für die Zeit vor der Staatsgründung geben wollte. Bei der Frage der zukünftigen Grenzen geht es darum zu klären, ob die Grenzen der Mandatszeit oder die Frontlinien vom 4. Juni 1967 (Tag vor dem Sechstagekrieg) wiederhergestellt werden sollen. Syriens Forderung nach einem Rückzug auf die Grenzen vom 4. Juni 1967 beinhaltet den Wunsch nach einem Zugang zum Tiberiassee. Aufgrund der Grenzziehung von 1923 hätte Syrien keinen direkten Zugang zum Tiberiassee erhalten. Die Grenze verlief streckenweise zehn Meter nördlich des Seeufers. Syrien hegte immer den Verdacht, dass die beiden europäischen Mächte die Grenze zugunsten der Juden gezogen haben.

In der Grenzfrage ist tatsächlich mehr als ein Aspekt von Bedeutung . Der Grenzvertrag von 1923 hatte sich sehr bald als unpraktikabel erwiesen, da die Bewohner auf der syrischen Seite den See nicht, wie bis 1923, nutzen konnten. Demzufolge waren eine Bewässerung ihrer Felder und das Fischen im See nicht mehr möglich. Ferner blieb ihnen der Zugang zu der an der südlichen Seite gelegenen Eisenbahnlinie verwehrt. Um dem Gewohnheitsrecht der Bevölkerung auf der syrischen Seite Rechnung zu tragen und familiäre Kontakte zu ermöglichen, traten der britische Hochkommissar und sein französischer Kollege bald in Verhandlungen. 1926 unterzeichneten sie einen Vertrag, in dem zwar die bisherige Regelung nicht geändert wurde, jedoch das Gewohnheitsrecht der Bevölkerung auf der syrischen Seite anerkannt wurde. Die syrischen Bürger durften nun ohne Hindernisse die schmale, zehn Meter breite Grenze zum See passieren. Nach dem Krieg von 1948 und dem Waffenstillstand von 1949 errichtete die UNO drei Zonen entlang der Waffenstillstandslinie zwischen Syrien und Israel. Von diesem Zeitpunkt bis zum Suez-Krieg 1956 versuchte Israel systematisch, die entmilitarisierten Zonen im Süden und Norden des Tiberiassees unter seine Kontrolle zu bringen. Syrien besetzte die kleine Zone im äußersten Norden der Grenze.

Es scheint, dass die Fragen des vollständigen Abzugs und der Sicherheit eine hohe Priorität für den syrischen Präsidenten hatten. Dabei zeigte er eine gewisse Flexibilität. Nach Seale soll Asad 1995 auf dem Feld der Sicherheitsregelungen folgende Idee in die Diskussion eingebracht haben: Es sollen Strukturen entlang der Grenze entstehen, die einen Angriff oder einen umfassenden Krieg verhindern. Zudem soll das Grenzregime jede direkte Konfrontation der Streitkräfte der beiden Länder verhindern . Diese Ziele beruhen auf den Prinzipien der Symmetrie, der Gleichberechtigung und der Reziprozität.

Nach einer mehrmonatigen abwartenden Phase, in der die Kontrahenten ihre Positionen abermals betonten, stimmten die beiden Konfliktpartner dem amerikanischen Vorschlag zu, die Verhandlungen dort aufzunehmen, wo sie 1996 abgebrochen waren. Dadurch wurden wieder Verhandlungen ermöglicht, aber auf Kosten einer Klarheit über die Grenzen, die der syrische Präsident unaufhörlich nach der Wahl Baraks forderte. Präsident Clinton soll damals dem syrischen Präsidenten zugesichert haben, dass das Versprechen Rabins die Grundlage der Verhandlungen sei . Die Ende November 1999 in Shepherdstown geführten Gespräche scheiterten jedoch an einem wesentlichen und seit 1994 dominierenden Punkt: dem Umfang des israelischen Abzugs vom Golan - der Frage des künftigen Grenzverlaufs. Die Verhandlungen mussten Mitte Januar 2000 vorerst unterbrochen werden, da in der Territorialfrage keiner der beiden Konfliktpartner von seinem Standpunkt abrückte. Syrien zeigte sich allerdings in der Sicherheitsfrage kompromissbereit, indem es der Frühwarnstation, die von amerikanischen und französischen Soldaten betrieben werden sollte, zustimmte . Dies zeugt von einer kooperativen Haltung Asads. In der ersten Verhandlungsrunde 1994-1996 war dies noch nicht möglich. So verkündete 1995 der syrische Vizepräsident Khaddam: "Israel müsste klipp und klar verkünden, unsere Heimaterde zurückzugeben, ohne jede Einschränkung, innerhalb eines vernünftigen Zeitplans."

Um die verfahrene Situation wieder in Gang zu bringen, trafen sich Asad und Clinton im März 2000 in Genf. Die extrem kurze Unterredung führte zu keinem Ergebnis. Syrien beharrte nicht nur auf den Grenzen von 1967, sondern darüber hinaus wollte Asad keineswegs auf die Nutzung des Tiberiassees, der von syrischen Zuflüssen gespeist wird, verzichten. Die israelische Ansicht, dass der See ausschließlich in israelischem Besitz bleiben muss und dass Syrien, nach dem Prinzip der absoluten Integrität, keine Veränderungen an den Zuflüssen zum Tiberiassee unternehmen darf, ist als eine eklatante Souveränitätseinschränkung Syriens zu bewerten. Die von Israel gegenüber Syrien geforderte absolute Integrität ist zum einen nicht das einzige völkerrechtliche Wasserregelungsprinzip, zum anderen hat die UNO durch Verkündung kooperativer Regelungsvorschläge neue Normen im Völkerrecht gesetzt.

III. Das schwere Erbe Hafiz al-Asads

Die alawitische Gemeinschaft in Syrien, die mächtigen Offiziersriegen, die Partei und die obersten Ränge der staatlichen Bürokratie bildeten unter Hafiz al-Asad die Stützen der politischen Macht. Aus den Angehörigen dieser Gruppen ging die Staatsklasse hervor. Diese Gruppen beherrschten in der dreißigjährigen Regierungszeit Hafiz al-Asads das Land. Die syrische Staatsklasse weist einen hohen Grad an Kohärenz und Kontinuität auf. Anders als im vergleichbaren Irak wurde das System strukturell und personell kaum verändert. Die Kosten waren für das Land sehr hoch: Die Isolationspolitik und die Unbeweglichkeit des Systems führten zu einer umfassenden Stagnation der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Alle Bereiche, die die Sicherheitsbedürfnisse des Systems nicht tangierten, wurden vernachlässigt. So konnte das Bildungswesen, auch im regionalen Vergleich, kaum Fortschritte verzeichnen. Die Analphabetenrate in Syrien gehört mit 36 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren zu den höchsten in der Region . Die Ideologisierung des Hochschulwesens, das der Ba'th-Partei unterstellt wurde, erlaubte kaum eine Entfaltung der Wissenschaft. Verheerend war die beharrliche Weigerung der syrischen Führung, sich der weltweiten Kommunikationsrevolution anzuschließen. Syrien verbot aus sicherheitspolitischen Gründen lange den Zugang zum Internet und die Einführung des mobilen Telefons. Das Land hat mit 1,7 Personal Computern pro 1 000 Einwohnern die geringste Zahl an Computern im Vergleich zu den Nachbarländern. Die Verabsolutierung der politischen Sicherheit des Systems bildete den Hintergrund für diese Situation. Unter diesem Aspekt ist auch das Problem der Bevölkerungsexplosion in Syrien zu sehen, das von der Regierung kaum beachtet wurde. Syrien erreichte in den neunziger Jahren mit einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 3,3 Prozent die Weltspitze.

Diese Probleme fanden in der syrischen Wirtschaft ihren Niederschlag. Mitte der siebziger Jahre versuchte das syrische Regime, durch die Einräumung eines größeren Terrains für den Privatsektor neue soziale Schichten für sich zu gewinnen. Die so genannte Öffnungspolitik (infitah) blieb jedoch im Vergleich zu Ägypten eher bescheiden. Erst durch die Verabschiedung das Investitionsgesetzes Nr. 10 im Jahre 1991 sollte der Privatsektor die marode, vom Staat kontrollierte Wirtschaft wieder ankurbeln. Die restriktive Vergabe von Projektgenehmigungen und der fehlende Rahmen (etwa Industrieparks und ein modernes Banksystem) führten dazu, dass die Hoffnungen, die in die Liberalisierung gesetzt wurden, nicht realisiert werden konnten. Zudem kam es nicht zu der in Syrien viel diskutierten Privatisierung der Wirtschaft. Das Ergebnis der Wirtschaftsstagnation war, zumal bei Berücksichtigung der jährlichen Bevölkerungswachstumsrate, negativ. Im Widerspruch zu dieser Situation bemächtigten sich die wenigen Privatunternehmer der staatlichen Unternehmen und die Angehörigen der Staatsklasse häuften beachtliche Reichtümer an.

Es ist zu vermuten, dass Bashar al-Asad, der sich als Modernisierer profilieren möchte, den Reformstau partiell bewältigen wird. Die anstehenden Probleme der Privatisierung und der Liberalisierung der Wirtschaft sind kein leichtes Unterfangen. Vor allem der Widerstand der alten Garde und der Bürokratie muss gebrochen werden. Der Streit um die Einführung eines modernen Banksystems ist ein typisches Beispiel für die Unbeweglichkeit der Staatsklasse.

Noch vor zwei Jahren lehnte die syrische Führung beharrlich die Liberalisierung des Banksektors ab. Der syrische Wirtschaftsminister Muhammad al-Imadi wies damals darauf hin, dass die in Syrien tätigen libanesischen Privatbanken für die syrischen und ausländischen Investoren Dienstleistungen erbringen könnten . Diese Notlösung zeigt, dass die Staatsklasse unfähig war, überzeugende Lösungen anzubieten. Die Bemühungen Syriens, die syrische Wirtschaft mit der libanesischen über eine Zollunion zu vernetzen, waren vor allem für die libanesische Wirtschaft von Vorteil. Der Libanon mit seinem liberalen Wirtschaftssystem und seinem entwickelten Dienstleistungssektor ist der einzige arabische Staat, der auch im offenen Wettbewerb mit Israel bestehen kann. Die Beobachter der nahöstlichen Regionalwirtschaft gehen aber davon aus, dass die Vernetzung der beiden Wirtschaften so lange keine großen Fortschritte erreichen kann, bis Syrien die Durchführung der Privatisierung und Wirtschaftsreformen nicht nachhaltig in Angriff nimmt.

Die syrische Führung hat aber vermutlich keine andere Wahl, wenn Syrien Mitglied der von der EU im Rahmen des Barcelona-Prozesses für 2010 anvisierten Mittelmeer-Freihandelszone werden möchte. Zudem muss Syrien die Konsequenzen für den Beitritt zur WTO und die Assoziierung mit der Europäischen Union tragen. Diese wären ohne Wirtschaftsreformen kaum zu bewältigen. In der jetzigen Situation fürchten die Syrer, dass ihre veraltete Industrie nicht konkurrenzfähig sein wird. Die Exportmöglichkeiten für syrische Industrieprodukte sind deshalb gering, weil sie teuer hergestellt werden und den Qualitätsstandard der europäischen Produkte nicht erreichen .

Der Wirtschaftskurs des neuen Präsidenten und seines Ministerpräsidenten Miro zeigt, dass die neue Führung sich durchaus bewusst ist, dass trotz der Widerstände der alten Garde Anstrengungen zur Ankurbelung der Wirtschaft unternommen werden müssen, zumal die fast 25 Milliarden Dollar Schulden die Erlöse aus dem Erdölexport verschlingen. Die Ankündigung Miros, dass der öffentliche Sektor im Interesse des Privatsektors stehe, ist nicht konsequent genug, da die führende Rolle des Staatssektors nicht durch die Führung in Frage gestellt werde . Die Bildung einer Kommission - für die Erörterung der Modernisierung des Banksystems und Einführung der privaten Banken - ist ein bescheidener, aber wichtiger Anfang.

Die Stagnation und die Verknöcherung der Strukturen ist vor allem auch im Bereich der Politik sichtbar. Asad stellte zu keiner Zeit die in der Verfassung von 1973 verankerte Führungsrolle der regierenden Ba'th-Partei in Staat und Gesellschaft (Art. 3) infrage. Die 1972 gegründete Nationale Progressive Front diente eher zur Legitimation des Regimes. Sie hat seit ihrer Gründung nie eine selbstständige Politik betrieben. Zudem marginalisierte Asad die mit ihm koalierenden Parteien durch das Prinzip der Spaltung und der Integration, so dass aus den vier Parteien, die 1972 die Nationale Progressive Front mit der Ba'th-Partei gründeten, weitere drei hervorgingen. Die Volksversammlung war eine zweite Möglichkeit für die Kooptation der politischen Kräfte. Neben den erwähnten Parteien der Nationalen Progressiven Front erhielten die "Unabhängigen" seit den Parlamentswahlen von 1990 etwa 35 Prozent der 250 Sitze.

Die Stabilität des Systems beruhte nicht nur auf der ideologischen Legitimation, sondern auch auf den viel zitierten berüchtigten und vielfältigen syrischen Geheimdiensten. Das System Hafiz al-Asads stützte sich vor allem auf die traditionelle Solidarität seiner alawitischen Gemeinschaft, die etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht. Die Loyalität der alawitischen Offiziere innerhalb der Armee, in den Geheimdiensten, aber auch in der Partei war die Hauptsäule der Stabilität des Systems.

Die Frage des Nachfolgers des seit den achtziger Jahren erkrankten Asads ging daher mit der Aufrechterhaltung der angedeuteten Strukturen einher. Zwei Ereignisse waren für Vorstellungen Asads hinsichtlich der Nachfolgefrage von primärer Bedeutung: Die Nachfolgefrage ergab sich erstmals im Herbst 1983, als Hafiz al-Asad schwer erkrankte und sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Ein sechsköpfiges Gremium unter der Beteiligung seines Bruders Rifa'at al-Asad, des damaligen Ministerpräsidenten Abd al-Ra'uuf al-Kasim sowie des Außenministers Abd al-Halim Khaddam sollte ihn vertreten. Rifa'at al-Asad fürchtete jedoch eine Machtverschiebung zum Nachteil der Alawiten. Konsequenterweise sammelte er die alawitischen Offizier um sich und versuchte, mit Hilfe der unter seinem Befehl stehenden Verteidigungsbrigaden (Saraiya al-Difa') die Macht an sich zu reißen. Die Offiziere versagten ihm jedoch auf Druck des erkrankten Staatspräsidenten die Gefolgschaft. Vom Krankenbett aus leitete Hafiz al-Asad die Entmachtung seines Bruders ein. Asad, der sich einst auf die Kampfbrigaden seines Bruders in der Auseinandersetzung mit den Islamisten verlassen konnte, hatte nun allen Grund zu der Befürchtung, dass sein Bruder ihn entmachten und dadurch den behutsam aufgebauten Machtzuwachs der Alawiten in Gefahr bringen könnte.

Diese Ereignisse werden unterschiedlich interpretiert; eines scheint jedoch sicher zu sein: Asad war nun alarmiert, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Der Aufbau seines älteren Sohnes Basil zum Nachfolger hatte höchste Priorität. Der unerwartete Unfalltod Basils im Jahr 1994 zwang den Präsidenten dazu, seinen zweitältesten Sohn für die Übernahme des Präsidentenamtes vorzubereiten. Seit Mitte der neunziger Jahre wurde Bashar al-Asad systematisch aufgebaut. Seitdem wird die Aura des Modernisierers und des Saubermanns um ihn verbreitet. Die Modalitäten für die Machtübernahme durch Bashar beschränkten sich nicht nur auf den eher symbolischen Offizierslehrgang und den Vorsitz der "Syrischen Gesellschaft für Information". Darüberhinaus wurden in den letzten zwei Jahren alle möglichen Konkurrenten ausgeschaltet, so unter anderem auch Asads Bruder Rifa'at, der 1998 sein Amt als Vizepräsident verlor. Er ging daraufhin ins Exil. Im Herbst 1999 wurde sein Besitz in Syrien gewaltsam beschlagnahmt.

IV. Bashar al-Asad: Wandel ohne Diskontinuität?

Die Machtübernahme durch Bashar al-Asad war nach dem Ableben seines Vaters eher eine Formsache. Das Drehbuch lag längst vor. Zwei Fragen scheinen aber trotz der problemlosen Machtübernahme für die Zukunft des Systems von großer Bedeutung zu sein. Zum einen, ob Bashar al-Asad gewillt und in der Lage ist, die Herausforderungen des schweren Erbes zu bewältigen. Dies hieße, das Land zu modernisieren und das System politisch und wirtschaftlich zu öffnen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob er den Friedensprozess als eine wichtige Prämisse für den umfassenden Wandel fortführen wird. Diese Fragen scheinen in einem engen Zusammenhang mit der Zukunft seiner Herrschaft zu stehen.

In seiner Rede zum Amtsantritt bezog Bashar al-Asad Stellung zu den Herausforderungen und zu den Reformplänen, die er in der nächsten Zeit in Angriff nehmen wird . Er deutete in seiner Rede an, dass er künftig zwei Leitlinien in seiner Politik verfolgen wird: einerseits eine Erneuerung und Modernisierung aller Lebensbereiche und andererseits die Anpassung der bewährten Konzepte und Ideen an die Erfordernisse der Zeit. Der neue Präsident machte bei der Bewertung dieser Leitprinzipien einen Unterschied zwischen der erfolgreichen politischen Strategie des verstorbenen Präsidenten und der weniger erfolgreichen Wirtschaftspolitik, die er, Hafiz al-Asad, nicht selbst geleitet habe. Nicht anders als erwartet, plädierte der neue Präsident für eine Ermutigung und Motivierung der inländischen und ausländischen Investoren. Der öffentliche Sektor soll konkurrenzfähig gemacht werden. Der "westlichen Demokratie" erteilte Bashar al-Asad eine klare Absage. Syrien solle sich auf eigene Erfahrungen beziehen: "Unsere Nationale Progressive Front basiert auf einem demokratischen Modell, das im Rahmen unserer eigenen Erfahrungen entstanden ist. Sie spielte eine fundamentale Rolle in unserem politischen Leben und zur Bewahrung unserer nationalen Einheit." Der neue Präsident betonte im Zusammenhang mit den innenpolitischen Umgestaltungen die Reform der Verwaltung und den Abbau des bürokratischen Apparates. In der Regional- und Friedenspolitik unterstrich Bashar al-Asad die besonderen Beziehungen mit dem Libanon und die Bereitschaft Syriens, Frieden mit Israel zu schließen, wenn die Grenzen vom 4. Juni 1967 als Grundlage für einen Friedensvertrag von Israel akzeptiert werden.

Die Vorstellungen des neuen Präsidenten über die Umgestaltung scheinen tatsächlich, wie die Kritiker des Systems es formulieren, eher kosmetisch zu sein . Bashar al-Asad thematisierte vor und nach der Machtübernahme die Fragen der Korruption und der Modernisierung bzw. der Einführung von neuen Kommunikationsmedien. Die Bekämpfung der Korruption war auch der Anlass für die Entlassung des ehemaligen Ministerpräsidenten Muhammad al-Zu'bi im März 2000. Al-Zu'bi wurde persönlich für die Stagnation und Korruption verantwortlich gemacht. Er beging nach seinem Ausschluss aus der Ba'th-Partei Selbstmord. Im Rahmen dieser Kampagne wurden einige Exminister, hohe Offiziere und Ba'th-Parteifunktionäre verhaftet bzw. vom Dienst suspendiert. Abgesehen von einigen "Bauernopfern" wurden jedoch die Mitglieder der "alten Garde" um den verstorbenen Präsidenten nicht angetastet . Das Instrument der Kampagne gegen Korruption wurde in Syrien in den siebziger und achtziger Jahren wiederholt eingesetzt. Unter der Voraussetzung der fehlenden Gewaltenteilung, des Notstandsrechts und der Verflechtung der Staatsklasse mit dem wirtschaftlichen Staatssektor hatten diese Kampagnen nur vorübergehenden Charakter. Zwei Monate nach der Machtübernahme durch Bashar al-Asad scheint die Kampagne bereits verebbt zu sein.

Die Umstrukturierung der Ba'th-Partei, die seit der Amtsübernahme durch Bashar al-Asad vorgenommen wird, dient vermutlich eher der Effizienz des Parteiapparates, der von Hafiz al-Asad zugunsten anderer Institutionen, vor allem der Geheimdienste, vernachlässigt worden war. Die versprochene Anpassung der "Nationalen Progressiven Front" beschränkt sich bislang auf die im Oktober 2000 erteilte Erlaubnis zur Öffnung von Büros für die Frontparteien. Diese Parteien bleiben aber 28 Jahre nach der Gründung der Front juristisch illegal, da seit der Machtübernahme durch die regierende Ba'th-Partei kein Parteiengesetz verabschiedet worden ist. Die Frontparteien sind vom guten Willen der Staatsführung abhängig. Ein nicht unbedeutender Faktor ist die Frage nach der Haltung des Präsidenten zur alten Garde, die seinen Vater dreißig Jahre auf seinem Weg zum absoluten Herrscher Syriens begleitete.

Die in Syrien entstandene Konstellation unterscheidet sich von der, die sich in Jordanien nach dem Tode König Husseins bildete. Der neue jordanische König hat eher die Handhabe, sich der alten Garde zu entledigen. Da die Stabilität der haschemitischen Herrscher, die selbst keine autochthone jordanische Gruppe sind, auf der Partizipation der Vertreter der traditionellen ethnischen und religiösen Gruppen an der Macht beruht, kann der junge König die alte Garde durch junge Vertreter der erwähnten Gruppen ersetzen. Eine angemessene Beteiligung der Palästinenser bleibt noch eine offene Frage, auch wenn ihre Zahl im Sommer 2000 unter der neu gegründeten Regierung Abu al-Raghib zugenommen hat. Die Ziele des neuen Königs, der sich ebenfalls der verkrusteten Strukturen entledigen will, konzentrieren sich auf die Demokratisierung, Liberalisierung und Privatisierung. König Hussein legte schon Ende der achtziger Jahre die Grundlagen für die Verwirklichung dieser Ziele. Allerdings scheint die politische Gleichberechtigung des palästinensischen Bevölkerungsteils die größte Herausforderung für König Abdallah zu sein.

In Syrien kann Bashar al-Asad die mächtige alawitische Gruppe innerhalb der Armee und im Staatsapparat nicht entmachten, um sie durch eine jüngere, weniger korrupte Gegenelite zu ersetzen, da sie die Grundlage seiner eigenen Macht ist. Die inneralawitischen Differenzen könnten der Anfang einer Marginalisierung sein. Hafiz al-Asad hat u. a. seinen Bruder Rifa'at al-Asad deshalb aus dem Zentrum der Macht entfernt, weil er die Gefahren möglicher inneralawitischer Zwistigkeiten bemerkte. Die sunnitischen Angehörigen der alten Garde kann er ebenso wenig entmachten, da die enge Verflechtung dieser Politiker mit dem System dies nicht zulässt. So konnte der ehemalige Stabschef der syrischen Armee, Hikmat Shihabi, nachdem die syrische Presse über seine Verwicklung in Korruptionsskandale berichtet hatte und er sich infolgedessen in die USA absetzte, im Juli 2000 unbehelligt nach Damaskus zurückkehren. Asad soll dem Präsidenten der Volksversammlung, Abd al-Qadir Qaddura, anvertraut haben: "After my father passed away, I learned the value of the organization he left behind."

Bashar al-Asad hat auf dem Parteitag der regierenden Ba'th-Partei im letzten Juni durchgesetzt, dass korrupte Personen, die für das Regime zu einer Belastung geworden waren, nicht wiedergewählt wurden. Ferner hat er auch einige Provinzfunktionäre entlassen. In der Führung der Massenmedien kam es ebenfalls zu Entlassungen und Umsetzungen. Diese Maßnahmen tragen offensichtlich nicht zu einer Veränderung der Strukturen bei, die seit Jahrzehnten die Ursache für Stagnation und Korruption sind. Solange der Staat eine führende Rolle in der Wirtschaft spielt und die Privatisierung der maroden Staatsunternehmen verhindert wird, scheint eine Reformpolitik kaum durchführbar. Hinzu kommt, dass unter dem verstorbenen Präsidenten Netzwerke entstanden sind, die die Korruption und die Vetternwirtschaft zu einer allgemein gültigen Norm gemacht haben .

Auf dem Feld der Regionalpolitik verfügt der neue Präsident über eine gewisse Bewegungsfreiheit. Er ist nicht wie sein Vater mit einer schweren Hypothek und Verwicklung belastet. Die Beziehungen Syriens mit Jordanien und auch die mit Arafat sprechen von einem neuen Anfang. Strategisch bleiben die Beziehungen mit Ägypten, aber vor allem mit Saudi-Arabien bzw. mit anderen Staaten des Golfkooperationsrates, die Syrien seit Jahrzehnten finanziell unterstützen, von zentraler Bedeutung. Syrien kann nur in der Kooperation mit Ägypten und Saudi-Arabien eine starke arabische Achse bilden. Dies war nach dem Yom-Kippur-Krieg und nach dem Zweiten Golfkrieg der Fall.

Neben der Festigung seiner Herrschaft wird die Haltung des neuen Präsidenten zum nahöstlichen Friedensprozess insgesamt und insbesondere zum israelisch-syrischen Konflikt höchstwahrscheinlich der bestimmende Faktore für die syrische Politik sein. Die politische Stabilität und damit die ökonomische Prosperität hängen mit der Beilegung des bilateralen und regionalen Konflikts zusammen. Bei den beiden israelisch-syrischen Verhandlungsrunden wurde von israelischer Seite stets auf die mangelnde Gesundheit Hafiz al-Asads spekuliert. Der Präsident, so hieß es damals, habe keine andere Wahl, als den Konflikt vor seinem Tode zu regeln, zumal der designierte Nachfolger sein eigener Sohn war. Dies implizierte, dass der Präsident allein die Macht dazu hatte, den Frieden mit Israel gegenüber internen und externen Gegnern der Konfliktbeilegung durchzusetzen. Dieser Gedanke war nicht falsch. Asad hätte gern den Konflikt mit Israel zu seinen Lebzeiten geregelt, um die Machtübernahme durch seinen Sohn nicht zu belasten. Er war aber nicht bereit, um jeden Preis Frieden mit Israel zu schließen.

Bashar al-Asad hat erwartungsgemäß nach seiner Wahl und in seiner Rede zur Amtsübernahme seine Bereitschaft erklärt, für den Fall, dass Israel die Grenzen vom 4. Juni 1967 akzeptieren würde, die Verhandlungen wieder aufzunehmen und Frieden zu schließen . Die Tatsache, dass Syrien bisher noch keinen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen hat, ist momentan die Ursache dafür, dass Syrien keinen vergleichbaren innenpolitischen Druck spürt, wie er in Jordanien und Ägypten aufgrund ihrer Kontakte zu Israel spürbar ist. Da der Frieden für Syrien unter der Herrschaft Hafiz al-Asads, und vermutlich auch unter der seines Sohnes nur einen Wert im Kontext der Systemstabilität hat, wird es zu keiner baldigen Entscheidung kommen, auch wenn Israel die Grenzen vom 4. Juni 1967 akzeptieren würde.

V. Zusammenfassung

Durch das Ableben Hafiz al-Asads wird Syrien als eine aktive, berechenbare und konsequente Regionalmacht voraussichtlich seinen Rang in der Regionalpolitik zumindest kurzfristig nicht behaupten können. Der verstorbene syrische Präsident hat ein strenges, stabiles, aber wenig dynamisches innenpolitisches Regime aufgebaut. Ferner hat er es verstanden, Syrien unter den besonderen historischen Bedingungen im Schatten des bipolaren Weltsystems als Regionalmacht zu etablieren. Innenpolitisch und wirtschaftlich erstarrte das System jedoch. Hafiz al-Asad scheint geglaubt zu haben, dass jedwede Veränderung zur Machtverschiebung und zum Machtverlust führen könne. Die konfessionalistische Struktur des Systems war wahrscheinlich ein bestimmender Faktor, der den Willen zu Reformen bei Asad schwächte. Liberalisierung, Demokratisierung und Partizipation könnten ein "Schreckgespenst" für das autoritäre System Hafiz al-Asads gewesen sein. In der Außenpolitik gelang es dem alten Präsidenten, sich z. B. trotz regionaler und internationaler Widerstände im Libanon festzusetzen. Die neunziger Jahre brachten neue Herausforderungen. Das Ende des globalen bipolaren Systems bedeutete für Hafiz al-Asad den Verlust des bisherigen Partners, der Sowjetunion. Asad versuchte durch seine Haltung im Zweiten Golfkrieg, aber vor allem durch die Teilnahme am Friedensprozess einen flexiblen außenpolitischen Kurs einzuschlagen. Der Friedensprozess war die größte Herausforderung, mit der Asad in seiner sehr langen Karriere als Offizier und Politiker konfrontiert war. Er war wahrscheinlich prinzipiell dazu bereit, Frieden mit dem Erzfeind zu schließen. Er wollte zum einen eine Garantie für die vollständige Rückgabe des Golans. Zum anderen sollten seine Bedingungen - die Gleichberechtigung der Partner und die Reziprozität der Schritte - erfüllt werden. Asad war nicht dazu bereit, auch nur einen Hauch von Unterlegenheit zu akzeptieren. Der von syrischen Massenmedien seit 1994 propagierte "Frieden der Mutigen" bezog sich an erster Stelle auf Hafiz al-Asad, den starken Friedenspartner. Vermutlich wäre aber eine rasche und umfassende Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Konfliktpartnern, auch wenn Israel die von Rabin gemachte Zusicherung anerkannt hätte, von Asad nicht erfüllt worden. Es ist nicht völlig falsch, wenn behauptet wird, dass die unnachgiebige Haltung Israels in der Grenzfrage den Syrern nicht ganz ungelegen kam.

Asads Tod hat in Syrien keine Systemkrise ausgelöst. Sein Nachfolger Bashar al-Asad hat keine andere Wahl, als das schwere Erbe seines Vaters so zu gestalten, dass es für seinen angestrebten Machtzuwachs nützlich wird. Der jordanische König Abdallah II., der vor der Machtübernahme durch Bashar al-Asad mit diesem in regem Kontakt stand, glaubt, dass Bashar viel von seinem Vater gelernt hat. Sollte dies der Fall sein, so wird er bei der Verwaltung des Erbes keinen grundlegenden Wandel anstreben. Sein Vater hat durch die staatlichen Massenmedien Berichte verbreiten lassen, die ihm die Aura eines Reformers und Modernisierers verliehen. Der junge Asad ist scheinbar der Ansicht, dass das Mittel der Antikorruptionskampagne, ein immer wieder unter der Herrschaft seines Vaters genutztes Instrument, sowie die Hervorhebung der Notwendigkeit der Modernisierung ohne politische Reformen möglich seien. Aus diesem Grund ist es denkbar, dass die alte Garde sich noch lange der Machtausübung erfreuen kann. Bashar, der mit dem Ordnen des syrischen Hauses beschäftigt ist, wird höchstwahrscheinlich kaum den Friedensprozess primär auf seine politische Agenda setzen. Es sei denn, dass der Friedensprozess regional wieder in Gang kommt oder die Stabilität des Systems einen Friedensvertrag mit Israel erforderlich macht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Daniel Pipes, "Zwei Teams" im Nahen Osten, in: Internationale Politik, (1999) 7, S. 17-24.

  2. Vgl. Volker Perthes, The Peace Process, Relation with Lebanon, and Domestic Change, in: ders. (Hrsg.), Scenarios for Syria. Socio-Economic and Political Choices, Baden-Baden 1998, S. 111-126.

  3. Vgl. Patrick Seale, The Syria-Israel Negotiations: Who is telling the truth?, in: Journal of Palestine Studies, XXIX (2000) 2, S. 65-77.

  4. Vgl. dazu Itamar Rabinovich, The Brink of Peace, Princeton 1998, S. 104 f.

  5. Vgl. Walid al-Moualem, Fresh Light on the Syrian-Israeli Peace Negotiations, in: Journal of Palestine Studies, XXVI (1997) 2.

  6. Al-Hayat vom 23. 6. 1999, zit. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1999) 7, S. 123.

  7. Vgl. Patrick Seale, Asad of Syria: The Struggle for the Middle East, London 1988.

  8. Zur englischen Zusammenfassung der Beiträge von Patrick Seale vgl. ders. (Anm. 3), S. 65-77.

  9. Vgl. al-Hayat vom 31. 10. 1999.

  10. Vgl. Patrick Seale, in: al-Hayat vom 21. 11. 1999.

  11. Vgl. ders., in: ebd. vom 24. 11. 1999.

  12. Vgl. ders., in: ebd. vom 22. 11. 1999.

  13. Vgl. Salman Abu Sinna, Aiyu huddud baina Suriya wa Israil? (Welche Grenze zwischen Syrien und Israel?), in: al-Hayat vom 20. 8. 1999.

  14. Vgl. P. Seale (Anm. 12).

  15. Vgl. al-Hayat vom 22. 11. 1999.

  16. Vgl. dies. vom 14. 1. 2000.

  17. Der Spiegel, Nr. 28/1995.

  18. Vgl. International Finance Cooperation, Country Profile: Syrian Arab Republic. http://www.ifc.org/camena/syria.htm; World Bank, World Development Report 1999/2000, S. 272 ff.

  19. Vgl. al-Hayat vom 16. 11. 1998.

  20. Vgl. ebd. vom 17. 3. 1998.

  21. Vgl. Tishrin vom 18. 7. 2000.

  22. Vgl. die Rede Bashar al-Asads, in: Tishrin vom 18. 7. 2000.

  23. Ebd.

  24. Vgl. Middle East International vom 1. 9. 2000, S. 14.

  25. Vgl. Mahmud Sadiq, Hiwar hawla Suriya (Dialog über Syrien), Kairo 1994; Hans Günter Lobmeyer, Opposition und Widerstand in Syrien, Hamburg 1995.

  26. Bashar consolidates, in: Middle East International vom 1. 9. 2000

  27. Vgl. zur grassierenden Korruption und Korruptionsnetzwerken Mahmud Sadiq, Hiwar hawla Suriya (Dialog über Syrien), Kairo 1994.

  28. Vgl. Tishrin vom 18. 7. 2000.

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Dr. phil. habil., geb. 1950; außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, z. Z. Professor für westasiatische Geschichte an der Universität Erfurt.

Anschrift: Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichte, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt.
E-Mail: ferhad.ibrahim@uni-erfurt.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zur Politik- und Zeitgeschichte des Vorderen Orients, zuletzt: (Hrsg. zus. mit Gülistan Gürbey) The Kurdish Conflict in Turkey. Obstacles and Chances for Peace and Democracy, Münster-New York 2000.