Die Entwicklung des deutschen Korporatismus
II. Korporatismus als Politikmuster
Verbände und Interessengruppen wurden in der Forschung und Politik lange Zeit als Akteure angesehen, die - lediglich auf ihr spezielles Partikularinteresse orientiert - staatliches Handeln und Gesetzgebung zu beeinflussen suchen. Die ältere Staats- und Demokratietheorie stand der wachsenden Zahl der Interessengruppen aus diesem Grund mit starkem Misstrauen gegenüber und befürchtete, dass Verbände sich den auf Gemeinwohl bedachten Staat zur Beute machen könnten [6] . Der Neopluralismus, der in Deutschland vor allem von Ernst Fränkel verbreitet wurde, nahm jedoch eine modifizierende Position ein. Aus dem "kollektiven Tauziehen" der Interessengruppen entstehe ein "Parallelogramm miteinander ringender Kräfte", wobei den politischen Parteien die Aufgabe zukomme, den sich hierin ausdrückenden "gestreuten Gruppenwillen" der Verbände in den Prozess der politischen Willensbildung einzugliedern [7] . Wenn auch der Neopluralismus den Beitrag der Verbände zum Gemeinwohl nicht mehr grundsätzlich in Abrede stellte, blieb seine Perspektive doch begrenzt auf eine relativ eindeutig gerichtete Beziehung zwischen Verbänden und Staat. Ab Mitte der siebziger Jahre kam es zu einem Perspektivenwechsel in der Verbändeforschung. Verbände-Staat-Beziehungen wurden nicht mehr als Einbahnstraßen angesehen, die der Politik abverlangen, auf Verbändedruck zu reagieren, sondern als geordnete, dauerhafte Beziehungen, in denen es nicht nur den Druck der Verbände, sondern auch das Ziehen des Staates gibt. Dieser Paradigmenwechsel [8] in der Verbändeforschung zum Korporatismus wurde vor allem durch die beiden Sammelbände von Gerhard Lehmbruch und Philippe Schmitter befördert [9] und ging auf die Beobachtung zurück, dass Verbände in starkem Maße unmittelbar in Entscheidungsprozesse eingebunden sind und den Staat durch ihre Beteiligung an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben entlasten [10] . Aus dieser Verschränkung von Verbänden und Staat ergeben sich spezifische Austauschbeziehungen, die durch Aushandlung gekennzeichnet sind und bei Erfolg zu einer Konzertierung, also einem abgestimmten Handeln der beteiligten Interessengruppen und des Staates führen.Derartige Arrangements können nur unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein. Zentral ist, dass die Verbändelandschaft durch ein System individueller Organisationen gekennzeichnet ist, die mehr oder minder über Repräsentationsmonopole verfügen und in der Lage sind, ihre Mitglieder auch auf das in der Konzertierung vereinbarte Handeln zu verpflichten. Schmitter hat vor allem diese Strukturkomponente (Monopolverbände, hierarchisch organisiert) als Definitionskriterium für Korporatismus hervorgehoben [11] . Allerdings werden derartige Strukturen nicht zwingend auch tatsächlich im Sinne korporatistischer Tauschprozesse genutzt. Lehmbruch hat daher zu Recht darauf verwiesen, dass erst die politische Nutzung derartiger Strukturen den Korporatismus kennzeichnet, wenn er als politischer Prozess eigener Art mit dem Ziel der Konzertierung von Interessen begriffen werden soll [12] . Der politische Tausch in korporatistischen Arrangements beruht dabei auf der Logik, dass durch die Einbindung einer begrenzten Zahl von Akteuren, die aber eine umfassende Repräsentanz darstellen, der Koordinationsaufwand gering gehalten und Konflikte minimiert werden können. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass die Großorganisationen ein Eigeninteresse daran haben, sich auf gesamtgesellschaftliche Ziele verpflichten zu lassen. Im Gegensatz zu kleinen Organisationen müssen sie nämlich davon ausgehen, dass eine unabgestimmte Interessendurchsetzung Folgen haben kann, die ihren Interessen zuwiderlaufen [13] , wie z. B. Überlegungen zur Preis-Lohn-Spirale oder Lohn-Preis-Spirale verdeutlichen. Zum anderen bieten umfassende Organisationen gegenüber einer Vielzahl von Verbänden mit jeweils anteiliger Vertretungsmacht den Vorteil, dass sie wegen ihres Vertretungsmonopols auch weitgehend die Verpflichtungsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedern garantieren können. Letztlich erweitern umfassende Organisationen das politische Steuerungspotential stärker als kleine und kompensieren damit die Leistungsgrenzen unmittelbarer staatlicher Steuerung. Kernbereiche korporatistischer Austauschlogik sind traditionell die Politikfelder Wirtschaft und Arbeit, in denen, unter Berücksichtigung makroökonomischer Zielvorgaben, zum Beispiel Löhne, Investitionen, Arbeitsplätze und fördernde politische Rahmenbedingungen zwischen Arbeitgeber- bzw. Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Staat ausgehandelt werden.