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Das Bundesverfassungs-Gericht als verlängerter Arm der Opposition? Eine Bilanz seit 1951

Klaus Stüwe

/ 23 Minuten zu lesen

Für die Opposition besteht die Möglichkeit unter der Ordnung des Grundgesetzes, Regierungsaktionen und parlamentarische Mehrheitsentscheidungen zu stoppen und ihre eigenen rechtlichen Standpunkte durchzusetzen. Verantwortlich hierfür ist die Existenz einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit.

I. Einleitung

In der Bundesrepublik Deutschland gilt der Primat des Rechts. Nach Art. 20 III Grundgesetz (GG) ist die Gesetzgebung an die "verfassungsmäßige Ordnung" und sind die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt an "Gesetz und Recht" gebunden. Zur Gewährleistung dieser Verfassungs- und Gesetzesbindung ist das Bundesverfassungsgericht berufen, das mit umfangreichen Kontrollkompetenzen ausgestattet ist und dessen Entscheidungen alle anderen Gewalten binden.

Diese institutionelle Absicherung des Primats des Rechts durch das Bundesverfassungsgericht hat zur Folge, dass die Frage der Verfassungskonformität politischer Aktionen einen besonderen Stellenwert im Prozess der staatlichen Willensbildung bekommt. Die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit müssen bei der Planung, Entscheidung und Umsetzung exekutiver bzw. legislativer Maßnahmen stets damit rechnen, dass verfassungsrechtlich bedenkliche Aktionen vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden können. Insbesondere die parlamentarische Opposition, die der Regierung im parlamentarischen System kontrollierend gegenübertritt, erhält durch die Existenz einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit die Chance, Regierungsaktionen und parlamentarische Mehrheitsentscheidungen zu stoppen und ihre eigenen rechtlichen Standpunkte durchzusetzen.

So stellte sich im Verlauf der 50-jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts schon früh heraus, dass "die Verfassungsrechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland . . . zu einem erheblichen Teil von den Impulsen der politischen Opposition" lebt . Man beobachtete: "Am häufigsten wurde das Verfassungsgericht im Kampf von Koalition und Opposition . . . benutzt". Solche Aussagen bedürfen einer Präzisierung. Zwar werden die weitaus meisten verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht von der parlamentarischen Opposition, sondern von anderen Antragstellern initiiert: Rund 96 Prozent aller Verfahrenseingänge sind Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger, die Richtervorlagen folgen an zweiter Stelle mit knapp drei Prozent aller Klagen. Gleichwohl gehen die wichtigsten, "für den Ausbau der objektiven Verfassungsordnung maßgeblichen" Entscheidungen sehr häufig auf Anträge der Opposition zurück. Der Begriff Opposition ist allerdings hier in einem weiteren Sinn zu verstehen. Als Antragsteller solcher Verfahren traten bisher nicht nur die Oppositionsfraktionen des Bundestags auf, sondern auch einzelne Abgeordnete, politische Parteien sowie "oppositionelle" Landesregierungen.

Dass es vor allem die Opposition ist, die bedeutende verfassungsgerichtliche Entscheidungen anstößt, entspricht der institutionellen Logik der vom Grundgesetz konstituierten Kombination eines parlamentarischen Regierungssystems mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit. Aufgrund einer Reihe von Zugangsmöglichkeiten zum verfassungsgerichtlichen Prozess ist die parlamentarische Opposition in der Lage, die aus ihrer Minderheitsposition resultierende Schwäche gegenüber der Regierungsmehrheit wirksam zu kompensieren. Sie kann das Verfassungsgericht zur Verstärkung ihrer Kontrollfunktion nutzen und es als institutionellen "Vetospieler" einsetzen. Aus diesem Grund gehört die Drohung mit dem "Gang nach Karlsruhe" schon in der parlamentarischen Auseinandersetzung zum rituellen Waffenarsenal der Opposition. Und nicht selten hat die Opposition in besonders umstrittenen Grundsatzfragen diesen Gang auch unternommen. Die jeweilige Bundesregierung mag darüber nicht unbedingt glücklich gewesen sein. Schon Konrad Adenauer soll gestöhnt haben: "Dat ham wir uns so nich vorjestellt!"

Ob die verschiedenen Oppositionsparteien unterschiedliche verfassungsgerichtliche Strategien verfolgten und wie erfolgreich sie dabei in der 50-jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts waren, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

Die statistischen Ergebnisse stützen sich auf die Analyse der mittlerweile 102-bändigen Entscheidungssammlung des Gerichts. Abschließend wird die Frage gestellt werden, ob sich der "Gang nach Karlsruhe" bisher überhaupt als effektives Kontrollinstrument der parlamentarischen Opposition erwiesen hat.

II. Der "Gang nach Karlsruhe"

Die Antragsmöglichkeiten der Bundestagsopposition vor dem Bundesverfassungsgericht ergeben sich aus den Regelungen des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Da die Opposition als solche im Verfassungsrecht der Bundesrepublik nicht institutionalisiert ist, sieht das Verfassungsprozessrecht konsequenterweise kein Antragsrecht "der" Opposition vor dem Verfassungsgericht vor. Dennoch können oppositionelle Antragsteller einige Zugangsmöglichkeiten zum Karlsruher Gericht nutzen. Drei Verfahrensarten kommen hierfür in Frage.

Die erste Möglichkeit bietet die so genannte abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG. In Gang gesetzt werden kann das Verfahren, wenn der Antragsteller "Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel" über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm geltend macht. In Betracht kommen hierbei Bundes- und Landesgesetze, aber auch Rechtsverordnungen und Satzungen. Die angezweifelte Norm muss rechtlich existent sein, was eine präventive Normenkontrolle - "an der jede Opposition in erster Linie interessiert sein dürfte" - ausschließt. Antragsberechtigt sind die Bundesregierung, eine Landesregierung oder mindestens ein Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestags. Das Verfahren kann von einer Oppositionsfraktion somit nur initiiert werden, wenn sie mindestens über ein Drittel der Abgeordnetenmandate im Bundestag verfügt. Möglich wäre aber auch, dass die Opposition das Verfahren mit Hilfe einer "befreundeten" Landesregierung in die Wege leitet.

Geringere Hürden gibt es beim so genannten Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG. Der Kreis der Antragsberechtigten ist hier viel größer: Dazu gehören Fraktionen und Gruppen, einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundestags sowie die politischen Parteien. In diesem Verfahren geht es um Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen. Es streiten also Staatsorgane darüber, ob ein Verfassungsorgan sich im Rahmen der ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen bewegt oder ob es durch eine Maßnahme den Antragsteller in seinen Kompetenzen verletzt oder unmittelbar gefährdet. Diese muss nicht unbedingt ein Einzelakt sein. Auch der Erlass eines Gesetzes, die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags oder die Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung als Fraktion können eine rechtserhebliche Maßnahme darstellen, wenn sie beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auslösen.

Mit Hilfe befreundeter Landesregierungen ist eine Oppositionsfraktion unter bestimmten Voraussetzungen schließlich in der Lage, das Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 I Nr. 3 GG zur Durchsetzung eigener Rechtspositionen zu nutzen. Hier geht es um föderative Fragen, dreht sich das Verfahren doch "um Meinungsverschiedenheiten" über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder". Antragsteller und Antragsgegner sind für den Bund die Bundesregierung und für ein Land die jeweilige Landesregierung. Anders als beim Organstreitverfahren und bei der abstrakten Normenkontrolle sind demnach Anträge aus der Mitte des Bundestags heraus ausgeschlossen. Aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens als kontradiktorische Streitigkeit und aufgrund der Antragsbefugnis von Landesregierungen wurden freilich von je her nicht nur föderale Konflikte, sondern auch einzelne zwischen Bundesregierung und Opposition politisch streitige Verfassungskontroversen vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen.

III. Der Erfolg der Oppositionsparteien vor dem Bundesverfassungsgericht

Kann man nun aus den bisher abgeschlossenen Verfahren ablesen, ob die einzelnen Oppositionsparteien seit 1951 unterschiedliche Strategien bei der Funktionalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit anwandten, und mit welchem Erfolg haben die einzelnen Oppositionsparteien diese verschiedenen Verfahrensarten zur Durchsetzung eigener Rechtspositionen einsetzen können?

Bei einer solchen Bilanz kann es nicht darum gehen, die "Siege" und "Niederlagen" der Parteien vor dem Bundesverfassungsgericht gegeneinander aufzurechnen. Zu unterschiedlich waren das Gewicht und die rechtliche Bedeutung der einzelnen Verfahren. Quantitative Erhebungen sagen zudem wenig aus über die politischen Folgen, die sich aus dem einen oder anderen Urteilsspruch ergeben. Statistische Analysen stoßen hier an ihre Grenzen. Es kann bei einer solchen Bilanz vielmehr nur um die Frage gehen, ob sich aus den bisherigen Verfahrenszahlen eine Tendenz zu einer Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts für politische Zwecke herauslesen lässt, und mit welchem Erfolg es den einzelnen oppositionellen Antragstellern bzw. der parlamentarischen Opposition insgesamt gelungen ist, das verfassungsgerichtliche Verfahren als effektives Kontrollinstrument gegen die Regierungsmehrheit einzusetzen.

Im Folgenden werden deshalb die von oppositionellen Antragstellern initiierten, bis zum Jahr 2000 abgeschlossenen Verfahren unter dem Aspekt "Erfolg oder Misserfolg" analysiert. Als Erfolg wurden diejenigen Verfahren gewertet, bei denen das Bundesverfassungsgericht den Antrag in allen Punkten für begründet erklärt hat. Als Teilerfolg wurden die Verfahren gezählt, bei denen die Karlsruher Richter wenigstens teilweise im Sinne des Antrags entschieden. Verfahrensanträge, die als unzulässig zurückgewiesen oder als unbegründet verworfen wurden, wurden als Misserfolg gewertet.

1. Die Verfahrensinitiativen der SPD-Opposition

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) musste seit 1949 in zwei Phasen die Rolle der parlamentarischen Opposition im Bundestag übernehmen: von der ersten Legislaturperiode bis zur fünften (1949-1966) sowie von der neunten Legislaturperiode bis zur dreizehnten (1982-1998). Damit waren beide Oppositionsphasen von annähernd gleich langer Dauer von jeweils 16 Jahren, was einen unmittelbaren Vergleich erleichtert. Zunächst soll nun der Frage nachgegangen werden, ob sich aus den Verfahrenszahlen große Unterschiede zwischen den beiden Oppositionsphasen der SPD festellen lassen.

Abstrakte Normenkontrolle

Für die abstrakte Normenkontrolle muss diese Frage klar verneint werden. Das Bundesverfassungsgericht hat insgesamt 50 abstrakte Normenkontrollanträge erledigt, welche die SPD in ihren beiden Oppositionsphasen eingeleitet hatte (vgl. Tabelle 1). Diese Anträge verteilen sich fast gleichmäßig auf beide Oppositionsphasen (21 bzw. 29), so dass aus der Zahl der Anträge nicht geschlossen werden könnte, ob die SPD zwischen 1949 und 1966 sowie zwischen 1982 und 1998 unterschiedliche Antragsstrategien verfolgt hätte. Lediglich im Hinblick auf die Zahl der Verfahrensanträge "oppositioneller" Landesregierungen ließe sich der Schluss ziehen, dass die SPD zwischen 1982 und 1998 eine etwas kompetitivere Oppositionsrolle eingenommen hat als zwischen 1949 und 1966. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass mit den Anträgen von Landesregierungen auch Materien aufgegriffen wurden, die föderative Fragen berührten und deshalb auch von CDU-geführten Landesregierungen unterstützt wurden, etwa zum Länderfinanzausgleich.

Von den neun abstrakten Normenkontrollen, die die SPD-Opposition aus der Mitte des Bundestags heraus initiiert hat, wurden vier wegen Rücknahme des Antrags oder wegen sonstiger Erledigung wieder eingestellt. Vier Anträge wurden vom Bundesverfassungsgericht als unzulässig verworfen bzw. als unbegründet zurückgewiesen. Dazu gehören etwa die Klagen gegen das Saarstatut 1955 und gegen die Gesetzesnovelle der Regierung Kohl zur Kriegsdienstverweigerung von 1983/84. Nur in einem einzigen von der SPD-Bundestagsopposition initiierten abstrakten Normenkontrollverfahren hat das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Antragsteller entschieden. Dieses Verfahren richtete sich allerdings nicht gegen Bundesrecht, sondern gegen das Landesrundfunkgesetz von Niedersachsen.

Insgesamt war somit die "Erfolgsbilanz" der SPD-Opposition im Bundestag in der abstrakten Normenkontrolle sowohl zwischen 1949 und 1966 als auch zwischen 1982 und 1998 negativ. Bis auf eine Ausnahme endeten alle Verfahrensinitiativen entweder ergebnislos oder mit einem Misserfolg der Antragsteller. Der SPD-Fraktion ist es in ihrer Oppositionszeit nicht gelungen, die abstrakte Normenkontrolle erfolgreich als Kontrollinstrument gegenüber der Bundesregierung bzw. der Bundestagsmehrheit einzusetzen. Ein wenig besser sieht das Ergebnis bei den Verfahrensinitiativen "oppositioneller" SPD-geführter Landesregierungen aus. So wurde zwischen 1951 und 1966 bei immerhin 12 von 17 Anträgen voll oder teilweise im Sinne der Antragsteller entschieden.

Beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden Oppositionsphasen, was die Funktionalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit betrifft, oder gar eine Tendenz zu einer stärkeren Instrumentalisierung des Gerichts lassen sich aus den Antragszahlen nicht ableiten. Zwar gab es nach 1982 eine geringe Zunahme bei den Anträgen SPD-geführter Landesregierungen, aber diese führten auch zu einer größeren Zahl an verfassungsgerichtlichen Niederlagen. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass es sich bei einem beträchtlichen Teil dieser Verfahren eigentlich um föderative Streitigkeiten handelte. Einige richteten sich gegen Landesrecht, und bei einigen ging es auch um die Bestätigung einer Norm. Fünf bzw. dreizehn Anträge "oppositioneller" SPD-Landesregierungen endeten mit einem Misserfolg, ein Verfahren wurde wegen Antragsrücknahme eingestellt.

Organstreit

Die Bilanz der von der SPD-Opposition eingeleiteten Organstreitverfahren bedarf einer differenzierten Analyse. Auf den ersten Blick könnte man nämlich den Eindruck gewinnen, dass die SPD mit jeweils fünf Klagen in beiden Oppositionsphasen den Organstreit auf ähnliche Weise in der Auseinandersetzung mit der Regierungsmehrheit einsetzte (vgl. Tabelle 2).

Dies war allerdings keineswegs der Fall. Denn in der ersten Oppositionsphase der SPD waren vier von fünf Anträgen unmittelbar nach der Gründung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1952 eingereicht worden. Diese "verfassungsgerichtliche Offensive", die im Übrigen der deutlich kompetitiv ausgerichteten Oppositionsstrategie der SPD nach der Gründung der Bundesrepublik entsprach, richtete sich vorwiegend gegen außenpolitische Akte der Regierung Adenauer. Die Klagen waren zugleich die ersten, die eine Oppositionsfraktion gegen die Bundesregierung eingeleitet hatte. Somit konnte noch niemand wissen, wie restriktiv das Bundesverfassungsgericht auf derartige Anträge reagieren würde. Nachdem die SPD-Fraktion in dieser Testphase nur Niederlagen erlitten hatte, verzichtete sie bis 1966 darauf, noch einmal eine Organklage zu initiieren. Eine Rolle spielte aber auch die Tatsache, dass die SPD seit Anfang der sechziger Jahre eine mehr und mehr kooperative Oppositionsrolle einnahm.

In ihrer zweiten Oppositionsphase griff die SPD-Fraktion im verfassungsrechtlichen Konflikt mit der Regierungsmehrheit wieder etwas häufiger auf das Organstreitverfahren zurück. Den Anfang machte im Jahr 1983 das Verfahren wegen des Rechts des so genannten "Flick-Untersuchungsausschusses" auf Vorlage von Akten der Bundesregierung, das die SPD-Fraktion gemeinsam mit der Grünen-Fraktion einreichte. Das Gericht gab in diesem Verfahren den Antragstellern Recht, so dass das Verfahren als Erfolg für die SPD-Opposition gewertet werden kann. Diese positive Erfahrung gab vielleicht den Ausschlag dafür, dass die SPD-Fraktion bis 1998 noch drei weitere Organklagen einreichte, die jeweils zu einem Teilerfolg führten. Drei davon hatte die SPD in den Jahren 1992/93 wegen des Einsatzes der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bündnisgebietes eingereicht. Das Gericht verwarf hier zwar die meisten Anträge der Opposition, erkannte jedoch eine Verletzung der Rechte des Bundestags an, weil die Entsendung der Bundeswehr ohne vorherigen konstitutiven Parlamentsbeschluss durchgeführt worden war.

Organklagen auf der Grundlage des Antragsrechts politischer Parteien hat die SPD in ihrer gesamten Oppositionszeit nicht eingereicht.

Bund-Länder-Streitverfahren

Das Bund-Länder-Streitverfahren hatte in den ersten Jahren nach der Gründung des Bundesverfassungsgerichts zunächst keine Bedeutung als Rechtsmittel der Opposition, sondern diente vielmehr als Instrument der Bundesregierung zur Durchsetzung von Bundesrecht gegenüber "oppositionellen" Landesregierungen. Erstmals leitete aber im Jahr 1957 mit Niedersachsen eine SPD-geführte Landesregierung ein Bund-Länder-Streitverfahren gegen die Bundesregierung in die Wege.

Im Bund-Länder-Streitverfahren ergibt die statistische Analyse ein ähnliches Bild wie bei den übrigen Verfahrensarten: In beiden Oppositionsphasen setzte die SPD etwa gleich viele Verfahren in Gang. Erfolge hat die SPD dabei nur in ihrer ersten Oppositionsphase erzielt (vgl. Tabelle 3).

Zwischen 1951 und 1966 wurden vier von fünf Verfahren im Sinne des Antrags entschieden - darunter auch die Klagen Hessens und Hamburgs gegen das Vorhaben der Regierung Adenauer zur Gründung einer "Deutschland-Fernsehen-GmbH". Das Verfahren führte im Jahr 1961 zum ersten "Sieg" überhaupt, den die SPD-Opposition gegen die Regierung Adenauer vor dem Bundesverfassungsgericht erzielen konnte. Diese guten Ergebnisse im Bund-Länder-Streit konnte die SPD in ihrer zweiten Oppositionsphase nicht wiederholen. Im Gegenteil: Zwischen 1982 und 1998 hat keine einzige Klage einer SPD-geführten Landesregierung zum Erfolg geführt. Drei von vier Klagen wurden zurückgewiesen, darunter im Jahr 1990 die Klage des Landes Nordrhein-Westfalen gegen die Weisung der Bundesregierung zur Erteilung einer Teilgenehmigung für den Schnellen Brüter in Kalkar.

2.

Die Verfahrensinitiativen der CDU/CSU-Opposition 

Die Christlich-Demokratische Union (CDU) und ihre bayerische Schwesterpartei Christlich-Soziale Union (CSU) mussten erstmals mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 die Rolle der Opposition im Bundestag übernehmen. Bis 1982, als die CDU/CSU durch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) die Führung der Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) wiedererlangte, verbrachte sie 13 Jahre auf den harten Bänken der Opposition. Auch die Union hat in dieser ersten Oppositionsphase eine Reihe von verfassungsgerichtlichen Verfahren gegen die Bundesregierung eingeleitet. Einige Verfahren sind als die kontroversesten Verfassungsstreitigkeiten überhaupt in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. So entstand vielfach der Eindruck, dass die Union in ihrer Oppositionszeit den "Gang nach Karlsruhe" häufiger angetreten habe als vorher die SPD-Opposition. Einige warfen der Opposition gar eine ständige Instrumentalisierung des Gerichts für politische Zwecke vor. Wird dies von der Verfahrensstatistik bestätigt?

Abstrakte Normenkontrolle

Die CDU/CSU hat in ihrer ersten Oppositionsphase zwischen 1969 und 1982 insgesamt 18 abstrakte Normenkontrollen initiiert. Drei Anträge erfolgten aus der Mitte des Bundestags und 15 durch den Antrag CDU- bzw. CSU-geführter Landesregierungen (vgl. Tabelle 4).

Von den drei Verfahren, die von der CDU/CSU-Opposition im Bundestag ausgegangen waren, wurden zwei im Sinne der Antragsteller entschieden. Dabei handelte es sich um die Normenkontrollen wegen der Neuregelung des Paragraphen 218 im Jahr 1974 und um die Wehrpflichtnovelle des Jahres 1977, die das Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz und für nichtig erklärte. Die Nichtigerklärung der angegriffenen Gesetze wog umso schwerer, als diese jeweils zentrale Elemente des sozialliberalen Reformprogramms darstellten. Im Verfahren wegen der Überschreitung der Kreditobergrenze im Haushaltsgesetz 1981 konnten die Karlsruher Richter dagegen keine Verfassungsverletzung erkennen. Diese Normenkontrolle wurde allerdings erst im Jahr 1989 abgeschlossen, als die CDU/CSU die Oppositionsrolle längst wieder abgegeben hatte.

Auch die Verfahrensinitiativen von CDU- bzw. CSU-geführten Landesregierungen in der abstrakten Normenkontrolle haben zwischen 1969 und 1982 in den meisten Fällen zu einer für die Antragsteller positiven verfassungsgerichtlichen Entscheidung geführt. Von 15 Verfahrensanträgen wurden zehn ganz im Sinne der Antragsteller entschieden. Der Großteil dieser Anträge richtete sich - wie die Verfahrensinitiativen der parlamentarischen Opposition - gegen die Neuregelung des Paragraphen 218 sowie gegen die Wehrpflichtnovelle der sozialliberalen Koalition. Parlamentarische Opposition und "oppositionelle" Landesregierungen gingen somit in diesen Fällen gemeinsam vor, was möglicherweise deren Erfolgschancen verbesserte. Daneben führten der Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum Arbeitsplatzförderungsgesetz 1977 und der gemeinsame Antrag fünf unionsregierter Länder zum Staatshaftungsgesetz 1981 zu einer Nichtigerklärung der angegriffenen Gesetze.

Das von der Bayerischen Staatsregierung im Jahr 1973 initiierte Normenkontrollverfahren wegen des Grundlagenvertrags mit der DDR hatte zwar nicht die Nichtigerklärung des Vertragsgesetzes zur Folge, das Bundesverfassungsgericht verknüpfte seine Entscheidung aber mit so engen rechtlichen Leitlinien für die Deutschlandpolitik der Bundesregierung, dass das Verfahren zumindest als Teilerfolg der Antragsteller gewertet werden muss. Lediglich vier Verfahrensinitiativen "oppositioneller" unionsgeführter Landesregierungen hat das Bundesverfassungsgericht nicht im Sinn der Antragsteller entschieden.

Aus der absoluten Zahl der Verfahrensinitiativen in der abstrakten Normenkontrolle lässt sich somit nicht erkennen, dass CDU und CSU zwischen 1969 und 1982 mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts eine obstruktivere Oppositionsrolle als vorher die SPD gespielt hätten. Insbesondere die Zahl der Anträge aus den Reihen der parlamentarischen Opposition ist so gering - drei Anträge in 13 Jahren - dass von einer ständigen Instrumentalisierung des Gerichts durch die CDU/CSU-Opposition nicht die Rede sein kann (zum Vergleich: Die SPD-Fraktion hatte zuvor in 14 Jahren neun Verfahren eingeleitet). Berücksichtigt man überdies, dass eine ganze Reihe von Anträgen "oppositioneller" Landesregierungen gegen ein und denselben Sachverhalt gerichtet waren - so betrafen allein fünf Anträge die Neuregelung des Paragraphen 218, drei Anträge die Wehrpflichtnovelle -, dann kann auch kaum davon gesprochen werden, dass die Union den Weg nach Karlsruhe häufiger gegangen wäre als vorher die SPD. Lediglich die bayerische CSU war wohl eher dazu bereit, die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung auch vor dem Bundesverfassungsgericht zu führen. Hierfür spricht die im Vergleich mit CDU-geführten Landesregierungen größere Zahl von Verfahrensinitiativen durch die Bayerische Staatsregierung.

Organstreitverfahren

Andere Verfahrensarten hat die Union zwischen 1969 und 1982 nur ausnahmsweise in Gang gesetzt. So wurde von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag während ihrer Oppositionsphase nur ein einziges Organstreitverfahren eingeleitet (vgl. Tabelle 5). Dieses betraf die Bewilligung außerplanmäßiger Ausgaben am Ende des Haushaltsjahrs 1973, die der Bundesfinanzminister unter Berufung auf Art. 112 GG ohne Zustimmung des Bundestags genehmigt hatte. Die Oppositionsfraktion sah darin einen Verstoß gegen das Budgetrecht des Bundestags aus Art. 110 GG. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sah dies ebenso und erklärte die Organklage der CDU/CSU für begründet.

Im Jahr 1976 leitete die Bundespartei CDU ein Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung ein, weil diese ihrer Auffassung nach durch die Veröffentlichung einer Reihe von Zeitungsanzeigen und Informationsblättern auf rechtswidrige Weise zugunsten der Regierungsparteien SPD und FDP in den Bundestagswahlkampf 1976 eingegriffen hatte. Die Mehrheit des Zweiten Senats erklärte auch diese Organklage für begründet und sah im Vorgehen der Regierung einen Verstoß gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes sowie eine Verletzung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit.

Die Erfolgsbilanz der Verfahrensinitiativen der CDU/CSU-Opposition fällt somit - bei freilich geringer Fallzahl - bei den Organstreitverfahren ebenfalls positiv aus. In beiden Klagen ist es der Opposition gelungen, die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Durchsetzung der eigenen Rechtsposition einzusetzen.

Bund-Länder-Streitverfahren

Im einzigen zur Zeit der sozialliberalen Koalition von einem unionsgeführten Bundesland angestrengten Bund-Länder-Streitverfahren ging es um die Frage, ob der Bund durch die Durchführung des so genannten "Einmaligen Sonderprogramms für Gebiete mit speziellen Strukturschwächen" im Jahr 1974 gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen habe. Bereits im Vorfeld des Verfahrens hatten mehrere CDU-geführte Landesregierungen - aber keine SPD-Regierungen - verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Bewilligungsverfahren des Sonderprogramms geäußert. Als die Bundesregierung das Programm trotzdem durchführte, leitete die CSU-geführte Bayerische Staatsregierung mit Erfolg ein Bund-Länder-Streitverfahren ein.

3. Verfahrensinitiativen anderer Oppositionsparteien im Bundestag

Neben den großen Volksparteien haben seit 1949 auch einige kleinere Parteien, die bei Bundestagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen konnten, die Funktion der parlamentarischen Opposition wahrgenommen. Dazu gehörten in der ersten Legislaturperiode (1949-1953) die Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV), die Bayernpartei, die KPD und das Zentrum, welche die Oppositionsfunktion gemeinsam mit der SPD wahrnahmen. Zwischen 1966 und 1969 war es die FDP, die in der Zeit der Großen Koalition die Rolle der Oppositionsfraktion alleine übernahm. Von 1983 bis 1990 und erneut von 1994 bis 1998 befanden sich die Grünen bzw. Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam mit der SPD in der Opposition, und seit der ersten gesamtdeutschen Wahl (seit 1990) zusätzlich die PDS. Seit 1998 ist auch die FDP wieder in der Rolle einer parlamentarischen Minderheit.

Bis 1984 hat keine dieser kleinen Oppositionsfraktionen bzw. -gruppen das Bundesverfassungsgericht zur Durchsetzung eigener Rechtspositionen angerufen. Sogar die FDP, die sich in ihrer Oppositionszeit der Übermacht der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD gegenübersah, ist in dieser Zeit nicht vor das Karlsruher Gericht gezogen, obwohl etwa mit dem Streit über die Notstandsverfassung durchaus politisch und rechtlich heftig umstrittene Fragen entstanden waren. Die Grünen entdeckten hingegen schon bald nach ihrem Einzug in den Bundestag, dass sich das Bundesverfassungsgericht auch als oppositionelles Instrument bzw. als "Mitkontrolleur" gegen die Regierungsmehrheit einsetzen lässt. Dafür kam, da den kleinen Oppositionsfraktionen in der Regel die Aktivlegitimation für die abstrakte Normenkontrolle fehlt, nur das Organstreitverfahren in Betracht. Auch Bund-Länder-Streitverfahren dürften für kleine oppositionelle Fraktionen ohne Bedeutung sein, da die kleinen Parteien, wenn sie auf Landesebene an Regierungskoalitionen beteiligt sind, als "Juniorpartner" kaum den Anstoß zu Verfassungsklagen geben dürften.

Die Grünen

Die Initiativen der Grünen im Organstreitverfahren haben zwischen 1983 und 1998 zu neun verfassungsgerichtlichen Entscheidungen geführt. Da-von ergingen fünf auf Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion, vier auf Antrag der Bundespartei Die Grünen bzw. Bündnis 90/Die Grünen (vgl. Tabelle 6).

Die Anträge der Grünen-Bundestagsfraktion haben nur in einem einzigen Fall zu einem Erfolg der Antragstellerin geführt. Dabei handelte es sich um die im Jahr 1983 gemeinsam von den Grünen und der SPD eingeleitete Organklage gegen die Bundesregierung, die dem so genannten Flick-Untersuchungsausschuss eine Reihe von Akten vorenthalten hatte. Die Organklage der Grünen-Fraktion wegen der Aufstellung der Pershing-II-Raketen im Jahr 1983 wurde dagegen zurückgewiesen, ebenso die Klage wegen der Nichtbeteiligung der Grünen-Fraktion an der Beratung der Wirtschaftspläne der Geheimdienste im Jahr 1983/84. Ein Verfahren wurde wegen Überschreitung der Antragsfrist verworfen.

Bei denjenigen Organstreitverfahren, die von der Bundespartei Bündnis 90/Die Grünen aufgrund des Antragsrechts politischer Parteien eingeleitet worden waren, halten sich Erfolge und Misserfolge die Waage. Eine Verletzung der Rechte der Partei Die Grünen erkannte das Bundesverfassungsgericht im Verfahren wegen der Anwendung der Fünf-Prozent-Klausel bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Jahr 1990 sowie im Jahr 1992 im Verfahren wegen der Parteienfinanzierung. Zurückgewiesen wurden die Klage im Jahr 1983 gegen die Gewährung von Globalzuschüssen zur politischen Bildungsarbeit an parteinahe Stiftungen und die Klage wegen der Parteienfinanzierung im Jahr 1984.

PDS

Relativ ausgeglichen stellt sich auch die Erfolgsbilanz der vier bisher erledigten Organklagen der PDS dar (vgl. Tabelle 7). Gleich die erste Organklage der PDS überhaupt - im Jahr 1990 wegen der Einführung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl - wurde vom Bundesverfassungsgericht im Sinne der Antragsteller für begründet erklärt. Verworfen wurde demgegenüber der Antrag aus dem Jahr 1991, mit dem die PDS die Unterstellung ihres Vermögens unter die Verwaltung der Treuhandanstalt verhindern wollte. Diese beiden Verfahren hatte die PDS als politische Partei beantragt.

Zwei weitere Organklagen wurden von der Abgeordnetengruppe der PDS im Bundestag eingereicht, mit deren Hilfe sie jeweils die Anerkennung ihrer Gruppe als Fraktion durchsetzen wollte. Wenigstens einen Teilerfolg erzielte die PDS-Gruppe dabei im Jahr 1991. Den Hauptantrag wiesen die Karlsruher Richter zwar als unbegründet zurück, aber sie erkannten doch eine Verletzung der Rechte der Antragstellerin darin, dass der Bundestag ihr nicht das Recht auf Mitgliedschaft in den Ausschüssen nach § 55 GOBT eingeräumt hatte. Ein zweites Verfahren im Jahr 1995 wurde dagegen als unbegründet zurückgewiesen.

IV. Zusammenfassung

Die Analyse aller bis Ende 2000 abgeschlossenen verfassungsgerichtlichen Verfahren führt zu dem Ergebnis, dass die großen Parteien SPD und CDU/CSU in ihren jeweiligen Oppositionszeiten das Kontrollorgan Bundesverfassungsgericht durchaus auf ähnliche Weise nutzten. Lediglich zu Beginn der fünfziger Jahre, in einer gewissen "Testphase" also, kann man eine etwas offensivere verfassungsgerichtliche Strategie der SPD erkennen. Nach dieser "Testphase", in der die Sozialdemokraten nur Niederlagen erlitten, unterscheidet sich das Klageverhalten der SPD statistisch kaum mehr von dem der nachfolgenden CDU/CSU-Opposition. Allenfalls bei der CSU kann zwischen 1969 und 1982 eine etwas größere Klagebereitschaft beobachtet werden. Der Eindruck mancher Beobachter, die CDU/CSU-Opposition habe die Reformen der sozialliberalen Koalition mit Hilfe der Karlsruher Richter "blockiert" , ergab sich somit nicht etwa daraus, dass die Union den Weg nach Karlsruhe häufiger beschritten hätte als vorher oder nachher die SPD. Der Eindruck ergab sich vielmehr aus der Tatsache, dass die Union bei ihren Verfassungsklagen erfolgreicher war als andere oppositionelle Antragsteller.

Warum dies so war, lässt sich mit drei möglichen Faktoren erklären: Erstens bewegten sich einige Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition tatsächlich in einem verfassungsrechtlich sensiblen Bereich, etwa in der Deutschlandpolitik oder auch bei der Einführung der Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch. Die Regierung ging damals also bei einigen Politikvorhaben ein verfassungsrechtliches Risiko ein, das die CDU/CSU-Opposition nutzen konnte. Zweitens fällt auf, dass die Union in ihrer Oppositionszeit häufig gemeinsame Verfahrensanträge von Bundestagsfraktion und Landesregierungen einreichte. Häufiger als bei der SPD scheint die Union demnach ihr verfassungsgerichtliches Vorgehen in einem größeren Kreis von Antragstellern abgestimmt und koordiniert zu haben. So sah sich die Bundesregierung vor den Schranken des Karlsruher Gerichts nicht selten der geballten juristischen Kompetenz der Länderverwaltungen gegenüber. Dies mag der Argumentation der Opposition einige prozessuale Vorteile verschafft haben. Drittens fällt die Erfolgsbilanz der CDU/CSU-Opposition statistisch besser aus, weil sie in insgesamt weniger Fällen geklagt hat. Mit häufigeren Verfahrensanträgen wäre wohl auch das Risiko verfassungsgerichtlicher Niederlagen gestiegen. Ob - wie vereinzelt spekuliert wurde - darüber hinaus auch die parteipolitische, ideologische oder soziale Verortung der Karlsruher Richter zwischen 1969 und 1982 zu einem für die CDU/CSU günstigeren Umfeld geführt hat, dürfte im Einzelnen schwer nachzuweisen sein.

Bei den kleineren Oppositionsfraktionen lässt sich erst mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag eine Nutzung des Verfassungsgerichts zur Durchsetzung eigener Rechtspositionen beobachten. Die Grünen und später die PDS strebten bei ihren Verfahrensanträgen meist eine Verbesserung ihrer parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten ein, die sie entweder für sich selbst oder in Prozessstandschaft für den ganzen Bundestag einforderten. Dabei erlitten die jeweiligen Antragsteller zwar eine Reihe von Niederlagen, aber in einigen Fällen - z. B. 1991 bei der Frage der Anerkennung der PDS als Fraktion, wo das Bundesverfassungsgericht in weitem Umfang die Rechte einer parlamentarischen Gruppe anerkannte - führten solche Klagen durchaus zu einer Stärkung oppositioneller Aktionsrechte.

Fasst man die Ergebnisse der einzelnen Oppositionsparteien zusammen, so zeigt sich, dass der Erfolg oppositioneller Verfahrensinitiativen in den einzelnen Verfahrensarten sehr unterschiedlich ausgefallen ist (vgl. Tabelle 8).

Trat die parlamentarische Opposition selbst als Antragstellerin auf - in der abstrakten Normenkontrolle als ein Drittel der Mitglieder des Bundestags oder im Organstreitverfahren als Fraktion -, war das Ergebnis verfassungsgerichtlicher Klagen in den meisten Fällen für die Opposition nicht befriedigend. Noch als relativ erfolgreich erwiesen sich die Organklagen, wo die Oppositionsfraktionen zwischen 1951 und 1999 bei etwa 44 Prozent aller Anträge einen teilweisen oder völligen Erfolg in Karlsruhe erzielen konnten. Demgegenüber endeten die von parlamentarischen Minderheiten initiierten abstrakten Normenkontrollen nur bei einem Viertel aller Anträge mit einem Sieg der Opposition.

Diese Bilanz hat ihre Ursache wohl in der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Verfahrensarten: Wenn es im Wege des Organstreits um den Schutz der Rechte des Parlaments oder um die Verteidigung von parlamentarischen Minderheitsrechten ging, hat sich das Bundesverfassungsgericht offenbar tendenziell oppositionsfreundlicher gezeigt als in den Verfahren, die sich auf dem Wege der abstrakten Normenkontrolle gegen die materielle Politik der Regierungsmehrheit wandten.

Viel erfolgreicher war die Opposition, wenn nicht die parlamentarische Minderheit im Bundestag selbst, sondern befreundete Landesregierungen das verfassungsgerichtliche Verfahren in Gang setzten. In der abstrakten Normenkontrolle wurden auf diesem Wege 59 Prozent und im Bund-Länder-Streit 55 Prozent aller Anträge mit einem völligen oder teilweisen Erfolg der Antragsteller entschieden. Daraus kann man schließen, dass sich das Bundesverfassungsgericht tendenziell auch dann oppositionsfreundlicher zeigte, wenn es um föderative Fragen ging. Da "oppositionelle" Landesregierungen aber auch in anderen Politikbereichen Erfolge in Karlsruhe erzielten, scheinen Anträge von Landesregierungen zudem gewisse prozessuale Vorteile zu haben. Landesregierungen können sich - ganz im Gegensatz zur parlamentarischen Minderheit im Bundestag - auf einen beträchtlichen Justizapparat stützen, dessen Sachkompetenz möglicherweise Auswirkungen auf den Prozessverlauf haben kann. Auch haben Landesregierungen gegenüber der Bundestagsopposition den Vorteil, über eine bessere finanzielle Ausstattung zu verfügen.

Die Antwort auf die Frage, ob die parlamentarische Opposition im Bundestag den institutionellen "Vetospieler" Bundesverfassungsgericht effektiv zur Kontrolle der Regierung und der Bundestagsmehrheit einsetzen konnte, fällt somit differenziert aus. Verfahrensanträge der parlamentarischen Minderheit selbst führten in der Vergangenheit meistens zu einer verfassungsgerichtlichen Niederlage der Opposition, Klagen "oppositioneller" Landesregierungen hatten dagegen eine insgesamt positive Erfolgsbilanz. Diese rein quantitative Analyse macht freilich keine Aussagen über die rechtliche und politische Bedeutung der einzelnen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Denn offensichtlich haben einige von der Opposition initiierte Verfahren entscheidend zum Ausbau der Verfassungsordnung beigetragen, während andere ohne große Konsequenzen blieben oder einfach von der Entwicklung überholt wurden.

Festzuhalten ist, dass es der jeweiligen Opposition seit der Gründung der Bundesrepublik in insgesamt 53 Klagen gelungen ist, das Handeln der Regierung bzw. der Regierungsmehrheit ganz oder teilweise rückgängig zu machen. Das mag insgesamt gesehen eine niedrige Erfolgsquote sein, aber im Prinzip kann die Opposition durchaus hoffen, Mehrheitsentscheidungen mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts zu stoppen. Und umgekehrt ist das Bundesverfassungsgericht, das nicht von sich aus tätig werden kann, in einer parlamentarischen Demokratie auf den Widerspruchsgeist der Opposition angewiesen.

Die Opposition sollte den "Vetospieler" Bundesverfassungsgericht jedoch verantwortungsbewusst einsetzen. Die Opposition ist durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zwar in die Lage versetzt, ihre schwache Position als Minderheit im Bundestag zu kompensieren - wie sie dies bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen auch mit Hilfe des Bundesrates kann. Dies gelingt ihr aber, ohne vom Wähler zur Mehrheit gemacht worden zu sein. Die Opposition besitzt für die Funktionalisierung des Bundesverfassungsgerichts wohl eine rechtsstaatliche, aber keine demokratische Legitimation. Diese besitzt jedoch die parlamentarische Mehrheit, die vom Wähler beauftragt ist, ihre politischen Ziele und Gesetzgebungsprojekte zu realisieren. Die Bedeutung des Ausgangs von Wahlen nimmt ab, wenn die Opposition das Handeln und die Gesetzgebungsvorhaben der demokratisch legitimierten Mehrheit ständig der politischen Diskussion entzieht und durch fortwährende Verfassungsklagen das Verfassungsgericht zum eigentlichen Entscheidungsorgan macht. Mit der Zahl der Verfassungsprozesse nimmt zudem immer auch die Kritik am Gericht selbst zu. Das verfassungsgerichtliche Verfahren kann deshalb kein Mittel sein, dessen sich die Opposition im politischen Alltag bedient. Gefordert ist neben einem "judicial self-restraint" der Richter bei der Beurteilung politischer Fragen auch ein "political self-restraint" der Opposition bei der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.

Alles in allem kann man aber den bisher agierenden Oppositionsparteien nicht vorwerfen, dass sie das verfassungsgerichtliche Verfahren auf unverantwortliche Weise für politische Zwecke instrumentalisiert hätten. Die nüchterne empirische Bilanz beweist eher das Gegenteil. In der politisch-publizistischen Diskussion wird hier oft bedenklich verallgemeinert, vereinfacht und übertrieben - oder einseitig aus der Sicht des Verlierers geurteilt. Angesichts der eher geringen und über fünf Jahrzehnte in etwa konstant gebliebenen Zahl an verfassungsgerichtlichen Initiativen der Opposition kann man auch nicht von einem Trend zu einer Justizialisierung der Politik sprechen. Eine kritische Analyse der Erfolgsbilanz der bisher abgeschlossenen Verfahren dürfte dazu führen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1974, S. 225.

  2. Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997, S. 307.

  3. Vgl. Aktuelle Verfahrensstatistik bei www.bundesverfas-sungsgericht.de/cgi-bin/link.pl?presse

  4. H.-P. Schneider (Anm. 1), S. 225.

  5. Vgl. Klaus Stüwe, Die Opposition im Bundestag und das Bundesverfassungsgericht, Baden-Baden 1997, S. 76.

  6. Vgl. George Tsebelis, Decision Making in Political Systems: Veto Players in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism and Multipartyism, in: British Journal of Political Science, 25 (1995), S. 289; Nicos Alivizatos, Judges as Veto players, in: Herbert Döring (Hrsg.), Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfurt/M.-New York 1995.

  7. Klaus Stüwe, Der Gang nach Karlsruhe, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 4 (1997), S. 545.

  8. Vgl. Bundesverfassungsgericht (Hrsg.), Entscheidungen (BVerfGE). Bde. 1-101, Tübingen 1952 ff.

  9. Vor allem Art. 93 I GG.

  10. Vor allem ½½ 13, 36 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).

  11. H.-P. Schneider (Anm. 1), S. 221.

  12. Paragraph 64 I BVerfGG; vgl. auch BVerfGE 68, 1 (72 f.).

  13. Berücksichtigt wurden nur Entscheidungen in der Hauptsache, also z. B. keine Entscheidungen über einstweilige Anordnungen im Vorfeld eines Urteils. Bei denjenigen Verfahren, die eine gemeinsame Rechtsfrage betrafen und deshalb vom Bundesverfassungsgericht zu einer gemeinsamen Entscheidung verbunden wurden, wurde das Ergebnis dieser Entscheidung jeweils als Ergebnis der einzelnen Verfahrensanträge betrachtet. Anträge einzelner (fraktionsloser) Abgeordneter im Organstreit wurden nicht berücksichtigt.

  14. Das Verfahren zum Länderfinanzausgleich (BVerfGE 72, 330) wurde von fünf SPD-geführten Landesregierungen in Gang gesetzt: Nordrhein-Westfalen (1 BvF 1/83), Bremen (1 BvF 6/83), Hamburg (1 BvF 1/84), Hessen (1 BvF 1/85), Saarland (1 BvF 2/85). Ein Antrag im selben Verfahren kam vom CDU-geführten Baden-Württemberg (1 BvF 5/83).

  15. 2 BvE 1/51 (BVerfGE 1, 144), 2 BvE 3/51 (BVerfGE 1, 351), 2 BvE 2/51 (BVerfGE 1, 372), 2 BvE 1/52 (BVerfGE 2, 347).

  16. Petersberger Abkommen, Deutsch-Französisches Wirtschaftsabkommen, Kehler Hafenvertrag.

  17. Vgl. K. Stüwe (Anm. 5), S. 310.

  18. Vgl. BVerfGE 11, 6 (Verwaltungsakte des Bundes).

  19. Vgl. Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, Baden-Baden 1980, S. 176.

  20. Neben diesen Anträgen der Partei und der Gruppe/Fraktion der PDS hat sich das Bundesverfassungsgericht noch mit einer Reihe von Organklagen des Abgeordneten Gregor Gysi beschäftigen müssen, mit deren Hilfe er seine Überprüfung auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR verhindern wollte (BVerfGE 94, 351; 97, 408; 99, 19). Die Anträge wurden alle zurückgewiesen.

  21. Klaus Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, in: Frankfurter Rundschau vom 8.2.1979.

  22. Vgl. Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, Tübingen 2000, S. 480.

  23. Vgl. Klaus Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, München 1994³, S. 316.

  24. Vgl. Rainer Wahl, Quo Vadis - Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 81; Rainer Faupel, Das Bundesverfassungsgericht in Nöten. Vorschläge der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Justiz, 52 (1998), S. 57-63.

Dr. phil., M.A., geb. 1966; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I der Katholischen Universität Eichstätt.

Anschrift: Katholische Universität Eichstätt, Lehrstuhl für Politikwissenschaft I, Universitätsallee 1, 85071 Eichstätt.
E-Mail: klaus.stuewe@ku-eichstaett.de

Veröffentlichungen u. a.: Die Opposition im Deutschen Bundestag und das Bundesverfassungsgericht, Baden-Baden 1997; William Penn und das Projekt der Europäischen Union, in: Der Staat, 38 (1999).