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Beobachtete Tendenzen zur Ausbildung einer ostdeutschen Teilkultur

Dietrich Mühlberg

/ 25 Minuten zu lesen

Der Übergang einer modernen Großpopulation in ein anderes Gesellschaftssystem löste einen kulturellen Assimilationsprozess aus. In diesem bildeten die Ostdeutschen zugleich neue Kulturformen.

I. Vorbemerkungen

Wer sich über die kulturelle Situation informieren möchte, die mit der neuen Bundesrepublik entstanden ist, hat Mühe, sich im Durcheinander gegensätzlicher Auffassungen zu orientieren. Der Beitritt der DDR-Gesellschaft hat das kulturelle Selbstverständnis aller Deutschen - wenn auch auf unterschiedliche Weise - fragwürdig werden lassen. Ganz offensichtlich irritieren kulturelle Differenzen zwischen Deutschen, sind diese doch sprachlich und ethnisch gleich. Und so kann man hören, dass eine ostdeutsche Teilkultur ein völliges Unding wäre, weil die deutsche Kultur immer unteilbar gewesen sei und den mentalen Untergrund des jüngsten nationalen Einheitsstrebens gebildet habe. Weil in dieser Logik zusammenwächst, was zusammengehört, wird jeder, der Differenzen vermutet oder gar betont, verdächtigt, der inneren Einheit der Deutschen entgegenzuarbeiten. Die aber brauchen wir, denn "wir sind ein Volk".

Eine der Gegenmeinungen lautet, von der DDR sei ausschließlich ihre Kultur übrig geblieben, alles andere wäre mit dem SED-Staat untergegangen. Das entspricht auch der Formel im Einigungsvertrag, dass die "kulturelle Substanz" der DDR zu erhalten wäre. Doch was könnte das sein und wer befindet über das Substantielle?

Andere beobachten im Osten ein völliges kulturelles Vakuum: Die marxistischen Glaubenssätze gälten nicht mehr, eine Re-Christianisierung habe nicht stattgefunden, moralische Haltlosigkeit, primitiver Materialismus und anomische Zustände wären die unvermeidlichen Folgen.

Angesichts jugendlicher Gewalttaten vermuten die einen desorientierende kulturelle Leere, die anderen die Folgen einer spezifischen politischen Kultur des Ostens, in der die DDR-Geschichte nachwirke: "Autoritarismus, Antipluralismus, Freund-Feind-Denken, Kollektivismus" wären ihre Merkmale. Gemessen an einer "deutschen Leitkultur" handelte es sich hier dann um eine Art Unkultur.

Folgt man dem Paradigma vom Wertewandel in den westlichen Gesellschaften, so erscheint der ostdeutsche Wertehaushalt als ein konservativer Bestand, der in seiner vormodernen Gesamtanlage nicht mit dem Wertegefüge der im Westen bestimmenden Schichten vereinbar ist. Solche Aussagen implizieren die Annahme von Kulturstufen: Ostdeutsche stehen mit einem Bein noch in der Vormoderne. Zugleich zeigt uns die jüngste Debatte über die Leitkultur , dass es offenbar eine dominante, herrschende, eine leitende Kultur in Deutschland gibt, der untergeordnete Kulturen in einigen wesentlichen Positionen zu folgen haben. Überdies fällt auf und gibt zu denken, dass diese Überlegungen zur kulturellen Beschaffenheit der neuen bundesdeutschen Gesellschaft fast ausschließlich von Westdeutschen angestellt werden, welche die zu beobachtende schnelle Assimilation der Ostdeutschen für einen ganz selbstverständlichen und begrüßenswerten Vorgang halten.

Die hier angedeutete Verwirrung ist mindestens doppelt: Zum einen ist strittig, ob die ostdeutsche Teilgesellschaft auch kulturelle Eigenheiten besitzt oder gar eine eigene Teilkultur ausgebildet oder zu beanspruchen habe; zum anderen ist nicht ganz klar, wovon überhaupt die Rede ist, wenn über diese Kultur gestritten wird.

In dieser Situation sind erklärende Vorbemerkungen unerlässlich. Zunächst muss aus Gründen politischer Korrektheit betont werden, dass "Ostkultur" beileibe nicht das wichtigste Thema ist, wenn über die kulturelle Situation in Deutschland gesprochen wird. Doch ist die kulturelle Verfassung der Ostdeutschen ein Aspekt aller aktuellen Kulturdebatten; und dies selbstverständlich ganz besonders bei der Beobachtung der ostdeutschen Transformationsprozesse. Denn zu diesem komplexen Wandel gehört ein geschichtlich wohl einmaliger kultureller Assimilationsprozess, der mit dem plötzlichen Übergang einer modernen Großpopulation in ein anderes, in vielen Punkten gegensätzliches Gesellschaftssystem verbunden war und ist. Für Kulturhistoriker ist selbstverständlich, dass ein solcher Übergang sich über mehrere Generationen hinzieht, er also mindestens solange dauert, wie die Eingewöhnung in ein staatssozialistisches Gesellschaftssystem brauchte. Anders gesagt: Die ostdeutsche Kulturgeschichte hat zwei Phasen - die erste begann 1945, die zweite 1990.

Damit ist auch schon angedeutet, was hier unter Kultur verstanden wird. Entgegen dem deutschen Wertbegriff "Kultur", wird der ethnologisch-empirische Kulturbegriff verwendet. Er ist den meisten Deutschen nur schwer zu vermitteln, weil sie daran gewöhnt sind, unter Kultur das Reich der höheren Werte und Tätigkeiten zu verstehen, im Kern das zeitlos Gute, Wahre und Schöne. Dies ist nicht nur für das deutsche Feuilleton weitgehend selbstverständlich, sondern auch für die Politik: Denn für sie gehört alles dazu, was die öffentliche Hand zu pflegen verpflichtet ist, weil die diskursprägenden Gruppen es für den unveräußerbaren Bestand an hoch geschätzten Institutionen halten: Opernhäuser und Gottesdienste, Museen und Musikschulen, Denkmäler und Künstlerateliers, die Goethe-Institute, Mahnmale und Archive. Pflicht und Recht zur Filmförderung sind schon strittig, weil hier die Grenze zwischen Kultur und Kommerz bereits überschritten zu sein scheint.

Wissenschaftlich kann Kultur nicht als das fraglos und universell Gültige verstanden werden. Das gerade ist sie nicht, sondern die recht spezifische Summe derjenigen Mittel und Medien, über die Gesellschaften, Gruppen und Milieus zum Zwecke einer angemessenen Sozialisation ihrer Mitglieder verfügen. Selbstverständlich sind diese "Instrumente" in ihrem Geltungsbereich sakrosankt und werden hoch geschätzt - schon weil sie dort auch subjektiv, "verinnerlicht" existieren. Als "individuelles Vermögen" sind sie gleichfalls real und wirksam. Da innerhalb großer Gesellschaften der Gegenwart - also unterhalb der "nationalen Ebene" - zugleich viele andere Gemeinschaftsbildungen stattfinden, ist das Gegeneinander, das Neben- und Miteinander von Teil-, Gruppen- und Szenekulturen, ihre Vermischung und Überschneidung völlig normal. Gewöhnlich ist heute jeder Einzelne vielfältig kulturell eingebunden. Nicht nur Deutsche jüdischer oder türkischer Herkunft besitzen gewöhnlich zwei Identitäten, auch für Deutsche ostdeutscher Herkunft ist das eher normal.

Wird eine (in sich selbstverständlich differenzierte) regionale Teilgesellschaft der Ostdeutschen angenommen - wie es Rainer Geißler und andere Sozialwissenschaftler vorgeschlagen haben -, dann kann es sinnvoll sein, auch eine ostdeutsche Teil- oder Minderheitenkultur anzunehmen. Ein theoretisches Problem besteht dann darin, dass es wohl annähernde Vorstellungen davon gibt, wie Kulturen moderner Großgesellschaften in ihren Strukturen abgebildet werden könnten (gewöhnlich mit dem von deutschen Wissenschaftlern eher umgangenen Begriff der Nation verbunden), dass jedoch über Teil- und Minderheitenkulturen der hier vorliegenden Art noch wenig bekannt ist. Die Forschung hat sich bislang auf Sub- und Gegenkulturen konzentriert, hat Klassenkulturen untersucht und sich bei den Minderheiten auf ethnische Gruppen spezialisiert. Das ist für unseren Fall wenig hilfreich, wie hier auch die Studien zu lokalen und regionalen Kulturen kaum weiterhelfen. Wegen ihrer Anschaulichkeit sind mehrfach publizistische Vergleiche mit der kulturellen Differenz zwischen den US-amerikanischen Nord- und Südstaaten und mit einer ähnlichen Spaltung der italienischen Gesellschaft angestellt worden. Für Westdeutsche einleuchtend war auch der Hinweis, sie müssten nun damit leben, dass zu der vertrauten Nord-Süd-Differenz in Deutschland die zwischen West und Ost dazukomme. Aber lässt sich über solche sinnfälligen Analogien hinaus etwas über kulturelle Spezifika sagen, die bei allen heutigen Ostdeutschen mehr oder weniger ausgeprägt zu finden sind und mit Eigenheiten ihrer Lebensbedingungen korrespondieren?

II. Untersuchungsfelder: Was gehört zur Kultur?

Wollte man etwas grundsätzlicher nach Tendenzen ostdeutscher Kulturbildung forschen, müsste man sich vier "Bereichen", Feldern oder Ebenen zuwenden, die - stark vereinfachend gesagt - die Kulturen von Gesellschaften strukturieren. Für diese vier Gebiete wäre danach zu fragen, ob nennenswerte ostdeutsche Eigenheiten vorliegen. Danach mag entschieden werden, inwiefern es sinnvoll ist, von einer Teilkultur zu reden, die sich von einer analogen westdeutschen Teilkultur abhebt bzw. einer groß- oder gesamtdeutschen Kultur zugeordnet ist.

Die zu betrachtenden kulturell relevanten Felder der ostdeutschen (wie jeder anderen modernen) Teilgesellschaft wären

1. das System der in dieser Regionalgesellschaft gültigen Werte und die mentale Ausstattung ihrer Menschen;

2. die Muster, kulturellen Formen, nach denen das Alltagsverhalten dieser Population abläuft;

3. die Semantik ihrer deutschen Sprache wie der Kosmos der Zeichen und Symbole, an dem sie sich orientieren, der Sicherheit gibt und Identität durch Abgrenzung vom Fremden ermöglicht;

4. schließlich das System jener Institutionen, die als mediale Vermittler und Bewahrer dieser Eigenheiten wirksam sind (die Sprache ebenso wie die Museen, Denkmäler, Geschichtsbücher, Fernsehredaktionen usw.).

Da dies in einer knappen Darstellung nicht abzuarbeiten ist, müssen jeweils einige Andeutungen genügen.

1. Werte und die mentale Ausstattung der Menschen

Wertsystem und mentale Verfassung der Ostdeutschen sind relativ gut untersucht. Drei Andeutungen sollen das belegen.

Recht zuspitzend ist erstens die Schlussfolgerung, die Albrecht Göschel aus seinen umfangreichen Studien zur Kulturauffassung deutscher Bildungsschichten in Generationenfolge gezogen hat. Unvermittelbar stünden sich Ost und West gegenüber: hier eine "essentialistische Wertauffassung" mit der Vorstellung von einem humanen Wesen, von einer verbindlichen Kultur, die anzueignen ist und sich im Einzelnen auf verschiedene Weise ausprägt; dort dagegen überwiege eine "distinktive Identität", ein Individualismus als Selbstentwurf der Person.

Wenig davon finde sich im Osten, "erhalten hat sich in der DDR-spezifischen Mentalität nicht der Sozialismus, sondern die frühbürgerliche Basis, auf der er normativ aufbaute, die Vorstellung eines humanen Wesens, das in Varianten, aber doch in allgemeinen, universalen Kategorien im Einzelnen präsent ist" . Die damit verbundene essentialistische Identitätskonstruktion wird auch von anderen Autoren als ein kaum zu überwindendes kulturelles Hindernis für die geistige Einheit der Deutschen gesehen. Sie nähre bei den Ostdeutschen ein moralisch und wesenhaft begründetes Sendungsbewusstsein, welches das westliche Demokratiemodell ablehnt und Vernünftigkeit wie Legitimität des demokratischen Rechtsstaates anzweifelt, weil beide Institutionen Interessendifferenzen ebenso voraussetzen wie die Verschiedenheit der individuellen Wertvorstellungen und Lebensentwürfe. Eine Individualität, die sich in der Abgrenzung zu anderen Selbstentwürfen bildet, die gleichfalls auf Distinktion, auf Unterscheidung angelegt sind, müsse den Ostdeutschen fremd bleiben. Folgerichtig sähen sie in den Westdeutschen oberflächliche, auf Distanz bedachte Selbstdarsteller.

Weniger zugespitzt sehen - zweitens - Heiner Meulemann und andere "Mentalitätsforscher" die kulturellen Unterschiede. Sie kamen nach Auswertung diverser Umfrageergebnisse zu dem Schluss, dass die Ostdeutschen - bei weitgehender Übereinstimmung in vielen Grundpositionen - deutlich andere Akzente setzen, wenngleich auch sie sich zu Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Chancengleichheit bekennen. Diese Begriffe haben in der Semantik ihrer Sprache eine andere Bedeutung. Indes dürfte die beobachtete stärkere Gewichtung von sozialen Voraussetzungen für Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Mitbestimmung für nichtbesitzende Schichten generell charakteristisch sein.

Drittens schließlich sei daran erinnert, dass die vergleichende Forschung auch festgestellt hat, dass die beiden Großgruppen von Deutschen auf beinahe einmalige Weise mit sich im Reinen sind. Die Fremdbilder, die sie jeweils voneinander entwickelt haben, stimmen mit ihren Selbstbildern weitgehend überein. Die Ostdeutschen möchten genau so sein, wie sie von den Westlern gesehen werden, und diese wiederum sind befriedigt von dem Bild, das die Ostler von ihnen haben. Offenbar haben die wechselseitigen Vorurteile bereits den Charakter einer dauerhaften kulturellen Realie angenommen. Was nur heißt, dass auf beiden Seiten die andere wie die eigene soziale Realität durch die Brille des Vorurteils "falsch" wahrgenommen wird.

Dies wurde u. a. in einer Studie der Universität Trier ausgewiesen, die das Bild nachzeichnete, das Ostdeutsche von ihren westlichen "Brüdern und Schwestern" haben: Diese seien machtgierig, zielstrebig und selbstbewusst. Und genau dieser Charakterisierung stimmen Westdeutsche im Wesentlichen zu. Sie selbst beschreiben sich mit ausgeprägt egoistischen Eigenschaften. Recht gegensätzlich dazu schätzen Westdeutsche den typischen Ostdeutschen ein: Er sei hilfsbereit, freundlich und ehrlich. Das sehen die ostdeutschen "Gutmenschen" ganz ähnlich und zeichnen sich selbst als moralische Menschen; sie ordnen sich die Wesenszüge zuverlässig, hilfsbereit und pflichtbewusst zu. Im Klartext meinen die befragten Westdeutschen: Die Ossis sind fügsame und gutmütige Trottel und sind auch noch stolz darauf, wir dagegen wissen, wo es lang geht.

2. Muster des Alltagsverhaltens

Für die zweite Betrachtungsebene von Teilkultur ist auszumachen, dass sich die Muster des Alltagsverhaltens in allen modernen Industriegesellschaften recht ähnlich sind. Selbstverständlich sind es die neuen Lebensbedingungen selbst, die eine schnelle Angleichung an westliche Verhaltensstandards ermöglichen und erzwingen. Überdies war der Übergang in eine Konsum- und Freizeitgesellschaft schon in der DDR durch Honecker mit den Beschlüssen von 1971 eingeleitet worden. Bekanntlich wirkte es sich für das Gesellschaftssystem der DDR katastrophal aus, sich auf einen Wettstreit mit der konsumorientierten Marktgesellschaft einzulassen. Dies erzeugte bei der Mehrheit der Ostdeutschen eine sich steigernde (und bis heute anhaltende) Erwartung, es den Westdeutschen gleichzutun. Schon darum schien die weitere Anpassung nach 1990 weitgehend problemlos zu sein. Ostdeutsche sind zwar noch immer rabiate Autofahrer, können aber mit allen zivilisatorischen Errungenschaften der modernen Massengesellschaft problemlos umgehen .

Dennoch bleibt festzuhalten, dass für beinahe alle Verhaltensbereiche deutliche Unterschiede nachgewiesen worden sind: für Ernährungsgewohnheiten, Sexualverhalten, Umgang mit dem Gelde, für die Zeiteinteilung und den Rhythmus der Abläufe, für die Beziehung zum eigenen Körper, für die Art der Selbstdarstellung, für Gartengestaltung und Wohnungseinrichtung, für Parteipräferenzen und Wählerverhalten. Solche Eigenheiten werden teils zur Abgrenzung zum hereingebrochenen Westen ausgestellt (etwa wenn weiterhin demonstrativ "Kaufhalle" und "Plaste" gesagt wird), teils aber ängstlich vermieden (um sich nicht als Ostler zu outen oder um als richtiger Westler zu gelten). Großenteils aber werden sie gar nicht bemerkt und aus Gewohnheit beibehalten.

Und darin deutet sich vermutlich ein entscheidendes Defizit auf dieser kulturellen Ebene an: Ostdeutsche haben mehrheitlich noch keinen Lebensstil ausgebildet, mit dem sie sich ausdrücklich von dem jeweils vergleichbaren sozial-kulturellen Milieu des Westens entweder deutlich abheben oder aber als zugehörig in ihm akzeptiert werden. Sie kennen viele der neuen symbolischen Bedeutungen ihrer alltäglichen Verhaltensweisen noch nicht. In welches Chaos abstruser Unerträglichkeiten eine stilbewusste Westdeutsche geraten kann, hat Luise Endlich in ihrem Erfolgsbuch "Neuland" beschrieben, als sie ihre Ich-Erzählerin ganz naiv berichten ließ, wie deren stilsicherer Schönheitssinn an der formlosen Hässlichkeit ostdeutscher Menschenkörper, an der Missgestalt ihrer Kleidung, Haltung und Sprache, an den groben Umgangsformen und dem gleichgültigen Eklektizismus der Interieurs unendlich litt und wie alle ihre gut gemeinten Angebote am Unverständnis selbstgefälliger Menschen abprallten. Nadja Klinger hat die aufgebrachten ostdeutschen Leser verteidigt und ihre Empörung zu entschuldigen versucht: "Wer will schon lesen, wie absurd gekleidet er tagtäglich herumrennt, welch salonunfähiges Kauderwelsch er spricht, wie borniert er sich gegenüber Fremden benimmt?"

3. Der Kosmos der Zeichen und Symbole

Damit ist auf die dritte Betrachtungsebene verwiesen: auf den Kosmos der Zeichen und Symbole, an dem sich die Menschen orientieren, der ihnen Sicherheit gibt, Identität und Abgrenzung vom Fremden ermöglicht. Im Osten ist nach 1990 alles Vertraute - das Geliebte wie das Ungeliebte - weitgehend abgeräumt worden, Spuren davon sind heute nur noch im engeren Umfeld zu finden.

Die neue bundesweite Öffentlichkeit ist anders eingerichtet und nimmt kaum Rücksicht darauf, dass die Ostdeutschen nun dazugehören. Sie kommen nur am Rande und in untergeordneten Sphären vor (eine der vielen medialen Programmanalysen hat u. a. ergeben: Hunde treten häufiger im Fernsehen auf als Ostdeutsche). Aufgrund der Hegemonie des westdeutschen Blicks (und damit der Außensicht) ist noch nicht einmal klar auszumachen, worin das eigenartige Verhältnis der Ostdeutschen zu sich und zu ihrer Vergangenheit tatsächlich besteht und an welchen Symbolen es sich festmacht. Am vertrauten Ampelmännchen?

Das Verschwinden und Ausbleiben der bekannten Zeichen mit ihren geläufigen Bedeutungen hat das Alltagsverständnis von Zugehörigkeit und Herkunft zerstreut und zur Neuorientierung gezwungen. Dabei stehen Ostdeutsche etwas traditionslos im sozialen Raum, weil ihnen eine eigene Erinnerungskultur ausgerechnet zu einer Zeit verwehrt wird, in der in Europa ein spürbarer kultureller Wandel stattfindet. Mit der klaren Teilung der Welt verschwanden auch die zukunftsorientierten Utopien und wurden von der Topographie der Erinnerung abgelöst. Es ist darum keineswegs zufällig, dass die Hauptorte ostdeutscher Selbstbestätigung gegenwärtig die Museen, Sammlungen und Ausstellungen sind. Hier sprechen die Bilder und Objekte "für sich selbst", hier kann sich an ihnen - scheinbar unvermittelt - eigene Erfahrung festmachen, hier besitzen die Ostdeutschen ein Erinnerungs- und Deutungsmonopol.

Auf welche Nebenschauplätze die Ostdeutschen ausweichen müssen, zeigt der naive kultische Umgang mit Erinnerungsstücken aus der DDR, vor allem mit ihrer noch kürzlich geschmähten Ding- und Bilderwelt, mit Fahnen, Uniformen, Mopeds, Trabant-Autos, politischen Festformen, mit Schlagern, ostdeutschen Speisen, mit skurrilen Alltagsgegenständen, Grußformeln usw. Dazu bieten Ausstellungen, Videos, Spiele, Events, Bilderbücher, CDs, Poster, Internetseiten usw. ein marktgängiges Erinnerungsmaterial, das die Alltagskommunikation anregt. DEFA-Filme und alte Polizeiruf-Serien kommen wieder in Mode, und so genannte "Ostprodukte" werden zu Reliquien, an denen sich ostdeutsches Selbstbewusstsein aufbaut: Es war doch nicht alles schlecht, wir hatten auch Gutes und wir pflegen es!

Dass sich die Erinnerungskultur kaum über diese Ebene erheben kann, liegt an der Rechtfertigungsposition, in die so gut wie alle Ostdeutschen durch die umfassende Kampagne zur Delegitimierung des Realsozialismus geraten sind. Es ist heute ganz geläufig - etwa in der Debatte über die DDR-Literatur -, dass jeder in die Ecke gestellt wird, der das Land nicht vor 1989 verlassen hat. Auch die bürgerbewegten Ostdeutschen haben sich sagen lassen müssen, dass sie ja nur innerhalb des Systems opponiert hätten. In der westdeutsch geprägten Öffentlichkeit wurde es üblich, Adornos missverstandenes Urteil über die entfremdete bürgerliche Gesellschaft gegen "die Ostdeutschen" zu wenden: Niemals könne es ein "wahres Leben im falschen" geben . Jedermann sah sich genötigt (nicht wenige zu ihrem Erstaunen erneut), etwas abzuschwören und sich zu etwas zu bekennen. Etliche wurden so zu erstaunlichen Versionen ihrer Biographie veranlasst. Und noch immer kann Vergangenheit von den Ostdeutschen nicht ohne persönliches Risiko als Geschichte erzählt werden.

4. Bewahrung kultureller Eigenheiten durch Institutionen

Schließlich sei ein Blick auf das System jener Institutionen geworfen, die als Kommunikatoren und Bewahrer kultureller Eigenheiten wirksam sind. Im Kern wäre das eine kulturelle Öffentlichkeit, die auf feineren kommunikativen Netzwerken aufliegt. Eine solche Öffentlichkeit - in diesem Befund sind sich alle einig - gibt es im Osten nicht . Was sich 1989/90 gebildet oder umgebildet hat, hielt dem Markt nicht stand oder ist durch politische Entscheidungen abgebaut und dann verhindert worden. Darin sehen Kommunikationswissenschaftler auch die Ursache dafür, dass Ost- und Westdeutsche weitgehend kommunikationslos nebeneinander leben. "In wichtigen Politikfeldern sind die Ostdeutschen kaum an den Debatten beteiligt . . . Und wir müssen uns nur die Medienredaktionen in Ostdeutschland anschauen, in denen kaum Ostdeutsche zu finden sind. Das gilt besonders fürs Fernsehen. Auch in der von mir hochgeschätzten ,Zeit' stammen von 70 Redakteuren gerade mal ein oder zwei aus dem Osten. Bei den anderen Zeitungen liegen die Dinge ähnlich."

So wie es inzwischen eine geläufige Vorstellung ist, dass die DDR als tatsächlich bindende Gemeinschaft erst nach ihrem Untergang entstehen konnte - selbstverständlich nur als eine Erfahrungs-, Erzähl- und Bewältigungsgemeinschaft -, ist es auch mit der institutionellen Seite der "ostdeutschen Kultur". Sie begann sich erst nach 1990 neu zu bilden. Jenseits einer "symbolischen Laienpraxis" verfügen die Ostdeutschen nur ansatzweise über ein funktionierendes Medium der Aneignung, der inneren Verständigung, der Präsentation und Mitwirkung, der Selbstdarstellung innerhalb der dominanten, westdeutsch geprägten Kultur. Verursacht wurde dieses Defizit durch das Aufgeben eigenstaatlicher Strukturen, durch den Verlust aller Organisationen und Kommunikationsnetze und durch die Ausschaltung ihrer Funktionseliten. Bei dieser Sachlage kann nur sehr bedingt von der Existenz einer "ostdeutschen Teilkultur" gesprochen werden. Dennoch: Es nimmt die Zahl der eigenen Institutionen, Projekte und Kommunikationen, der Bücher, Bilder, Filme und Theaterstücke, der sozialen Analysen und politischen Konzepte zu, mit denen Ostdeutsche selbständig in die Öffentlichkeit der Bundesrepublik treten wollen. Das gelingt noch selten, weil die westlichen "Herren der Diskurse" in all dem verständlicherweise nur ostspezifische Probleme sehen, die man besser nicht so hoch hängt. Übrigens auch, weil alles "Ostige" die Quote in den Keller drückt.

Doch der so genannte deutsch-deutsche Bilderstreit der Künstler und Kunstwissenschaftler über die Bewertung der aus der DDR überkommenen Kunstwerke hält nun schon mehrere Jahre an und wurde zum Diskurs über die Chancen heutiger Kunstströmungen. Bei allem Wandel bleiben ostdeutsche Künstler ihren ikonographischen Traditionen wie ihrem Funktionalitätsverständnis meist treu und nicht nur die Älteren neigen dazu, den westlichen Kunstbetrieb als kultivierte Belanglosigkeit zu sehen. Analoges ist bei den Schriftstellern zu beobachten, denen ein realistischerer Blick auf die westdeutsche Gesellschaft attestiert wird, der "auf einer doppelten, von westdeutschen Autoren so nicht zu imaginierenden Bruch-Erfahrung beruht . . . potenziert durch das Wegbrechen ihrer Ursprungsgesellschaft, lassen [sie] unvermeidlich die Risse auch in der neuen Welt aufscheinen, ganz so, als blicke einer auf die Oberfläche eines vielfach gesplitterten Spiegels" . Jedenfalls nehmen in jüngster Zeit die Hinweise darauf zu, dass ostdeutsche Künstler und Autoren Spezifisches einzubringen haben.

III. Herausbildung einer ostdeutschen Teilkultur?

Nach diesen andeutenden Hinweisen auf Bildungsformen kultureller Eigenheiten oder einer Teilkultur sei ein Ausblick versucht. Unstrittig hängt es von der prognostizierten Gesellschaftsentwicklung ab, ob man in den genannten kulturellen Besonderheiten letzte Nachklänge aufgegebener Kulturformen in einem weitgehend abgeschlossenen Assimilationsprozess sieht oder ob man Gründe dafür hat, sie als starke Anzeichen einer neuartigen Minderheitenkultur zu interpretieren. Welches Zukunfts-Szenario lässt welche kulturelle Entwicklung für wahrscheinlich halten?

Verlängert man in die Zukunft, was seit 1996/97 von Politikern euphemistisch "Verlangsamung" des Aufschwungs Ost genannt wird, genauer aber als wirtschaftliche Stagnation bezeichnet werden muss, dann bleibt Ostdeutschland auf lange Zeit eine alimentierte Region zerfallender sozialer Ordnungen und Bindungen, eine trostlose Gegend auch kulturellen Niedergangs. Bestenfalls könnte sich etwas Ähnliches wie die süditalienische Mentalität selbstverständlicher Dauer-Alimentierung herausbilden. Allerdings liefert der italienische Süden beständig junge Leute für den Norden. Diese "Gegengabe" fiele hier schon wegen der Überalterung des Ostens weg, die durch die (von staatlichen Sonderprogrammen unterstützte) Abwanderung eines beträchtlichen Teils der Jugendlichen eingetreten ist. Als die "Verlangsamung" sichtbar wurde, hat diese Abwanderung wieder kontinuierlich zugenommen, und außer der Sehnsucht nach der ostdeutschen Heimat sind keine möglichen Gründe für eine spätere Rückkehr zu erkennen. Glaubt man dagegen daran, dass sich im Osten alles wendet, sich das hier vorhandene Innovationspotential entfalten kann und ganz neue Wege zum wirtschaftlichen Durchbruch in einer globalisierten Welt führen, dann werden die Ostdeutschen so erfolgreich und selbstbewusst sein, wie es heute viele Bayern sein können, und werden dann vielleicht "deutsche Leitkultur" definieren wollen.

Auch jenseits solcher zuspitzenden Visionen sprechen etliche Daten dafür, dass es auf absehbare Zeit zwei deutsche Kulturen oder zwei kulturelle Strömungen in Deutschland geben wird, daneben und dazwischen selbstverständlich viele andere Teil- und Gruppenkulturen, auf deren Einflüsse hier nicht eingegangen werden kann.

Mit Sicherheit wird ostdeutsche Kultur noch längere Zeit als das subjektive Vermögen, als die mentale Ausstattung der Ostdeutschen weiter bestehen. Denn trotz hoher Mobilität und jugendlicher Abwanderung werden sie selbstredend ihr geschlossenes Siedlungsgebiet zum größeren Teil nicht verlassen, ihre kulturellen Eigenheiten sind also auch regional gestützt. Zugleich heiraten sie lieber unter sich, sind also erstaunlich endogam, "Mischehen" zwischen Ost- und Westdeutschen sind eher selten. Und auch die aus der Kulturgeschichte bekannten Regeln, nach denen Gruppen, Milieus, Regionen oder - wie im Falle der Ostdeutschen - auch Teilgesellschaften eigene Kulturen ausbilden, sprechen für die Dauerhaftigkeit ihrer Eigenheiten. So gehört zu den Voraussetzungen solcher Bildungen eine gemeinsame Vergangenheit, eine eigene Geschichte, die - im positiven oder negativen Sinne - die aktuelle Position in der übergreifenden Gemeinschaft nachhaltig beeinflusst und darum zu eigener Traditionsbildung veranlasst. Man mag dabei an den kulturellen Nachhall einer langen geschichtlichen Prägung der ostelbischen Gebiete denken, von größerem Gewicht aber dürfte die Zeit der Teilung nach 1945 gewesen sein. Sie ist für alle Beteiligten erfahrene Geschichte, gemeinsame Vergangenheit, gleichgültig welche soziale und politische Position sie einst eingenommen haben, ob sie Verfechter oder Gegner des Realsozialismus waren. Diese besondere Erfahrung scheint keine Sache allein der Alten zu sein, die sich mit den Folgegenerationen schnell verwächst. Einiges spricht dafür, dass die exklusive Beziehung zur ostdeutschen Geschichte auch von den heute Fünfundzwanzigjährigen geteilt wird. Gerade das hat etwa der optimistische Politologe Thomas Kralinski an den unerschrockenen ostdeutschen Jungen hervorgehoben: "Aus drei Zutaten kommt die ,neue Moderne': das soziale Gewissen aus der DDR-Zeit, die Fähigkeit, neu zu denken und sich zurechtzufinden, aus der Wende-Zeit und der unbedingte Wille zum Erfolg aus der Kapitalismuserfahrung."

Ein weiterer Umstand könnte die Dauerhaftigkeit kultureller Eigenheiten bewirken. Nach heutigen Prognosen werden mehrere Unterschiede in den Lebensbedingungen von langer Dauer sein. Sonderinteressen, die aus einer besonderen Position innerhalb der Großgesellschaft folgen, haben sich zu allen Zeiten als Antriebe eigener kultureller Bildungen erwiesen. Für eine durch das Privateigentum geprägte Gesellschaft haben Unterschiede in den Besitzständen auch gravierende kulturelle Folgen. Die Zehnjahresstatistik aller Eigentumsformen weist für die durchschnittliche ostdeutsche Familie zwar einen beträchtlichen Anstieg aus, doch die prozentual kleineren Zuwächse im Westen sind absolut gesehen bedeutend größer ausgefallen. Darum ist - gemessen am durchschnittlichen "Westdeutschen" - der statistische "Ostdeutsche" heute deutlich "ärmer" als vor zehn Jahren und weiß das auch. Da die in den Eigentumsverhältnissen liegenden Ursachen sich nicht verändern, wird sich dieser Unterschied in den nächsten Jahren weiter vergrößern. Zugleich wird er mit der tendenziellen Privatisierung sozialer Leistungen von stärkerem Gewicht für den Lebensalltag der Bevölkerungsmehrheit im Osten sein.

Aktuelle Debatten deuten darauf hin, dass die Ostdeutschen an den Aushandlungsprozessen über ihre politische, rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Gleichstellung in der bundesdeutschen Gesellschaft stärker beteiligt sein wollen . Für die abzuschätzenden kulturellen Folgen ist bemerkenswert, dass solche Ansprüche in höchst unterschiedlichen symbolischen Handlungen angemeldet werden. Dazu gehören alle Äußerungen so genannter "Ostalgie", die bekannten Ossi-Wessi-Witze und die gewalttätigen Demonstrationen "echten Doitschtums" ebenso wie alle anderen Äußerungen einer latenten Unzufriedenheit mit den "gesellschaftlichen Verhältnissen" , die häufig in einem seltsamen Kontrast zur eigenen Lage stehen und sich an dem Gefühl fest macht, wieder oder weiterhin benachteiligt zu sein.

Für die Art von relativ dauerhaften kulturellen Eigenheiten dürfte letztlich entscheidend sein, ob die ostdeutsche Teilgesellschaft eine Dynamik entwickelt, von der Impulse auf das Gesellschaftsganze ausgehen. Dafür bestehen einige Chancen. Die Ostdeutschen könnten sich sogar wieder in der Rolle experimentierender "Schrittmacher" oder - um eine Äußerung Lothar Späths aufzugreifen - als die Minenhunde neoliberaler Rationalisierung sehen. Dazu müssten einflussreiche Gruppen von Ostdeutschen in ihrer heimatlichen Region und ihren Menschen ein ganz außerordentliches Leistungs- und Innovationspotential sehen, das Erfolg versprechende Anstrengungen herausfordert. Ein solcher dynamischer Aufbruch hat, neben dem notwendigen "Produktivkapital" aller Art, auch kulturelle Voraussetzungen.

Dies ist noch Hoffnung und wird vielleicht politisches Programm. Unübersehbare Realitäten weisen eher in eine konservative, undynamische Richtung. Denn kulturelle Eigenheiten können auch modifiziert bewahrt werden, weil Ostdeutsche im politischen Felde die Gelegenheit haben, an gewohnte "Handlungskünste" (Michel de Certeau) anzuknüpfen. Die neue Situation befestigt kulturelle Praxen, mit denen sie schon früher "die Macht herrschender Strategien und Deutungskartelle . . . fintenreich unterlaufen" haben. Sieghard Neckel (wie andere Beobachter auch) meint, dass der politische Umbruch "figurativ" an jene Verhältnisse anschloss, die er überwinden wollte . Für die Mehrheit der Ostdeutschen war die Wende auch eine Kontinuitätserfahrung politischer Abhängigkeit; sie haben bis heute den Eindruck, dass alle wichtigen Entscheidungen über sie in Sphären getroffen werden, auf die sie keinen Einfluss haben. In ähnlicher Richtung wirksam ist auch die neue Position zu jenen Nachbargesellschaften, die für eine vergleichende Selbstbestimmung der Ostdeutschen relevant sind. Figurativ hat sich auch hier nichts geändert. Wie ehemals gegenüber den anderen Völkern im "sozialistischen Lager", geht es ihnen heute zwar deutlich besser und sie können jetzt auch überall mit guter Deutschmark zahlen (und sich als "echte Deutsche" aufführen), dennoch blieben sie gegenüber den Westdeutschen erneut Menschen zweiter Klasse - jedenfalls fühlen sich die meisten einstweilen so und haben das abzuarbeiten.

Selbstverständlich tragen zu kultureller Abgrenzung auch die vergleichbaren symbolischen Zurückweisungen der Westdeutschen bei, die sich vor allem in Unmut über ungerechtfertigte ostdeutsche Begehrlichkeiten äußern. Dass solche Verdrossenheit als politisch unkorrekt gilt, dürfte sie eher verstärken. Denn für sie ließen sich viele gute Gründe anführen, voran die Belastung als Steuerzahler, eine verordnete Solidarität. Die Formen reichen von den Witzen der Stammtische und Medien über die Ostberichterstattung des "Spiegels" bis in die wissenschaftliche Literatur und Belletristik. Kultur scheint das bevorzugte Medium zu sein, in dem ostdeutsche Sonderinteressen dargestellt und verhandelt werden. Auch wenn sie demnächst einen stärkeren politischen Ausdruck finden sollten, dürfte sich daran nicht viel ändern.

Die Abkühlung der deutsch-deutschen Beziehung könnte auch aus dem besseren wechselseitigen Kennenlernen erfolgt sein. Im Alltag weiß man jetzt besser, was vom anderen zu halten ist, redet nicht mehr vom Zusammenwachsen und hat die Illusion aufgegeben, dass sich die Ostdeutschen mehrheitlich auf das westliche Niveau "modernisieren" werden. Jeder kennt selbstverständlich Ostdeutsche, die so gar nicht dem Klischee entsprechen, und lebt ansonsten ganz normal mit den kulturellen Unterschieden. Sie gehen teils auf die Nerven, sind teils ganz anregend, eigentlich hat man aber andere Sorgen.

Als eine Ursache für die wachsende Reserve gegenüber allem "Ostdeutschen" wurde auch genannt, dass Westdeutsche - leicht beklommen - in Ostdeutschland eine eher düstere Zukunft vorweg genommen sehen: Im Osten hat man schon intensiver erfahren, dass die Konkurrenzökonomie das ganze Leben bestimmt. Weil viele soziale Bindungen nach 1990 wegbrachen, scheinen als Lebensinhalt oft nur Konsumfreude, Fernsehen und Autofahren geblieben zu sein. Auch in der Gleichgültigkeit den Kirchen und Parteien gegenüber sei man dem Westen ein ganzes Stück voraus. Und dies auch im Altern: War der Osten 1990 die deutlich jüngere Gesellschaft, so ist es nach einem Jahrzehnt umgekehrt. Junge Leute wanderten ab, und der "Gebärstreik" ist noch nicht beendet. Enthusiasmiert schrieb Susanne Gaschke: "Die Ex-DDR ist zu einer Art Labor für eine individualisierte Gesellschaft unter dem Druck der Globalisierung geworden." Nach solchen Szenarien ist "der Ostdeutsche" ein modernerer Menschentypus.

Allerdings deuten die üblichen medialen Bilder vom Ostdeutschen eher darauf hin, dass sich in der westdeutsch geprägten Öffentlichkeit nur ausnahmsweise Autoren dazu hinreißen lassen, in den ostdeutschen Besonderheiten avantgardistische Züge zu sehen. Auch dann wollen sie eher warnend anzeigen, was der ganzen Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten bevorstehen könnte. Weit normaler ist es, sich mit dem Ausmalen eines zurückgebliebenen Ostdeutschen von allen unangenehmen altdeutschen Eigenschaften symbolisch zu distanzieren. Gaben die Ostdeutschen über vierzig Jahre DDR-Sozialismus - als die "armen Brüder und Schwestern in der Zone" - eine Folie ab, vor der sich die eigene Leistung ganz gut abhob, so haben sie heute wieder eine verwandte Funktion. Sie dienen als Projektionsfläche symbolischer Verdrängungen . Wahrscheinlich sind "die Ostdeutschen" inzwischen zum unabweislichen kulturellen Problem der Westdeutschen geworden, fordern sie doch zu immer schärferer Abgrenzung heraus, denn sie signalisieren ihnen das Vormoderne, den "Rückfall". Keineswegs können sie im Osten Züge einer gemeinsamen Zukunft entdecken. Auch auf dieser Ebene scheinen die deutsch-deutschen Selbst- und Fremdbilder gut zu funktionieren: Als Kern eines jeden kulturellen Selbstverständnisses bestätigen sie die eigene Existenzweise und Lebensart.

Mit diesem kulturellen Konfliktpotential wäre klug umzugehen. Aus erklärter politischer Toleranz folgen noch keine konstruktiven Verhaltensweisen, die den kulturellen Dualismus ins Positive zu wenden verstehen. Sie wären auch schwerlich "von oben", also nach Plänen westdeutscher Führungsgruppen, zu "organisieren", sondern müssen aus der Selbstbehauptung jener Ostdeutschen hervorgehen, die sich - selbstverständlich neben vielfältigen anderen Bindungen - ausdrücklich ihrer regionalen Teilgesellschaft zugehörig und verbunden fühlen.

Dennoch scheint hier auch ein Problem der professionellen Politik zu liegen. Für die ostdeutschen Sozialdemokraten hat das Wolfgang Thierse angedeutet: "Nachdem sich eine schnelle Angleichung des Ostens an den Westen als Illusion herausgestellt hat, heißt das: Wer bleibt, wird es nicht ohne die eine oder andere Form der Identifikation mit Ostdeutschland tun. Wenn Abwanderung, Resignation oder dumpfe Reaktion nicht Markenzeichen Ostdeutschlands werden sollen, wenn sich Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst nicht noch weiter wechselseitig aufschaukeln und soziale Instabilität in vielen Regionen Nährboden für Rechtsradikalismus bleiben sollen, muss die Politik selbst mehr dafür tun, um Selbstwertgefühl, Bindung und Identifikation zu fördern."

Es gibt kaum Projekte für die ganze Republik, die die kulturelle Verschiedenheit akzeptieren und zu nutzen verstehen und den Ostdeutschen immer wieder mal auch das Gefühl geben, "wirklich" dazu zu gehören. Das ist freilich schwierig, denn einerseits verlangt das kulturelle "Nebeneinander" danach, stärker das Gemeinsame - auch in den Traditionen - zu suchen und zu betonen. Zugleich fordert es mehr Verständnis für die Differenz, mehr Respekt vor dem Befremdlichen, mehr Sinn dafür, dass nun einmal jede Kultur für sich durch Selbstverständlichkeit legitimiert ist. Und auch diesen Anspruch müssten Ostdeutsche einfach stärker betonen - können. In dieser Situation mag es hilfreich sein, ihre Eigenheiten auch als eine Teilkultur zu verstehen.

Internetverweise:

www.kulturinitiative-89.de

www.zzf-pdm.de

www.berlinerdebatte.de

www.wiedervereinigung.de

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diesem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 29. November 2000 auf der "11. Tagung Sozialunion in Deutschland" gehalten worden ist, die das SFZ Berlin-Brandenburg zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung veranstaltet hat.

  2. Armin Pfahl-Traughber, Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39/2000, S. 13.

  3. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu die Beiträge von Bassam Tibi, Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte, und Dieter Oberndörfer, Leitkultur und Berliner Republik. Die Herausforderung der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ist das Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/2001, S. 23-26 und S. 27 - 30.

  4. "Die Ostdeutschen" sind selbstverständlich eine hoch problematische Verallgemeinerung; das Statistische Bundesamt versteht etwas anderes darunter als die Zeithistoriker, Soziologen und Bevölkerungswissenschaftler, als die Politiker, das Standesamt, die Gerichte, die Bundesanstalt für Arbeit oder allgemein "die Westdeutschen". Hier sind - recht unscharf - entweder alle diejenigen gemeint, die unter die Sonderbestimmungen für Ostdeutsche fallen und die beträchtliche Phasen ihres Lebens in der DDR oder im "Beitrittsgebiet" verbracht haben. Man könnte auch die heutige Population der Neuen Bundesländer so bezeichnen.

  5. Albrecht Göschel, Kontrast und Parallele - kulturelle und politische Identitätsbildungen ostdeutscher Generationen, Stuttgart 1999; ders., Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur. Wandel des Kulturbegriffs in vier Generationen, Essen 1995. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Horst Groschopp in diesem Heft.

  6. Vgl. Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim-München 1998.

  7. Vgl. den Bericht über die GiP-Studie ("Gerechtigkeit als innerdeutsches Problem") des Psychologen Manfred Schmitt in: FOCUS, 17 (1998). Siehe auch Jürgen Maes/Ulrich Seiler/Martin Schmidt, Politische Einstellungen bei Ost- und Westdeutschen, in: Zeitschrift für Politische Psychologie, Sonderausgabe "Sozialisation und Identitäten", (1998) 34.

  8. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu den Beitrag von Laurence McFalls in diesem Heft.

  9. Luise Endlich, Neuland. Ganz einfache Geschichten, Berlin 1999.

  10. Nadja Klinger, Die Krawallmacher, in: Der Tagesspiegel vom 7.  8.  1999, S. 3.

  11. Vgl. die Thüringen-Studie des Hamburger Bredow-Instituts und der Universität Leipzig, Leipzig 1999.

  12. Christoph Dieckmann hat den Varianten solcher Nötigung Geschichten vom authentischen Leben entgegenstellt: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin 1998.

  13. Vgl. Otfried Jarren, Getrennte Wahrnehmungswelten, in: Der Tagesspiegel vom 2./3. 10. 1998, S. 45: Für ". . . die ostdeutschen Bürger fehlt es an einem (medialen) Angebot, um eine ostdeutsche Öffentlichkeit wahrnehmen zu können."

  14. Markus Meckel in: Bergedorfer Protokolle Nr. 115/1999 (Neue Dimensionen des Politischen?), S. 24.

  15. Thomas Ahbe, Ostalgie als Laienpraxis, in: Berliner Debatte INITIAL, (1999) 3, S. 87.

  16. Frauke Meyer-Gosau, Ost-West-Schmerz. Beobachtungen zu einer sich wandelnden Gemütslage, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.), DDR-Literatur der neunziger Jahre, Text+Kritik IX/00, Sonderband, S. 11.

  17. Thomas Kralinski, Die neuen Ostdeutschen, in: Berliner Republik, (2000) 4, S. 51.

  18. Vgl. dazu Edelbert Richter, Die Produktivvermögenslücke; Ulrich Busch, Die Illusion gleicher Lebensverhältnisse. Beide in: Hans Misselwitz/Katrin Werlich (Hrsg.), 1989: Später Aufbruch - Frühes Ende? Eine Bilanz nach der Zeitenwende, Potsdam 2000, S. 196 - 224.

  19. Nachdem ostdeutsche Interessen über längere Zeit vor allem von der PDS politisch artikuliert worden sind, ist nun auch die SPD mit ihrem "Forum Ostdeutschland" auf der Bundesebene stärker wirksam geworden.

  20. Ist bei Westdeutschen die Unzufriedenheit mit dem Zustand des Gesellschaftssystems seit dem letzten Regierungswechsel beträchtlich gesunken, blieb sie im Osten etwa konstant bei knapp zwei Dritteln der Befragten.

  21. "Wir sind im Osten die Minenhunde gewesen, wissen jetzt, was es bedeutet, Industriestrukturen rasch zu ändern", Lothar Späth im Juni 1998 gegenüber dem Hamburger Abendblatt.

  22. Rudolf Woderich, Allgegenwärtig, ungreifbar. Zur Entdeckung ostdeutscher Identitätsbildungen in Befunden der Umfrageforschung, in: Berliner Debatte INITIAL, (2000) 3, S. 110.

  23. Sighart Neckel, Etablierte und Außenseiter und das vereinigte Deutschland, in: Berliner Journal für Soziologie, (1997) 2, S. 205-215.

  24. Susanne Gaschke, Neues Deutschland. Sind wir nur eine Wirtschaftsgesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/2000, S. 24.

  25. Eine ganze Reihe von Autoren hält "den Ostdeutschen" darum für eine Erfindung des Westens.

  26. Wolfgang Thierse, Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland. 3. Januar 2001, www.ZEIT. DE.

Dr. sc. phil., geb. 1936; Professor für Kulturgeschichte, z. Z. mit einem kulturgeschichtlichen Projekt als Gastwissenschaftler am Zentrum für Zeithistorische Forschung tätig.

Anschrift: Zentrum für Zeithistorische Forschung, Am Kanal 4, 14467 Potsdam.
Email: dpo.muehlberg@berlin.sireco.net

Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte des Alltags im 19. u. 20. Jahrhundert, darunter zum "Leben in der DDR" und zum kulturellen Wandel nach 1990.