Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Regieren in der Europäischen Union | Europapolitik - EU | bpb.de

Europapolitik - EU Editorial Machtteilung und Machtverschränkung in Deutschland Deutsche Europapolitik 2000 Die Landtage vor der Herausforderung Europa Regieren in der Europäischen Union

Regieren in der Europäischen Union Auf der Suche nach demokratischer Legitimität

Beate Kohler-Koch

/ 23 Minuten zu lesen

Die für dieses Jahr angesetzte Regierungskonferenz soll eine Vereinbarung über institutionelle Reformen bringen. Damit soll sichergestellt werden, dass die mit zusätzlichen Aufgaben betraute EU regierungsfähig bleibt.

I. Antriebskräfte der konstitutionellen Entwicklung

Regieren, d. h. die bewusste Steuerung einer Gesellschaft durch die Klippen interner und externer Herausforderungen, überfordert heutzutage ganz offenkundig die nationalen Regierungen. Globalisierung ist das geläufige Stichwort, um anzuzeigen, dass der Zuschnitt der Probleme und die Reichweite der politischen Regulierung nicht mehr zueinander passen. Die europäischen Staaten suchen Abhilfe durch Integration. Die Frage ist nur, ob bei der zunehmenden Verlagerung von Regierungskompetenzen auf die EU den Ansprüchen auf effizientes und demokratisch kontrolliertes Regieren gleichermaßen Rechnung getragen wird.

Nach den Verlautbarungen von Regierungen und Europäischer Kommission geht es gleichermaßen um die Stärkung politischer Handlungsfähigkeit und um "Bürgernähe". Doch die Qualität einer Verfassungsentwicklung sollte man nicht einfach am guten Willen der Beteiligten messen. Vielmehr müssen die tatsächlichen Handlungsstrategien und strukturellen Rahmenbedingungen, die die Umsetzung institutioneller Reformen in eine konkrete Verfassungswirklichkeit kanalisieren, analysiert werden. Erst die genaue Diagnose der voraussehbaren Entwicklung erlaubt Vorschläge zur Therapie. Die These dieses Beitrags ist, dass die Verfassungsentwicklung der EU das Ergebnis von institutioneller Eigendynamik und gezielten Eingriffen ist, die einerseits eindeutig von Interessen geleitet sind, andererseits aber auch Ausdruck wenig reflektierter "institutioneller Mythen". Die Regierungskonferenzen der letzten Jahre, in denen die Verträge fortgeschrieben wurden, haben uns allen vergegenwärtigt, dass die Mitgliedstaaten die "Herren der Verträge" sind. Deutlich ist dabei auch, dass es die Vertreter der Exekutive sind - nämlich Regierungen und Europäische Kommission -, die die Kompromisse über institutionelle Reformen unter sich vereinbaren. Parlamente und Bürger haben das letzte Wort, aber ihnen verbleibt nur die Wahl zwischen Annahme oder Ablehnung.

Die verfassungspolitischen Eingriffe "von oben" werden durch Institutionenwandel "von unten" ergänzt. Die lebende Verfassung der EU wird in hohem Maße durch das Handeln der Organe der Gemeinschaft geprägt. Sie sind zwar an die bestehenden Verfassungsnormen gebunden, doch durch die Art und Weise, wie sie sich innerhalb des vorgegebenen konstitutionellen Rahmens bewegen und welchen Sinn sie den institutionellen Vorgaben vermitteln, können sie die Verfassungswirklichkeit verändern. Vorgaben sind interpretationsfähig, und Routinen schleifen sich in der täglichen Praxis ein; sie geben der institutionellen Wirklichkeit ein anderes Gesicht. Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission und das Europäische Parlament Parteigänger im institutionellen Wandel sind, die für sich oder in Koalition die institutionelle Entwicklung in die erwünschte Richtung treiben. Manchmal geschieht dies durch formelle inter-institutionelle Vereinbarungen, meistens aber informell durch die praktische Handhabung von Vertragsregeln gemäß dem eigenen Rollenverständnis. Wie das Europäische Parlament seine Rolle beim Rücktritt der Kommission Anfang 1999 interpretiert und welche politischen Forderungen es daraus abgeleitet hat, bietet ein lehrreiches Anschauungsmaterial für die Kraft der Suggestion .

Das Handeln der Gemeinschaftsorgane ist wichtig, aber nicht allein entscheidend. Eine lebendige Verfassung entwickelt sich nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie politische Gremien und Gesellschaft interagieren. Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft erschließen sich aktiv den europäischen politischen Raum; sie versuchen, ihrem Anliegen eine "Stimme" zu geben und sich Zugang zum Entscheidungsprozess der EU zu verschaffen. Es entwickeln sich spezifische Muster der Interessenvermittlung, Machtkonstellationen verfestigen sich oder werden aufgelöst, Vorstellungen über sachgemäße Maßnahmen und rechtmäßige Politik verschieben sich und prägen europäisches Regieren. Mit anderen Worten: Die Verfassungsentwicklung der EU wird ebenso von gezielten konstitutionellen Vereinbarungen in Regierungskonferenzen vorangetrieben wie von informellen Arrangements zwischen den Organen mit ihrem institutionellen Eigeninteresse sowie von der täglichen Praxis der Interaktion von Gesellschaft und Politik.

II. Institutionenpolitik - ein Spiegel institutioneller Interessen

1. Die Perspektive der Exekutive

Das politische Anliegen der Exekutive lässt sich mit zwei Schlagworten auf den Begriff bringen: Es geht um Output-Legitimität und wohlwollende Duldung . Regierungen sahen sich in den letzten Jahren mit ihrer Politik einer zögerlichen oder gar widerstrebenden Öffentlichkeit gegenüber. Alle Meinungsumfragen belegen eine deutliche Kluft zwischen politischen Entscheidungsträgern und den Bürgern; Vertiefung und Erweiterung der EU sind eindeutig eine Angelegenheit der Elite. Man sucht die Bürger mit dem Verweis auf die vielfältigen Herausforderungen zu gewinnen, denen man nur durch eine Steigerung der eigenen Handlungsfähigkeit begegnen könne. Legitimität, so zeigt die genaue Lektüre der Papiere zur letzten Regierungskonferenz, ist aus der Sicht der Regierenden eine Frage von Leistung. Es geht um Vergrößerung der EU und im Blick auf die zukünftige Gemeinschaft der 25 oder 30 Staaten um die Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit. Alle Dokumente belegen: Effizienz genießt höchste Priorität.

Allerdings hat man auch aus den Referenden nach Maastricht gelernt und trägt dem Zögern der Öffentlichkeit Rechnung. "Bürgernähe" ist die Zauberformel, die man durch eine gezielte Informationspolitik und durch populäre politische Maßnahmen, wie die Aufnahme eines Beschäftigungskapitels in den EU-Vertrag, erreichen will.

2. Interesse und Selbstwahrnehmung des Europäischen Parlaments

Das Europäische Parlament (EP) geht von einem anderen Blickwinkel an konstitutionelle Fragen heran. Der Abbau des Demokratiedefizits steht im Mittelpunkt, und die Stärkung der eigenen Rolle wird als erfolgversprechendste Garantie gesehen, um den Bürgern die Gemeinschaft nicht nur nahe zu bringen, sondern ihnen auch ein Stück politischer Kontrolle zu gewähren. Es geht dem EP um die Stärkung des parlamentarischen Elements in der EU und um "the forging of a clear, strong and public link. . . between the choices made by Europe's citizens in the European election and the nomination of the Commission President" . Der normative Referenzpunkt ist ganz offensichtlich das parlamentarische Regierungssystem britischer Prägung. Dies ist nicht überraschend, denn hier kommt das institutionelle Eigeninteresse des EP ins Spiel. Das Europäische Parlament gewinnt mit jedem Schritt, der in Richtung Parlamentarisierung der EU geht.

Allerdings müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten um den Verlust ihrer Vorrechte und damit die nationalen Parlamente um die letzten Reste ihrer politischen Einflussmöglichkeiten fürchten. Sie beide haben gegenläufige institutionelle Interessen. Wie lässt sich dann ihre Bereitschaft, eine Stärkung des EP zu unterstützen, erklären? Der Schlüssel zur Erklärung liegt darin, dass die Lesart des EP vertraute Modellvorstellungen reproduziert und auf das generelle normative Postulat zurückgreift, nach dem alle Macht vom Volk auszugehen hat. Komplexe föderative Konstruktionen werden deshalb leicht zugunsten einer Konstruktion verworfen, die an das national Vertraute anknüpft. Es bleibt dann den Fachleuten überlassen, auf fehlende Voraussetzungen zu verweisen.

3. Die Kommission als Schaltstelle transnationaler Vernetzung

Die Reaktionen der Kommission auf die Vorschläge des EP waren ambivalent. Sie zeigte sich nicht sonderlich geneigt, eine Ausweitung der parlamentarischen Kontrolle zu unterstützen. Neben dem verständlichen Interesse, die eigene Autonomie vor dem Zugriff des EP zu wahren, ist ihr Zögern auch als Ausdruck eines alternativen Verfassungskonzepts zu verstehen. Das Modell der repräsentativen Demokratie konkurriert nämlich mit der Auffassung, dass die EU auch in absehbarer Zeit ein System eigener Art sein wird. Es ist ein Staatenverbund und damit im Wesentlichen ein Verhandlungssystem, in dem ein breiter Konsens gesucht wird, auf den man gemeinschaftliche Entscheidungen stützt. Den parteipolitisch geführten Meinungsstreit, der entzweien könnte, versucht man zu vermeiden und verlässt sich lieber auf die Überzeugungskraft guter Sachargumente.

Diese Position sollte man nicht einfach als technokratische Ideologie verwerfen, denn sie spiegelt einen Teil der heutigen Verfassungswirklichkeit, der die EU stärker prägt als das Modell der repräsentativen Demokratie. Die Kommission nimmt dank ihres Initiativrechtes, ihrer Rolle als "Hüterin" der Verträge und als Verwalterin umfangreicher Programme eine Schlüsselstellung im europäischen System ein. Sie stützt ihre Macht aber nicht auf das Parlament, sondern auf die direkte Zusammenarbeit mit politischen und gesellschaftlichen Akteuren der Mitgliedstaaten. Ihre Durchsetzungsfähigkeit verdankt sie einer Vernetzungsstrategie, die die einschlägigen Experten zusammenführt, um das notwendige Wissen für sachdienliche Lösungsstrategien zu mobilisieren, und die die direkt Betroffenen zu Wort kommen lässt, um hinreichende Akzeptanz zu sichern.

Sie hat so ein ausgefeiltes System des "Regierens im Netzwerk" entwickelt. Indem sie öffentlichen und privaten Akteuren den Zugang ermöglicht, hat sie sowohl die Qualität ihrer eigenen Vorschläge als auch die Bürgernähe der Gemeinschaftspolitik verbessert. Sie hat wirksame Verfahren entwickelt, um die Expertise externer Akteure zu mobilisieren und die Adressaten ihrer Politik einzubinden. Die Entwicklung des "Partnerschaftsprinzip" ist ein gutes Beispiel für die Vernetzungsstrategie der Kommission. Es erlaubt die direkte Mitwirkung der Politikadressaten und verspricht eine bessere Anpassung der Gemeinschaftsprogramme an die Bedürfnisse der Betroffenen. Die Intention dieser Politik ist eindeutig: Es geht darum, ein höheres Maß an Effizienz und an Bürgernähe zu erreichen.

"Regieren im Netzwerk" ist ein Modus des Regierens, der einem "Staatenverbund" besonders angemessen erscheint. Demokratische Legitimität wird im Staatenverbund immer noch weitgehend von den Regierungen erwirtschaftet. Die den Regierungen zuarbeitende Kommission beansprucht in dieser Verfassungskonstruktion keine eigene demokratische Qualität ihres Handelns. Sie trägt zur Legitimität des Gesamtsystems bei, wenn sie Verfahren entwickelt und stützt, die den "deliberativen" Charakter politischer Entscheidungsprozesse fördern, politisches Handeln auf institutionalisierte Normen hin ausrichten und der Repräsentation funktionaler Interessen Raum geben.

III. Kritische Bestandsaufnahme der europäischen Verfassungsperspektiven

Fazit ist, dass die Strategien der wichtigen Entscheidungsträger, ihre Ideen und Interessen in ganz unterschiedliche Richtungen weisen und der Verfassungsentwicklung widersprüchliche Impulse geben. Wie ist nun die europäische Verfassungsentwicklung aus normativem Blickwinkel zu beurteilen? Normativer Maßstab ist, dass auch die Politik der EU der demokratischen Legitimität bedarf. Handlungsfähigkeit im Interesse der Bürger reicht nicht aus. Demokratisch legitimiert ist Herrschaft nur, wenn politische Verantwortung auch institutionell verankert ist. Es bedarf wirkungsvoller Mechanismen, die dem Bürger eine Stimme verleihen, damit er seine Interessen selbst zum Ausdruck bringen kann, sowie Sanktionsmittel, damit politische Akteure sich auch gehalten fühlen, diese zur Kenntnis zu nehmen.

Drei Thesen sollen die folgenden Überlegungen leiten: Erstens: Solange die EU über keine gleichwertige demokratische Legitimität wie die Mitgliedstaaten verfügt, ist jede Übertragung zusätzlicher Kompetenzen kritisch abzuwägen. Eine schleichende Tendenz zur Zentralisierung wäre höchst bedenklich, weil sie keinen Raum für eine politisch bewusste Entscheidung lässt. Zweitens: Jeder Schritt hin zu einer Parlamentarisierung der EU muss sich daran messen lassen, ob man damit dem Ziel einer funktionierenden repräsentativen Demokratie näher kommt. Wenn nicht, so bestünde die Gefahr, dass man demokratische Illusionen nährt und faktisch das Demokratiedefizit nur vergrößert. Drittens: "Regieren im Netzwerk" schöpft seine Legitimität aus den Versprechungen "deliberativer Demokratie" . Funktionale Interessensrepräsentation und die Bindung politischer Entscheidungen an sachverständige Erörterungen sind ein Kernelement des EU-Systems und haben ihm über Jahre Akzeptanz gesichert. Mangelnde Transparenz und Bürgerferne sind die geläufigen Kritikpunkte. Wenig bedacht ist bis jetzt, ob verbesserte Information und die Offenheit gegenüber Vertretern der "Zivilgesellschaft" , die in diesen Punkten Abhilfe schaffen könnten, den Ansprüchen demokratischer Kontrolle, die schließlich auf dem Prinzip der Gleichberechtigung des Zugangs beruht, gerecht würden.

1. Auf dem Weg zu einem "immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker"

Analysiert man den gegenwärtigen Entwicklungstrend europäischer Politik, so ist der Befund eindeutig. Wenn Regierungen vornehmlich daran interessiert sind, ihre Legitimität durch Leistung zu stärken, dann ist zu erwarten, dass weitere Kompetenzen auf die europäische Ebene übertragen werden. Dann ist jedoch die Stärkung der Entscheidungsfähigkeit des Rates umso dringlicher. Die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen stützt aber ihrerseits die Tendenz zur Zentralisierung.

Dasselbe gilt für die schrittweise Parlamentarisierung der Union. Das EP ist seiner Konstruktion und seinem Selbstverständnis nach eine föderale, eine "Bundes"-Institution. Es bezieht seine Legitimität aus der Vorstellung einer von nationalen Loyalitäten unabhängigen Vertretung der europäischen Bürger. Die Hoffnung ist, dass die transnationalen Parteibündnisse an Bedeutung gewinnen und ihrerseits dazu beitragen, dass politische Strömungen sich über nationale Grenzen hinweg organisieren können. Das EP ist immer wieder bemüht, die vielseitigen Hindernisse zu beseitigen, die - wie beispielsweise die unterschiedlichen Wahlsysteme - der Entstehung eines einheitlichen politischen Raums entgegenstehen.

Auch ein "Regieren im Netzwerk" trägt zur Vereinheitlichung des politischen Raums bei. Die Europäische Kommission übernimmt dabei eine aktive Rolle. Sie bindet soziale Akteure in den europäischen Entscheidungsprozess ein und schmiedet europaweite Interessenkoalitionen. Interessenvertretung in der parlamentarischen Demokratie ist vornehmlich nach dem Territorialprinzip organisiert, und dieser Organisationslogik entspricht die Konstruktion des Staatenverbundes. Interessenvermittlung entlang funktionaler Konfliktlinien trägt zur Transformation des Staatenverbunds zu einem Gemeinschaftssystem im Sinne eines die Staaten durchdringenden politischen Raumes bei.

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese hier aufgezeigten Entwicklungstrends sich fortsetzen werden: Zum einen, weil sie strukturell im Institutionensystem der Gemeinschaft angelegt sind. Zum anderen, weil der Trend zu immer weiterer Vergemeinschaftung dem Rollenverständnis wichtiger politischer Akteure entspricht. Das EP und die Kommission betrachten die Vertiefung der europäischen Integration als ihren wesentlichen Auftrag. Das alle Gemeinschaftsinstitutionen verbindende Stichwort heißt "das europäische Projekt vorantreiben" . Diese Zielvorstellung entspringt einem Denken in funktionalen Notwendigkeiten. Es wird auch von führenden Repräsentanten der europäischen Regierungen geteilt. Sie sehen ihren Auftrag darin, mit der Integration fortzufahren, um u. a. die Herausforderungen der Globalisierung zu meistern und die historische und moralische Verantwortung für die Stabilität der Nachbarstaaten zu übernehmen .

Die Problemdefinition ist unter den europäischen Eliten weitgehend einheitlich, und sie mündet in der Überzeugung, dass nicht weniger, sondern mehr Europa unsere Zukunft sei. Der Tenor in Regierungserklärungen und Parlamentsdebatten, aber auch in der Presse ist, dass Globalisierung und regionale Krisen den Integrationsprozess unaufhaltsam vorantreiben, ob die Mitgliedstaaten es nun wollen oder nicht : "Die Krise wurde somit zum Beschleuniger der Geschichte." Auch die alte "Spill-over"-Logik wird wieder bemüht: Die Aufgabe staatlicher Souveränität in Währungsfragen verlange als sachgemäße Konsequenz eine bessere Koordination oder gar eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Steuerpolitik, eine Anpassung der sozialen Sicherungssysteme und verstärkte gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung der strukturellen Arbeitslosigkeit.

2. Parlamentarisierung der EU: Abbau des Demokratiedefizits oder Verbreitung demokratischer Illusionen?

Die Klage über ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union ist wohl begründet: Wichtige politische Entscheidungen werden der Kontrolle der nationalen Parlamente entzogen, die Legitimationskette über die nationalen Regierungsvertreter im Rat ist lang und brüchig; bei Mehrheitsentscheidungen ist sie völlig unterbrochen. Die parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene durch das EP ist unzureichend mangels Kompetenz und schwacher Wählerbindung. Das Dilemma besteht nun darin, dass Demokratie eine voraussetzungsvolle Form politischer Herrschaft ist und somit institutionelle Reformen - beispielsweise eine Kompetenzerweiterung des EP - nicht genügen, um ein funktionsfähiges demokratisches System zu schaffen. Kluge Verfassungspolitik reicht nicht aus, damit die politische Willensbildung den Ansprüchen demokratischer Repräsentativität genügt . Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen wird übereinstimmend die Existenz eines europäischen "Demos", einer europaweiten Öffentlichkeit und einer transnationalen politischen Infrastruktur gezählt .

Dabei darf der Begriff des "Demos" nicht verwechselt werden mit der Vorstellung ethnischer "Abstammungsgemeinschaften". Mit "Demos" ist die Vorstellung von einer europäischen Gesellschaft verbunden, die sich trotz aller Meinungs- und Interessenunterschiede auf gemeinsame Grundrechte stützt, die allen Mitgliedern gleichermaßen zugestanden werden. Angesichts der gesellschaftlichen Heterogenität in einer EU mit 15, 25 oder mehr Mitgliedstaaten findet die Bereitschaft, allen europäischen Bürgern die gleichen Rechte zuzubilligen und sich einer einheitlichen Herrschaft zu fügen, ihre Grenzen. Die gleichen Freiheits- und Grundrechte werden gerne allen zuerkannt. Die Frage nach dem politischen Mitbestimmungsrecht löst schon eher Kontroversen aus. Soll nun das Prinzip des "one man, one vote" europaweit gelten, oder soll dem Anspruch der Nationen auf Selbstbestimmung dadurch entgegengekommen werden, dass bei der Stimmengewichtung den kleinen Mitgliedstaaten ein überproportionales Gewicht eingeräumt wird? Wie steht es mit den sozialen Gleichheitsrechten? Ist der Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität über nationale Grenzen hinaus in gleichem Maße durchzusetzen wie innerhalb der Mitgliedstaaten, und wenn dies nicht der Fall ist, bedeutet dies einen weitgehenden Verzicht auf soziale Rechte? Setzt man "Demos" mit der Bereitschaft zur Anerkennung der gleichen politischen und sozialen Rechte für alle Bürger gleich, so zeigt sich, wie schwach die Grundlagen für einen europäischen "Demos" sind.

Auch die Vorstellung von einem öffentlichen Raum, in dem die europäischen Bürger grenz- und sprachenüberschreitend über ihre Vorlieben, Wertvorstellungen und Ideen kommunizieren, fällt schwer. Ohne einen öffentlichen Raum ist aber kein politischer Diskurs denkbar, und ohne vermittelnde Strukturen - wie europaweite Medien und ein transnationales Parteiensystem - fehlen die Transmissionsriemen für die politische Artikulation der europäischen Bürger. Die Vielfalt von Sprachen, Kultur und Traditionen kann zwar von einer kosmopolitisch orientierten Elite überwunden werden, nicht jedoch vom einfachen Bürger. Die daraus entstehende Distanz kann nicht voluntaristisch überbrückt werden, so dass Bürgerferne, nicht Bürgernähe weiterhin Kennzeichen der EU sein wird.

3. Elitäre Verlockungen

Wenn die Versprechungen einer Verfassungsreform in Richtung auf eine repräsentative Demokratie nicht einzulösen sind, warum nicht die legitimatorischen Versprechungen der "assoziativen Demokratie" oder eines "deliberativen Supranationalismus" auf die Probe stellen? Um auf konkrete Beispiele zurückzukommen: Die Anziehungskraft des Partnerschaftsprinzips gründet auf der Behauptung, es leiste gleichermaßen einen Beitrag zu Effizienz und Legitimität. Die These ist, dass in Zeiten von Internationalisierung und zunehmender sozialer Differenzierung der politische Prozess kaum noch von einem Parlament zu kontrollieren sei. Folglich sollte versucht werden, die Effizienz und Akzeptanz von Politik durch die Partizipation der Betroffenen zu steigern. An die Stelle des allgemeinen, territorial definierten Mitbestimmungsrechts der Bürger tritt ein funktionales Mitbestimmungsrecht. Wer von anstehenden politischen Maßnahmen betroffen ist und damit ein Interesse zu verteidigen hat, soll in die Gestaltung der Politik einbezogen werden. Politik entscheidet sich in Verhandlungen zwischen Vertretern des Staates und organisierten gesellschaftlichen Gruppen. In den unterschiedlichen politischen Handlungsfeldern und je nach anstehender Entscheidungslage bilden sich öffentlich-privat zusammengesetzte Verhandlungssysteme, in denen idealerweise derjenige sich durchsetzt, der am meisten zu einer von allen anerkannten "sachgemäßen" Problemlösung beitragen kann.

Trotz einer weitgehend positiven Einschätzung solcher Politik-Netzwerke ist nicht zu verkennen, dass in ihnen grundlegende demokratische Standards verletzt werden. Es gibt keine gleichberechtigten Zugangsmöglichkeiten, und es gibt keine öffentliche Rechenschaftspflicht. Strategische Verbesserungen, die auf eine größere Offenheit der Netzwerke zielen, können diese Defizite mildern, aber nicht ausgleichen. Der Grund ist, dass die Ressourcen, die Akteure für ihre Organisation und den Zugang zur Politik benötigen, höchst ungleich verteilt sind und das politische System der EU aus strukturellen Gründen bestimmte Interessen gegenüber anderen bevorteilt . Auch die Bemühungen der Kommission, schwache Interessen besonders zu unterstützen, können nachweislich dieses Ungleichgewicht nicht kompensieren. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass selbst wenn die Kommission korrigierend eingreift, es immer noch die Exekutive ist, die den Zugang und die Artikulationsmöglichkeiten gesellschaftlicher Gruppen kontrolliert. Es gibt keine institutionellen Schranken, um die Kommission zu hindern, dieses Machtpotenzial im eigenen Interesse zu nutzen und nach Gutdünken zu entscheiden, welche Partikularinteressen förderungswürdig sind.

IV. Legitimes Regieren in einer Union von Staaten und Bürgern

1. Kanalisierung der Zentralisierungsdynamik

Die "Monnet-Methode" der Integration - nämlich einer unabhängigen Behörde, der Kommission, eine so starke Stellung zu geben, dass sie zum Motor der Integration wird - ist erfolgreich gewesen. Was geeignet war, die Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Kriegsgegnern zu organisieren und aus getrennten Volkswirtschaften einen Gemeinsamen Markt zu schaffen, muss aber nicht unbedingt der richtige Weg für den Aufbau einer politischen Föderation sein. Solange es um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ging, wurde das Handeln der Kommission durch die eindeutigen Vorgaben der Verträge kanalisiert und durch die Allokationsmechanismen des Marktes kontrolliert. Inzwischen haben wir eine Europäische Union, die in vielfältiger Weise in den Marktprozess interveniert, zunehmend politisch sensitive Entscheidungen trifft und Kompetenzen in der Innen- und Justizpolitik wie in der Außen- und Sicherheitspolitik hat. Wenn nun die demokratischen Kontrollmöglichkeiten nicht mit diesem Kompetenzaufbau Schritt halten, dann haben wir ein Problem. Folglich sollten wir unser Augenmerk vor allem darauf richten, dass die immer raschere Verschiebung von Handlungsbefugnissen auf die europäische Ebene unter Kontrolle bleibt. Unter demokratischen Gesichtspunkten ist es nämlich nicht vertretbar, dass der Prozess der Vergemeinschaftung sich aus der Eigendynamik institutioneller Konstellationen und als ungewollter Nebeneffekt politischer Einzelstrategien nährt.

Auch wenn es sich zunächst nur um einen symbolischen Schritt handeln würde, wäre der Verzicht auf solche Vertragsartikel denkbar, die als Einfallstor für "Spill-over" gelten. Dies ist zum einen jener Vertragsartikel, der den Gemeinschaftsorganen eine Ausweitung ihrer Kompetenzen erlaubt, soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich scheint . Zum anderen wäre die in der Präambel formulierte Selbstverpflichtung, "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss" zu schaffen , zu revidieren. Die Wortwahl im Programm der finnischen Ratspräsidentschaft, die eine "angemessene Arbeitsteilung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten" fordert und verlangt, die Arbeit der Union solle "einen wirklichen Mehrwert" (a genuine added value) bereitstellen , weist in diese Richtung. Hier wird die Verpflichtung auf eine zukünftige Weiterentwicklung der EU sehr viel vorsichtiger formuliert.

Eine andere Möglichkeit ist, das Verfahren für Vertragsänderungen zu überdenken. Dabei wäre es kontraproduktiv, sich dem Vorschlag anzuschließen, die "Gemeinschaftsmethode" auf die Vertragsänderung anzuwenden . Gerade unter dem Gesichtspunkt demokratischer Kontrollierbarkeit müssen die Mitgliedstaaten darauf bestehen, die "Herren der Verträge" zu bleiben. Ganz im Gegensatz zu den Vorstellungen des EP sollten sie während der Verhandlungen einer eher stärkeren Kontrolle durch ihre nationalen (und regionalen) Parlamente unterstellt werden.

Die Stärkung der politischen Öffentlichkeit im Verfahren der Vertragsverhandlungen kann dazu führen, dass der gemeinsame Nenner für Kompromisslösungen schrumpft. Verfassungskorrekturen durch Vertragsverhandlungen würden aufwendiger und langwieriger werden. Wem dies als unerwünschter Nachteil demokratischer Einwirkung erscheint, der sollte sich die Nachteile vergegenwärtigen, die aus einer weiter wachsenden Kluft zwischen (politischer) Elite und Bürgern erwächst. Zusätzlich sollte man vor Augen behalten, dass die in kurzen Zeitabständen durchgeführten Regierungskonferenzen eine politische Dynamik entfalten, die einer rationalen Langfristplanung eher abträglich ist. Regierungen stehen bei jedem großen Politik- und damit Medienereignis unter Erfolgsdruck. Er ist inhaltlich weitgehend undefiniert, was dazu verleitet, aktuell populäre Forderungen aufzugreifen, die dem Augenschein nach zwar eine europäische Dimension haben - wie das Problem der Arbeitslosigkeit -, bei denen es aber doch zunächst kritisch zu prüfen gilt, ob die EU überhaupt die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Problemlösung hat und ob nicht besser die Mitgliedstaaten in der Verantwortung gehalten werden sollten.

Eine Debatte über die wünschenswerte europäische Verfassungsentwicklung könnte die Chance zum Innehalten und damit die Gelegenheit bieten, in langfristiger Perspektive darüber nachzudenken, wohin ein "immer engerer Zusammenschluss" führen soll. Zu prüfen sind:

- das Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten;

- die angemessene konstitutionelle Architektur einer sich aus dem Zusammenspiel von EU und Mitgliedstaaten ergebenden politischen Ordnung;

- Optionen für eine Flexibilisierung der Vergemeinschaftung;

- die Größe und die möglichen Grenzen der Union.

Der Export von Stabilität in angrenzende Regionen wird gleichermaßen als moralische Verpflichtung wie Politik im Interesse der Mitgliedstaaten gewertet. Doch welche Verfassung und welche Substanz muss eine Union haben, damit sie als Stabilitätsanker in ihrem Umfeld wirkt? Genügt hierzu ein funktionsfähiger Markt mit einheitlicher Währung, benötigen wir eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft mit starken regulativen Eingriffskompetenzen, oder brauchen wir eine politische Union? Kann und soll die "europäische Sicherheitsidentität" autonom oder in enger Verknüpfung mit der NATO entwickelt werden? Soll Sicherheit im Sinne der Sicherung von Menschenrechten eine ausschließliche Zuständigkeit der EU sein, oder sollen Europarat und OSZE weiter eine wichtige Rolle spielen?

Prinzipiell ist man von der Vision einer alles umfassenden Union abgewichen. Angesichts der wachsenden Heterogenität der EU ist "Flexibilität" die neue Zauberformel. Das Konzept wurde in den Vorbereitungen und den Verhandlungen der letzten Regierungskonferenz intensiv und kontrovers diskutiert, aber hat seitdem keine konkretere Gestalt angenommen . Solange die Idee der Flexibilisierung nicht in ein politisches Programm umgesetzt wird, bringt es keine Entlastung für die Probleme der Erweiterung. Es vermindert auch nicht die Sogwirkung, die die EU auf ihre Nachbarstaaten auswirkt. Die EU kann ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt nicht nur in der Perspektive von zusätzlichen Erweiterungen sehen, sondern muss auch über eine großräumige politische Ordnungsstruktur nachdenken.

Eine letzte, aber nicht unwichtige Anregung bezieht sich darauf, Elemente eines finanzpolitischen Föderalismus in die Union einzuführen. Es sollte zum Prinzip erhoben werden, dass jene, die politische Programme entwickeln, auch die Verantwortung für das Einwerben von Ressourcen übernehmen. Zur Zeit genügt der Kommission eine geringe Anschubfinanzierung, um die Mitgliedstaaten in die Pflicht zu nehmen. Sie leisten nicht nur ihre zusätzliche Finanzierung, sondern lassen sich auch inhaltlich in die von Brüssel bestimmte Strategie einbinden, was einer weiteren Vergemeinschaftung von Politik gleichkommt.

2. Die Verknüpfung konkurrierender Modelle europäischen Regierens

Anstatt die Illusion zu nähren, die europäische Ordnung könne nach dem Modell der auf Parteienwettbewerb gestützten Mehrheitsdemokratie weiterentwickelt werden, sollten wir offen legen, dass nicht die politische Struktur der Bundesrepublik Deutschland, sondern eher die der Schweiz der EU Pate stehen kann. Vielsprachig und mit einer starken Tradition regionaler Autonomie ist es ein System, das auf dem Prinzip der konsensualen Abstimmung beruht. Dabei geht es nicht um die Entscheidungsverfahren bei der Festlegung einzelner Politiken, sondern um das grundlegende Prinzip, nach dem das politische Zusammenleben organisiert ist. Das Wechselspiel von Mehrheit und Minderheit funktioniert bestens in einem homogenen politischen Umfeld und bei einer pragmatisch orientierten politischen Elite. Der Kampf um die Unterstützung der Mehrheit führt zu Wettbewerb und dieser zu einem eher konfrontativen Politikstil. Nicht Konfrontation, sondern Ausgleich und Einbindung ist dagegen Richtlinie in Gesellschaften, die durch tiefgreifende Interessengegensätze getrennt sind und in denen es neben der großen politischen Gemeinschaft der Union noch konkurrierende politische Identitäten gibt. Will die EU politisch überleben, muss sie die Vielfalt der europäischen Gesellschaften berücksichtigen, politische Differenzen durch übergreifende Koalitionen überbrücken und politische Strategien der Einbindung entwickeln .

Wer vorgibt, durch institutionelle Korrekturen die EU zu einer Kopie unserer nationalen politischen Systeme machen zu können, wird Frustration produzieren. Das Europäische Parlament und die Kommission müssen folglich ihre Rolle innerhalb eines supranationalen "Konsenssystems" finden und sollten nicht falschen Analogien aus staatlichen Verfassungsmodellen nacheifern. Sie haben wichtige Funktionen in einem ausgeklügelten System von "checks and balances" zu übernehmen. Dazu gehört ein Mitentscheidungsrecht für das Parlament in legislativen Angelegenheiten, nicht jedoch die ausschließliche Gesetzesinitiative oder die umfassende Kontrolle (autonome Wahl und Abwahl) der Kommission. Die Kommission sollte eher die Funktion eines starken Sekretariats übernehmen als die einer auf eigenständige Legitimation (z. B. durch Direktwahl) gestützten Repräsentation "des europäischen Interesses". In einer erweiterten Union wird die Kommission im Wesentlichen zwei Aufgaben zu übernehmen haben: die wirkungsvolle Vermittlung zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und die Unterstützung von leistungsschwächeren Mitgliedern und den Neulingen, die mit den Verfahren und Anforderungen der EU noch nicht vertraut sind. Die Rolle des Vermittlers zwischen sozialen Interessen, des Katalysators für transnationale Politikgemeinschaften sowie des Ansprechpartners für organisierte Interessen sollte stärker das Europäische Parlament übernehmen. Das Initiativrecht der Kommission müsste erneut durch vertraglich oder in anderer Form fixierte Vorgaben kanalisiert werden. Ziel einer solchen institutionellen Reform wäre, die Funktion der Institutionen klarer voneinander abzugrenzen.

3. Zur Rolle des Bürgers in der europäischen Politik

Die bisher vorgetragenen Vorschläge können einen Beitrag zum "legitimen Regieren" leisten, aber sie werden nicht die demokratische Qualität europäischen Regierens verbessern. Reformen mit dem Ziel der Demokratisierung müssen dem Bürger institutionell festgeschriebene Wege eröffnen, seine Interessen selbst zur Geltung zu bringen und Sanktionen zu verhängen, wenn diese nicht berücksichtigt werden. Wenn Parlamentarisierung nicht die gewünschten Ergebnisse bringt, warum nicht über die Einführung von Elementen direkter Demokratie nachdenken? Heidrun Abromeit hat ebendies getan und ihre Argumente sind überzeugend. Sie erinnert uns daran, dass institutionelle Reformen der EU nur erfolgreich sind, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

- Kompatibilität mit den politischen Strukturen der Mitgliedstaaten;

- Flexibilität, damit der Prozess des Verfassungsaufbaus in der EU fortschreiten kann;

- Rechenschaftspflicht gegenüber den europäischen Bürgern, deren Interessen betroffen sind;

- Transparenz; Umkehrbarkeit von Sach- und Personalentscheidungen;

- Berücksichtigung der gesellschaftlichen Heterogenität.

Ein mit diesen Bedingungen vereinbarer Vorschlag ist die Einführung direkt-demokratischer Elemente in das Entscheidungssystem der EU. Dies soll durch Referenden mit Veto-Charakter geschehen. Zwei Typen sind vorgesehen: Erstens ein "regionales Veto", das auf alle Entscheidungen anzuwenden ist, die in die autonome Sphäre subnationaler politischer Einheiten eingreifen; Zweitens ein "sektorales Veto", das funktionalen Wählerschaften das Recht einräumen soll, Vereinbarungen rückgängig zu machen, die in den politischen Netzwerken ausgehandelt wurden. In beiden Fällen sollen einmal getroffene Entscheidungen verworfen werden können. Als Ergänzung wird die Einführung von Volksbegehren vorgeschlagen, um die Aufnahmebereitschaft der Politik für wichtige Belange der Bürger zu verbessern. Schließlich ist vorgesehen, dass alle Verfassungsänderungen in einem verbindlichen Referendum bestätigt werden sollten.

Die häufig beschworenen Gefahren der direkten Demokratie - wie unkontrollierbarer Populismus und mangelnder Sachverstand der zur Sachentscheidung aufgerufenen Bürger - sind bei diesem Vorschlag nicht relevant. Der Einwand der Schwerfälligkeit trifft allerdings zu. Jede Einführung zusätzlicher Akteure mit Vetorecht mindert die Effizienz eines Entscheidungsprozesses. Ob dieser Einwand besonders stichhaltig ist, mag angesichts der vielfältigen Vetomöglichkeiten im gegenwärtigen Entscheidungssystem der EU dahingestellt sein. Unter dem Strich dürfte der Zugewinn an demokratischer Legitimität den Effizienzverlust im Entscheidungsprozess mehr als ausgleichen. Darüber hinaus muss eine Verringerung des Integrationstempos nicht als Rückschlag betrachtet werden, wenn man von der normativen Prämisse ausgeht, dass die Zustimmung der Bürger zum europäischen Regieren umso wichtiger wird, je tiefer die europäische Politik in das Leben der Bürger eingreift und folglich aktive Bürger versuchen, hierauf steuernd Einfluss zu nehmen. Direkte Demokratie, so wie sie in diesen Vorschlägen konzipiert ist, baut auf die politische Aktivität des europäischen Bürgers.

Wenn bei der nächsten Regierungskonferenz der EU erneut "Handlungsfähigkeit" und "Bürgernähe" auf der Tagesordnung steht, sollten wir als Bürger eine konkrete Begründung einfordern, warum die europäische politische Ebene der Lösung unserer Probleme angemessener sein soll als die nationale oder subnationale Ebene; ferner welche Institutionen und Verfahren geeignet sind, dem Bürger Instrumente in die Hand zu geben, um seine Interessen zu Gehör zu bringen und ihre Berücksichtigung einzufordern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff "Verfassung" wird hier nicht im engen staatsrechtlichen Verständnis, sondern im Sinne von "politischer Ordnung" verstanden.

  2. Die nüchterne Analyse zeichnet ganz im Gegensatz zur parlamentarischen Selbstdarstellung keineswegs eine "Erfolgsstory"; vgl. Andreas Lautz, Das erste Misstrauensvotum des Europäischen Parlamentes gegen die Europäische Kommission, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 9 (1999) 2, S. 439.

  3. Im englischen Sprachgebrauch wird dies mit der geläufigen Formel "permissive consensus" belegt.

  4. Committee on Institutional Affairs of the European Parliament, 8. December 1998, Report on the institutional implications of the approval by the European Parliament of the President of the Commission and the independence of the members of the Commission, Berichterstatter: Elmar Brok, S. 5, Internet: http://www2.europarl.eu.int/dg7-bin/seid.pl.

  5. Für eine ausführliche Diskussion des Konzepts des "Network Governance" vgl. Beate Kohler-Koch, The Evolution and Transformation of European Governance, in: dies./Rainer Eising (Hrsg.), The Transformation of Governance in the European Union, London 1999.

  6. Für eine ausführliche Erörterung dieses Begriffs vgl. Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie: die demokratische Transformation moderner Politik, Baden-Baden 1995.

  7. "Zivilgesellschaft" ist zum Schlüsselwort in der europäischen Debatte geworden, das inzwischen inflatorisch auf alle organisierten gesellschaftlichen Interessen angewandt wird, die ihre Belange in der europäischen Politik zu Gehör bringen wollen.

  8. "Who else but the Commission and the Parliament - working together - can carry forward the European project?" So Romano Prodi, Speech given by Romano Prodi, President-designate of the European Commission to the European Parliament, 21. Juli 1999, S. 6 f.

  9. Vgl. beispielhaft die Rede des Vorsitzenden des Rates der Europäischen Union, Josef Fischer, Bundesminister des Auswärtigen, vor dem Europäischen Parlament am 12. Januar 1999 in Straßburg, S. 4.

  10. Stellvertretend für viele ähnliche Argumentationen vgl. Klaus-Dieter Frankenberger, Und jetzt eine Verfassung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 3. 1999, S. 1.

  11. Rede von Bundesaußenminister Josef Fischer vor dem Europäischen Parlament, Bilanz der deutschen EU-Präsidentschaft, 21. Juli 1999, S. 1.

  12. In zwei inzwischen klassischen Texten wird diese Argumentation ausführlich entwickelt; vgl. Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: Juristen Zeitung, 50 (1995), S. 581-632; Peter Graf von Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 47-71.

  13. Vgl. hierzu insbes. Heidrun Abromeit, Democracy in Europe. Legitimising politics in a non-state policy, New York 1998; Christopher Lord, Democracy in the European Union, Sheffield 1998; Joseph H. H. Weiler/Thomas Cottier, Democracy and Federalism in European Integration, Bern 1995.

  14. Das Konzept der "supranationalen Deliberation" wurde in verschiedenen Arbeiten von Christian Joerges und Jürgen Neyer entwickelt; vgl. Christian Joerges/Jürgen Neyer, Von intergouvernementalem Verhandeln zur deliberativen Politik: Gründe und Chancen für eine Konstitutionalisierung der europäischen Komitologie, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen 1998, S. 207-234.

  15. Vgl. Hubert Heinelt, Zivilgesellschaftliche Perspektiven einer demokratischen Transformation der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 5 (1998) 1, S. 79-107.

  16. Vgl. hierzu ausführlicher Beate Kohler-Koch, Die Gestaltungsmacht organisierter Interessen, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch (Anm. 12).

  17. Früher Art. 235 EG-Vertrag, jetzt nach neuer Zählung Art. 308 EG-V.

  18. Dieser Vorschlag wurde von der European Constitutional Group, A Constitutional Settlement, London 1993, gemacht.

  19. The summary of the programme for the Finnish EU Presidency, Helsinki 1999, S. 2, Internet: http://presidency.finland.fi/doc/agenda/index.htm.

  20. Vorgeschlagen vom damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Gil-Robles, Rede vor dem Europäischen Rat in Köln am 3. Juni 1999, S. 4.

  21. Vgl. Christian Deubner, Harnessing Differentiation in the EU. Flexibility after Amsterdam. A Report on Hearings with Parliamentarians and Officials in Seven European Capitals, Ebenhausen 1999.

  22. Vgl. grundsätzlich hierzu Arend Lijphart, Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-six Countries, New Haven-London 1999.

  23. Vgl. H. Abromeit (Anm. 13).

Dr. rer. pol., geb. 1941; Professorin für Politische Wissenschaft an der Universität Mannheim.

Veröffentlichungen u. a.: Interaktive Politik in Europa. Regionen im Netzwerk der Integration. Opladen 1998.