Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Warum die junge Generation politisch stärker partizipieren muss | Partizipation von Kindern und Jugendlichen | bpb.de

Partizipation von Kindern und Jugendlichen Editorial Warum die junge Generation politisch stärker partizipieren muss Gesellschaftliche Beteiligung der Jugend Kinder- und Jugendforen als Beispiel neuer Formen der politischen Öffentlichkeit Wie stimmig sind die Ziele von Beteiligungsaktionen mit Kindern und Jugendlichen in der Kommune? Barrieren und Hindernisse bei der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in urbanen Umbruchsituationen

Warum die junge Generation politisch stärker partizipieren muss

Klaus Hurrelmann

/ 11 Minuten zu lesen

Deutschland steht wie andere westliche Industriegesellschaften vor einem gewichtigen Problem: Die ältere Generation wird zahlenmäßig immer stärker.

I. Veraltete Muster der Gestaltung des Lebenslaufs

Ein Grundmuster, am Ende des 19. Jahrhunderts durch das bis heute geltende Modell der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und das dichte Gewebe von bildungs- und arbeitsrechtlichen Regelungen kodifiziert, prägt in Deutschland den Lebenslauf der Menschen. Es gliedert das Leben in drei Phasen: In der ersten werden die Menschen betreut, gebildet, ausgebildet und auf die zweite Lebensphase vorbereitet, die des Erwachsenen- und Erwerbsalters. In dieser sind sie Vollmitglied der Gesellschaft, können politisch mitbestimmen, erwirtschaften materielle Werte und tragen durch Familiengründung zur Reproduktion der Gesellschaft bei. In der dritten Lebensphase treten sie wieder aus dem Erwerbsleben aus, wobei sie ihre politischen Gestaltungsrechte behalten.

sind nach diesem Muster eine Art Wartezeit auf das "eigentliche" gesellschaftliche (Erwachsenen-)Leben. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus:

- Der "Ernst des Lebens" beginnt für Kinder mit dem Eintritt in die Grundschule. Ein gesellschaftlicher Schonraum existiert nicht mehr, Kinder sind wie Erwachsene allen medialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Einflüssen ausgesetzt.

- Die Lebensphase Jugend beginnt so früh wie nie zuvor, die Pubertät ist von 1900 bis 2000 um mehr als zwei Jahre nach vorn gerückt. Sie liegt bei den meisten Mädchen heute bei 11,5 und den Jungen bei 12,5 Jahren.

- Weil Arbeitsplätze im hoch reglementierten Erwerbssystem immer knapper und die Anforderungen an intellektuelle und soziale Kompetenzen im Beruf immer höher werden, verschiebt sich der Übergang ins Erwachsenenleben immer weiter.

- Jugendliche sind soziokulturell sehr früh mündig; sie können sich in vielen Bereichen (Medien und Konsum, Freundschaft und Liebesbeziehungen) wie Erwachsene bewegen. Sozioökonomisch sind sie unmündig, weil sie sich (noch) nicht in einer existenzsichernden Berufsposition befinden.

Das traditionelle Muster der Dreiteilung des Lebenslaufs ist auch aus demographischen Gründen nicht mehr sinnvoll. Durch die Verlängerung des Lebens und die geringe Kinderzahl wird der Anteil der Angehörigen der älteren Generation immer größer, der der jungen Menschen immer kleiner. Die Zahl der Jugendlichen unter 20 Jahren wird von heute 17 auf knapp 10 Millionen im Jahre 2050 sinken, die Zahl der über 60-Jährigen von 18 auf 28 Millionen Menschen anwachsen. Auffällig ist nach diesen Prognosen die Zunahme des Anteils der sehr alten Menschen. Im Jahr 2050 werden in Deutschland mehr Menschen über 80 als Menschen unter 20 Jahren leben.

Die Situation der drei Generationen ist angesichts dieser Entwicklung unbefriedigend. Die junge Generation fällt in Zukunft quantitativ kaum ins Gewicht; sie wird ihre Interessen schwer durchsetzen können. Auf der mittleren Generation lastet die Hauptverantwortung; sie muss die Interessen der Angehörigen sowohl der jungen als auch der älteren Generation vertreten. Letztere werden in die Rolle überflüssiger Müßiggänger gedrängt.

II. Belastungen für die junge Generation

Wir brauchen eine Gesellschaft, welche die innovativen Potenziale aller drei Generationen freisetzt. Die drei Generationen sollten durch finanziellen, kulturellen und sozialen Transfer von Leistungen jeweils voneinander, die Gesellschaft sollte insgesamt von Synergieeffekten ihres besseren Zusammenwirkens profitieren. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen der Angehörigen aller drei Generationen können nur dann wirksam werden, wenn diese die Möglichkeit haben, sich aktiv an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu beteiligen.

Kinder und Jugendliche, um die es im vorliegenden Essay geht, haben wenig Gelegenheit dazu, mehr noch - sie sind heute in verschiedener Hinsicht belastet und benachteiligt:

- Sie sind heute vielfach Anhängsel der Partnerbeziehungen ihrer Eltern. Sie werden von deren Unsicherheit und Unbeständigkeit getroffen, ohne gestaltend auf diese einwirken zu können.

- Sie erfahren die wachsende Bedeutung der Freizeit, die zugleich die Erwartung an Erlebnis und Spannung steigert und den Hunger nach körperlichen und geistigen Grenzüberschreitungen erhöht.

- Sie erleben das Vordringen der Medien mit ihren enormen Informationsmöglichkeiten, aber auch ihrem Informationsüberschuss, ihrer Förderung von passiven Verhaltensweisen, erhöhten Sensationserwartungen und ihrer Betonung des Außernormalen.

- Sie sind mit der Zunahme von sozialen und kulturellen Spannungsfeldern im Alltag unserer Gesellschaft konfrontiert. Auf der Suche nach Sinn und Perspektive erleben Kinder und Jugendliche soziale und ethnische sowie religiöse Unterschiede besonders intensiv. Deshalb gehören sie ebenso häufig zu denen, die sich leicht über Kulturgrenzen hinwegsetzen können, wie zu denen, die gewalttätig werden, weil sie keine produktive Form der Konfliktbewältigung finden.

- Sie müssen sich der Intensivierung der Leistungsanforderungen und Qualifikationsprozesse stellen, die sich in einer Verlängerung der schulischen und beruflichen Ausbildung und höheren Leistungserwartungen niederschlägt - bei immer unsicherer werdenden Arbeitsplatzchancen.

Die meisten Kinder und Jugendlichen - vier Fünftel - kommen erstaunlich gut mit den skizzierten Anforderungen zurecht. Sie sind "Gewinner" im sozialen Wandlungsprozess, haben die Herausforderung angenommen, die in der sozialen Emanzipation ihrer Altersrolle liegt. Aber immer mehr gehören auch zu den "Verlierern". Einem Fünftel gelingt die auf Selbstdefinition und Eigensteuerung angewiesene Auseinandersetzung mit den Anforderungen nicht. Sie finden nicht die soziale Unterstützung in Familie, Schule und Berufswelt, die sie für ihre Entwicklung benötigen.

III. Der Generationenvertrag muss neu verhandelt werden

Die strukturelle Benachteiligung von Familien mit Kindern und die reale Gefahr, dass eine wachsende Minderheit der jungen Generation beruflich und sozial nicht in die Erwerbs- und Wohlstandsgesellschaft integriert werden kann - beides wirft die Frage einer Neudefinition des "Generationenvertrages" auf. Janusc Korzak, der polnische Arzt und Pädagoge, hat schon 1916 in seiner Schrift "Wie man ein Kind lieben soll" angeregt, über den Interessenausgleich zwischen der Eltern- und der Kindergeneration nachzudenken: "Ziehen wir Bilanz, berechnen wir, wie viel dem Kind vom Gesamteinkommen zusteht, wie viel ihm als sein rechtmäßiger Anteil nicht aus Gnade und nicht als Almosen zukommt! Wie groß ist ihr Erbteil, wie soll es aufgeteilt werden? Haben wir sie nicht - wie ein unredlicher Vormund - enterbt und enteignet?"

Ein Blick auf die Rentenfinanzierung zeigt exemplarisch, wie unausgewogen der Generationenvertrag inzwischen ist. Während die ältere Bevölkerung sich heute auf der Basis ihrer Rente und ihres Vermögens einen vergleichsweise guten Lebensabend gestalten kann, lebt eine wachsende Minderheit der jungen Generation unter eher schlechten Bedingungen. Die ältere Generation hat eine befriedigende materielle Lebensperspektive, die junge zu Teilen keine berechenbare Berufs- und Zukunftsperspektive.

Angesichts dieser Entwicklung scheint die Befürchtung, es könne zu Ausbrüchen von Generationenhass kommen, zu lautstarkem Protest gegen die Privilegien der älteren, etablierten Generation, nicht unwahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund ist eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der jungen Generation gefordert. Wir müssen den Generationenvertrag neu aushandeln, und zwar unter gleichberechtigter Beteiligung der jungen, der mittleren und der älteren Generation. Der Begriff "Generationenvertrag" darf sich nicht nur auf die Rentenfinanzierung und die übrigen Sozialversicherungssysteme beziehen, er muss alle Zukunftsressourcen umfassen, wenn er gerecht und tragfähig sein soll.

IV. Veränderung der politischen Machtverhältnisse durch Kinder- und Jugendpartizipation

In letzter Konsequenz wird es nur durch eine Änderung der politischen Machtverhältnisse in den demokratisch gewählten Parlamenten zu der fälligen Neuverhandlung des Generationenvertrages kommen. Die junge Generation ist hier nicht vertreten; sie gehört nach den Spielregeln des Systems faktisch gar nicht zum "Volk", das in den Parlamenten repräsentiert wird.

Der Weg zur Durchsetzung der berechtigten Interessen der jungen Generation führt über eine Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen. Hier hat sich durch die "Konvention über die Rechte des Kindes" der Vereinten Nationen, die auch von der Bundesregierung ratifiziert wurde, eine neue Ausgangslage ergeben. In dieser werden zum ersten Mal in der Geschichte die gleichberechtigten Ansprüche der jungen Generation formuliert. Es wird dabei von vier Grundprinzipien ausgegangen:

1. Dem Anspruch auf persönliche Entwicklung: Durch eine kindgerechte Grundversorgung mit sozialen Diensten soll die individuelle Entfaltung garantiert werden.

2. Dem Prinzip der Gleichbehandlung: Kein Kind darf aus Gründen des Geschlechts, aufgrund von Behinderungen, wegen der Staatsbürgerschaft oder der Abstammung benachteiligt werden.

3. Dem Prinzip des besten Interesses des Kindes: Bei politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen müssen die Belange und Bedürfnisse des Kindes vorrangig berücksichtigt werden.

4. Der Achtung vor der Meinung des Kindes: Jedes Kind soll seine Meinung frei äußern dürfen, Gehör finden und seinem Alter entsprechend auch auf Entscheidungen Einfluss nehmen können.

Durch diese Konvention werden Kinder und Jugendliche als Menschen mit eigenen Rechten, Wünschen und Bedürfnissen anerkannt - eine Anerkennung, die inhaltlich über die Festlegung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hinausgeht. Kinder und Jugendliche werden als Menschen betrachtet, die sich in einem besonderen Lebensabschnitt befinden, deswegen eine spezielle Schutzbedürftigkeit aufweisen, denen zugleich aber altersangemessene Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten garantiert werden sollen. Die Konvention hilft, Kindern und Jugendlichen die gleichen Rechte wie Erwachsenen dort einzuräumen, wo es von ihrer Entwicklung her angemessen ist. Kinder werden nicht länger als schwach, passiv und unvernünftig eingestuft, sondern als vernünftig, motiviert und bewusst handelnd auf der Stufe der Entwicklung, die sie erreicht haben.

Diese internationale Konvention, ursprünglich von den hoch entwickelten Gesellschaften zur Absicherung von Mindestrechten in den Ländern der Dritten Welt initiiert, erweist sich zunehmend als ein wertvolles Instrument auch zur Durchsetzung von Rechten der Kinder und Jugendlichen in hoch entwickelten Gesellschaften. Das gilt auch für Deutschland: Das Grundrecht auf persönliche Entwicklung ist verletzt, weil zum Beispiel zu wenige frei zugängliche außerfamiliale Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen bestehen. Das Prinzip der Gleichbehandlung ist verletzt, weil wir zum Beispiel nach wie vor den hier geborenen Kindern aus Migrantenfamilien die deutsche Staatsbürgerschaft verweigern und sie damit demonstrativ ausgliedern. Das Prinzip des besten Interesses der Kinder ist verletzt, weil zum Beispiel in Familien keine gesicherten Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Entscheidungen über Aufenthaltsort und Schullaufbahn für die junge Generation bestehen. Das Prinzip der Achtung der Meinung des Kindes ist verletzt, weil es an Mitbestimmung bei wichtigen gesellschaftspolitischen Entscheidungen fehlt.

Im Bildungswesen, einem gesellschaftlichen Schlüsselsektor für die junge Generation, besteht besonders großer Nachholbedarf. Dringend sollten in den Schulmitwirkungsgesetzen der Länder die Anhörungs-, Beratungs- und Vorschlagsrechte erweitert werden, die sich auf die Gestaltung des Unterrichts ebenso wie die der räumlichen Bedingungen beziehen. Schülerinnen und Schüler müssen das Recht haben, den Unterricht zu kritisieren und konstruktive Vorschläge zur Gestaltung einzubringen. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen sollte sich auch darauf beziehen, die Schule zum sozialen Treffpunkt außerhalb der Unterrichtszeiten, zum Beispiel am Nachmittag, zu machen. Die Schulen sind Arbeitsplatz und Aufenthaltsraum der Kinder und Jugendlichen und müssen daher deren Bedürfnissen voll gerecht werden.

Die Konvention der UNO verlangt die konsequente Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Für Familie, Kindergarten und Jugendarbeit - für die gesamte Kommunalpolitik - bedeutet das, eine neue Diskussion über Beteiligungsformen und Mitbestimmung zu führen. Im kommunalen Bereich ist eine Stärkung der Anhörungsrechte und der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sinnvoll, für das gesamte politische Gemeinwesen eine Neudefinition des Demokratieverständnisses.

V. Innovative politische Impulse durch die junge Generation

Der am weitesten gehende Vorschlag zur Stärkung der Partizipation zielt zweifellos auf die Herabsetzung des Mindestwahlalters auf 14 oder wenigstens 16 Jahre. Erst dann, wenn Kinder und Jugendliche sich an der Zusammensetzung von Parlamenten effektiv beteiligen können, wird es zu einer echten Machtverschiebung kommen. Nur wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger machen auf Parlamentarierinnen und Parlamentarier Eindruck. Die heute übliche Verteilung von Umwelt- und Sozialressourcen zugunsten der wahlberechtigten Bevölkerung - und zuungunsten der noch nicht wahlberechtigten Bevölkerung - kann nur durch eine Machtverlagerung in den Parlamenten erreicht werden. Dort brauchen wir nicht nur eine Frauenquote, sondern auch eine Jugendquote.

Eine stärkere Beteiligung der jungen Generation bietet sich auch wegen der erwähnten Vorverlagerung von Selbstständigkeit und Eigensteuerung an. Wenn Kinder heute früher Jugendliche und diese wiederum früher Erwachsene werden, dann müssen ihnen auch die entsprechenden gesellschaftlichen Gestaltungs- und Verantwortungsräume zugestanden werden.

Eine stärkere Beteiligung der jungen Generation an politischen Entscheidungen verschöbe nicht nur die Machtbalance. Die politische Elite der Bundesrepublik wäre gut beraten, Kindern und Jugendlichen zuzuhören und ihr Politikverständnis ernst zu nehmen. Denn es sind heute nicht mehr die Studenten, die als "politische Seismographen" signalisieren, wo die Probleme in der Gesellschaft liegen. Diese Warnfunktion haben inzwischen die 14- bis 20-Jährigen übernommen. Wenn entsprechende Signale von den Parteien und den Politikern übersehen werden, fehlen ihnen entscheidende Hinweise dafür, wo heute und in Zukunft politische Weichenstellungen erfolgen müssen.

Kinder und Jugendliche verstehen Politik ganzheitlich - nicht nur intellektuell, sondern auch mit ihrer Seele und ihren Gefühlen. Ängste, Bedürfnisse und Sorgen, die sich nicht immer in Worte fassen lassen, werden von ihnen mit in die politische Diskussion einbezogen. Durch ihre biografische Umbruchsituation verstärkt, setzen sie sich sehr intensiv mit Sinngebungs- und Orientierungsfragen auseinander.

Ob es den Regierungen und Parteien gefällt oder nicht - Jugendliche mit ihrem spezifischen Zugang zur Politik sind Vorreiter für ein Politikverständnis, das sich bald auch in der Gesamtbevölkerung zeigen wird. Von einer Politikverdrossenheit bei der jungen Generation kann nicht die Rede sein. Was sie verdrießt, sind Politiker und Parteien, die zu Funktionärskadern geworden sind. Jugendliche erwarten eine neue Definition von Solidarität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit bei der Verteilung von gesellschaftlichen Privilegien und Gütern sowie klare Kriterien für die Verwendung lebenswichtiger Ressourcen. Sie fordern dabei zu Recht einen fairen Generationenvertrag. www.uni-bielefeld.de/gesundhw

Der Generationenvertrag

Wenn über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland debattiert wird, steht unweigerlich auch der so genannte Generationenvertrag auf dem Prüfstand. Im engeren Sinne bezeichnet dieser Begriff das Funktionsprinzip der sozialen Alterssicherung, wie sie mit der Rentenreform von 1957 im damaligen Bundesgebiet eingeführt wurde und bis heute fortbesteht. Die Reform brachte den Übergang zur "dynamischen Rente", die nicht mehr nur die größte Not im Alter lindern, sondern den Rentnern darüber hinaus die Beibehaltung ihres im Arbeitsleben erworbenen Lebensstandards ermöglichen sollte. Zu diesem Ziel wurden die Renten an die laufende Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen gekoppelt.

Die Finanzierung des Rentensystems erfolgte seitdem im Umlageverfahren, das heißt, die Rentenversicherungsbeiträge der aktiven Arbeitnehmer wurden nicht zu deren Gunsten aufgehäuft und angelegt, sondern sogleich wieder für die laufenden Renten ausgegeben. Die Beitragszahler erwarben mit ihren Einzahlungen in die Rentenkasse aber einen Anspruch, im Alter selbst wieder in gleicher Weise unterstützt zu werden. Mit diesem staatlich organisierten Ausgleich zwischen den Generationen übernahm die gesetzliche Rentenversicherung eine Aufgabe, wie sie früher - unter günstigen Voraussetzungen - innerhalb des Familienverbands bewältigt werden konnte.

Grundlage des Generationenvertrags ist das Vertrauen vor allem der aktiven Generation auf eine gerechte Verteilung der Lasten und auf die zuverlässige Einlösung ihrer künftigen Ansprüche. Verschieben sich die Gewichte zwischen Leistung und später zu erwartender Gegenleistung über das zumutbare Maß hinaus, droht der gesellschaftliche Konsens, auf dem der Generationenvertrag beruht, verloren zu gehen. Um dies zu verhindern, sind in die Rentenformel, nach der sich die Höhe der laufenden Renten berechnet, automatisch wirkende Stabilisatoren eingebaut: Werden die aktiven Einkommen durch Steuern und Sozialbeiträge stärker belastet, sorgen sie dafür, dass die Renten im Gegenzug langsamer ansteigen und damit der Druck auf die Beitragszahler wieder nachlässt.

Fasst man den Generationenvertrag allerdings so weit, dass auch die Sorge für den eigenen Nachwuchs dazugehört, ist das Gleichgewicht von Geben und Nehmen zwischen den Generationen schon seit längerem gravierend gestört. Die nachlassende Bereitschaft, Kinder großzuziehen, ist eine der Hauptursachen für die ungünstige demographische Entwicklung, die heute dazu zwingt, über rentenpolitische Lösungen außerhalb des Generationenvertrags nachzudenken.

Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Sozial- und Gesundheitsforschung an der Universität Bielefeld.

Anschrift: Universität Bielefeld, Postfach, 33501 Bielefeld.
E-Mail: klaus.hurrelmann@uni-bielefeld.de

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Christian Palentien) Jugend und Politik, Neuwied 1998²; (Hrsg. zus. mit Andreas Klocke) Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, Wiesbaden 2001².