Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien? | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos Keine Lust mehr auf Parteien. Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien Sind die Grünen regierungsfähig? Politische Kultur und Parteien in Deutschland Sind die Parteien reformierbar? Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien?

Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien?

Stefan Marschall

/ 23 Minuten zu lesen

Parteien haben das Internet für sich entdeckt. Sie nutzen es zum einen für die Kommunikation mit ihrer Umwelt, vor allem mit den potenziellen Wählern in Wahlkampfzeiten.

I. Parteien und Internet: Fragestellungen

"Virtuelle Parteitage", "Virtueller Ortsverein", Parteien-Websites: Politik, auch Politik von und in Parteien, findet zunehmend auf dem Internet statt. Die "Digitalisierung" der Öffentlichkeit verändert die politischen Strukturen und Prozesse in Deutschland. Diese Entwicklung vollzieht sich in einer Zeit, in der die bundesdeutsche Parteienlandschaft von Finanzierungsskandalen und Organisationsproblemen betroffen ist. Parteien befinden sich nicht zum ersten Mal in einer (unterstellten) Krisensituation. Die hohe Sensibilität der Parteien gegenüber ihrer Gefährdung hat sie auch das Internet und sein mögliches Reformpotenzial ins Blickfeld nehmen lassen.

Internet-basierte Kommunikation prägt politische Kommunikation mittlerweile nachhaltig mit . Die Zahlen weisen darauf hin, dass immer mehr Personen über einen Zugang zum Internet verfügen und das Netz zur politischen Information verwenden, wenngleich das vorherrschende Motiv die Nutzorientierung zu bleiben scheint . Die Online-Aktivitäten der Parteien haben in Wissenschaft und Medien mittlerweile beträchtliche Beachtung gefunden. Dabei wird das Augenmerk darauf gerichtet, wie sich der bundesdeutsche Wahlkampf speziell und die politische Kommunikation generell durch den Einsatz von internet-basierter Kommunikation gewandelt haben. Im Weiteren soll eine alternative Fragestellung leitend sein, nämlich wie sich die Online-Aktivitäten der Parteien auf die innerparteiliche Willensbildung auswirken. Folgende Thesen sind zu überprüfen:

1. Der Einsatz des Internet durch die Parteien verändert die innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse wie auch die Organisationsform der Parteien.

2. Der Wandel der Kommunikationsstrukturen wirkt sich auf die Verteilung der Machtchancen innerhalb der Parteien sowie auf die Legitimation und die Handlungsfähigkeit der Parteien im politischen Prozess aus.

Dabei stellen sich folgende Fragen: Wie wandeln sich die innerparteiliche Kommunikation und Einflussverteilung infolge des Internet-Einsatzes? Wie verändert internet-basierte Kommunikation die Beziehung zwischen der Partei und dem Umfeld ihrer potenziellen Unterstützer? Bietet das Netz ungekannte Möglichkeiten der Öffnung der Parteien nach außen, Möglichkeiten, die wiederum auf die innerparteiliche Willensbildung Einfluss nehmen? Eröffnet Netzkommunikation neue Perspektiven für "Mitgliederparteien"?

Mit dem Stichwort "Mitgliederpartei" verbindet sich eine zeitgenössische Debatte um die Organisationsform der Parteien und ihre Perspektiven. Diese Debatte ist zunächst zu entfalten, um auf dieser Folie die Potenziale und Grenzen von Internet-Kommunikation abschätzen zu können.

II. Partei und Organisation: Strukturprobleme der Mitgliederpartei

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich die Parteien zu "Massenparteien" oder Mitgliederparteien entwickelt: Ihre Organisationsstruktur wird von der mitgliedschaftlichen Basis auf der einen Seite und der "Funktionärsklasse" auf der anderen Seite geprägt . Die Beziehung zwischen beiden Segmenten ist in der Parteienforschung intensiv diskutiert und problematisiert worden: Grundlegend und immer wieder zitiert findet sich in Robert Michels "ehernem Gesetz der Oligarchie" die Unterstellung, die hauptamtlichen Funktionäre koppelten sich gegenüber der Mitgliedschaft ab; ähnlich lautete schon zuvor das Ergebnis der Analysen von Moise Ostrogorski. Maurice Duverger hat in den fünfziger Jahren diese These aufgegriffen und auf einer breiteren Materialbasis die Beobachtungen von Michels und Ostrogorski fundiert, wenngleich er die demokratietheoretische Problematisierung weniger stark akzentuiert .

Auch in der zeitgenössischen bundesdeutschen Parteienforschung findet sich, freilich modifiziert, die These von der Verzerrung innerparteilicher Willensbildung. Beispielsweise skizziert Elmar Wiesendahl, wie sich Parteien in zwei Welten aufgeteilt haben : Auf der einen Seite die expressive Sphäre, in der zumeist auf lokaler Ebene die Mitglieder ihre sozio-emotionalen Bedürfnisse befriedigen, und abgekoppelt auf der anderen Seite die instrumentelle Sphäre der hauptberuflichen Funktionäre, welche Parteien als "vote-getting"-Organisationen wahrnehmen. Diese Trennung sei ein Ergebnis der Herausbildung einer Berufspolitikerkaste, die persönliche Interessen verfolge . Ähnlich argumentiert Klaus von Beyme : Ab Ende der siebziger Jahre seien in der Bundesrepublik "Parteien der Berufspolitiker (Profi-Parteien)" oder "professionalisierte Wählerparteien" entstanden, die sich zu einem großen Teil staatlich finanzieren ließen und innerhalb derer die "Aktivisten" funktionslos geworden wären.

Diese Spannung zwischen Mitgliedschaft und Parteielite wird durch einen aktuellen Trend verdichtet: Die Mitgliederentwicklung gerade der großen Parteien in der Bundesrepublik ist dramatisch rückläufig . Im Zusammenhang damit stehen Veränderungen in der Sozialstruktur (z. B. Überalterung) und der Partizipationsbereitschaft der Parteibuchinhaber . Dass es den meisten Parteien nicht mehr gelingt, ihre Mitgliedschaft zu halten oder auszubauen respektive ihre Mitglieder zu mobilisieren, wird vor allem dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet : Die Organisations- und Partizipationsbereitschaft in der Bevölkerung, vor allem bei jungen Menschen, habe generell beträchtlich nachgelassen und die Auflösung von Milieus zum Ende eines Parteityps geführt, der sich innerhalb bestehender gesellschaftlicher Gruppen fest eingebettet sah. Parteien bewegen sich hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Verankerung auf losem Terrain: Sowohl die Wählerschaft als auch die Mitgliedschaft der Parteien wird flüchtiger und unberechenbar. Die empirisch bestätigte Entwicklung weg von den mitgliederstarken und -aktiven Parteien wird von wissenschaftlichen und politischen Akteuren unterschiedlich bewertet:

Zum einen wird dieser Trend problematisiert, führe er doch zu einer weiteren Loslösung der politischen Akteure von der Gesellschaft. Mit den Worten von Wilhelm Hennis: Parteien sind "überdehnt und abgekoppelt" . Ihr mittlerweile gefestigter Einfluss im staatlichen Bereich ("überdehnt") entspreche nicht mehr ihrer gesellschaftlichen Fundierung ("abgekoppelt") und verliere damit an Legitimität. Gemeinsames Ziel der emanzipierten "Profi-Parteien" (Klaus von Beyme) sei es, in kartellförmiger Absprache miteinander machtpolitische und finanzielle Pfründe auszuschöpfen . Dem könne durch eine Neuverankerung der Parteien qua Wiederentdeckung der Mitgliedschaft entgegengewirkt werden. Vor allem Peter Haungs hat sich in seinem "Plädoyer" für die Mitgliederpartei dagegen ausgesprochen, die Entwicklung resignativ zur Kenntnis zu nehmen . Er führt Gründe für die Bestandsrettung der Mitgliederpartei an: Die Mitgliederbasis verleihe den Parteien demokratische Legitimität, und Parteien könnten ohne ein Fundament an Mitgliedern wichtige Funktionen nicht erfüllen. Beispielsweise seien Aufgaben wie die Parteikommunikation vor Ort (vor allem in Wahlkämpfen) und die Rekrutierung von politischem Funktionspersonal ohne das Fundament einer breiten Mitgliedschaft nicht denkbar.

Zum anderen wird der Abgesang auf die Mitgliederpartei konstruktiv in die Entstehung eines neuen Parteityps gewendet, der den Anforderungen des politischen Prozesses durchaus entgegenkomme. So wird die Entstehung von "Fraktionsparteien" gesichtet und befürwortet. Diese konkurrierten in unmittelbarem Kontakt zu den Wählern um deren Gunst, ohne dabei auf ein Ortsvereins- oder Ortsverbandsfundament angewiesen zu sein . Die demokratische Qualität einer Partei könne - so die Argumentation - nicht an der Anzahl der Mitglieder gemessen werden, sondern letztlich nur an der Leistung und dem Angebot gegenüber den Wählern. Die Einbindung von Mitgliedern verliert somit an demokratietheoretischer Bedeutsamkeit. Seitens des Parteienmanagements wird in eine ähnliche Richtung gedacht: So sieht der ehemalige Wahlkampfleiter der CDU, Peter Radunski, den Trend deutlich in Richtung "Servicepartei" oder "Fraktionspartei": "Angestrebt wird eine moderne Dienstleistungspartei, die aktuelle Politik machen kann, Bilder von der Zukunft entwirft und geeignete Frauen und Männer in die Politik bringt. Dabei heißt es Abschied nehmen von der Mitglieder- und Massenorganisation." Auch gegenwärtig werden solche Vorstellungen im bundesdeutschen Parteienmanagement diskutiert. So spricht der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering von dem Modell einer "professionellen Wählerpartei" ; bei ihm ist dies nicht mehr wie bei Klaus von Beyme eine Diagnose, sondern vielmehr ein Modell.

"Mitgliederpartei" als Konzept des vergangenen Jahrhunderts oder als Perspektive? Diese Frage muss angesichts der Veränderungen der politischen und parteiinternen Öffentlichkeit infolge der Etablierung computer-vermittelter Kommunikation neu gestellt werden.

III. Innerparteilicher Organisationswandel und Internet

Dass das Internet für die zukünftige Organisation der Parteien eine große Rolle spielen wird, sprechen die Parteifunktionäre in ihren internen Reformdebatten ausdrücklich an. So ist in dem kontrovers diskutierten Thesen-Papier "Demokratie braucht Partei" von Franz Müntefering zur Organisationsreform der SPD ausdrücklich auf das Netz Bezug genommen worden: "Die Verbreitung des Internet als Massenmedium verändert jetzt in nur wenigen Jahren die Bedingungen der politischen Kommunikation radikal." Parteien würden künftig ihre Außen-, aber auch ihre Binnenkommunikation zu großen Teilen über das Netz stattfinden lassen: "Wir werden das Internet als den zentralen Weg der innerparteilichen Kommunikation aufbauen."

Auch der Beschluss der CDU zur Reform der Partei auf ihrem 13. Parteitag im April 2000 lässt das Internet nicht unerwähnt. Dort heißt es: "Die Entwicklung moderner Kommunikationsmedien und die Möglichkeit, Informationen und Meinungen rasch und preiswert auszutauschen, eröffnen der politischen Arbeit ganz neue Chancen, die es im politischen Wettbewerb zu nutzen gilt." Es bestehe die Notwendigkeit, "die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien parteiweit zu implantieren". Bei anderen Parteien finden sich inhaltsähnliche Überlegungen.

Wie sieht die Praxis aus? Diese Frage kann im Weiteren nur auf der Grundlage vorläufiger Überlegungen und auf der Basis eines fluiden empirischen Feldes beantwortet werden. Der Untersuchungsbereich ist derart im Wandel, dass jede Bestandsaufnahme nur eine Momentaufnahme sein kann. Deswegen wird es eher darum gehen, Forschungsfragen zu formulieren und vorläufige, überprüfbare Aussagen zu treffen .

1. Mehr innerparteiliche Kommunikation durch das Internet?

Online-Mitgliedernetze

Die innerparteiliche Kommunikation hat durch das Internet einen neuen Weg erhalten. Die Parteien nutzen ihr Web-Angebot nicht nur zur Außenkommunikation, sondern stellen ihren Mitgliedern zwei Formen von Online-Angeboten bereit: ein allgemein zugängliches und ein exklusives. In dem frei zugänglichen Angebot wird eine Reihe von Inhalten angeboten, die für die Parteimitglieder einen besonderen Informationswert haben. Dieses Angebot zeichnet sich dadurch aus, dass die jeweilige Zielgruppe nicht hermetisch abgeschlossen respektive abschließbar ist: Innerparteiliche Kommunikation findet hier unter potenzieller Beobachtung externer, auch konkurrierender Akteure statt.

Für die innerparteiliche Kommunikation besonders relevant ist der zweite Weg der spezialisierten und exklusiven Angebote auf den Web-Sites. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Zugangsbeschränkungen wie Passwörter dafür sorgen, dass lediglich bestimmte Personenkreise, nämlich eingetragene Mitglieder der Partei, Zugriff auf die Kommunikationsmöglichkeiten haben. Mittlerweile verfügen sowohl die CDU, die CSU als auch die F.D.P. über einen geschützten Bereich auf ihren allgemein zugänglichen Web-Sites, der nur den Parteimitgliedern offen steht . Zutritt erhält man in der Regel lediglich durch die Eingabe der Mitgliedsnummer.

Als Fallbeispiel soll das CDU-Mitgliedernetz kursorisch betrachtet werden; die Web-Angebote der anderen Parteien sind in Design und Inhalt verwandt. Das CDU-Netz besteht seit Oktober 1999 und ist seitdem von rund 13 500 Mitgliedern besucht worden. Von den ca. 630 000 Gesamtmitgliedern der Partei sind dies um die zwei Prozent. Zugang zum Mitgliedernetz erhalten lediglich Nutzer, die ihren Nachnamen und ihre CDU-Mitgliedsnummer in eine Maske eingeben. Man befindet sich nach dem Einloggen in einem Sektor, der wiederum eine Vielzahl von Angeboten beherbergt: In der Rubrik "Infos" werden Argumentationshilfen für die politische Debatte, Informationen über Parteireform und Parteitage sowie Nachrichten von besonderem Interesse für die Mitglieder angeboten. Unter "Interaktiv" finden sich Diskussionsforen zu verschiedenen Themen, Ideenbörsen und eine Wochenfrage, über welche die Mitglieder plebiszitähnlich abstimmen können. Im Bereich "CDU-Intern" sind innerparteiliche Kontaktadressen, Grundsatzprogramm und Parteistatuten abrufbar. Klickt man auf "Aktionen", so findet sich hier Unterstützungsmaterial zur Anwerbung von Mitgliedern. Schließlich kann man im "Service"-Bereich auf Vorlagen, beispielsweise für einen eigenen Internet-Auftritt, zurückgreifen und sich in Mailinglisten eintragen; CDU-Mitglieder können sich (unter Eingabe der Mitgliedsnummer) auf einer exklusiven Liste registrieren lassen und erhalten somit den "InfoMail"-Dienst, der sie mit Materialien für die Parteiarbeit versorgt.

Wie lassen sich Online-Mitgliedernetze in die innerparteilichen Kommunikationsstrukturen einordnen? In den Mitgliedernetzen wird aus dem allgemein zugänglichen Internet-Angebot ein Intranet, in dem die Parteien besondere "private goods" bereithalten, die nur den eingetragenen Mitgliedern zur Verfügung stehen, gegenüber den "public goods" in den offenen Sektoren ihrer Netzarbeit. Damit verwenden sie eine bei service-orientierten Mitgliederverbänden wie beispielsweise dem ADAC gebräuchliche Strategie: Mitgliedschaft wird belohnt. Zudem kann via Intranet die Kommunikation zwischen Parteimanagement und Basis ohne die verzerrenden Effekte massenmedialer Kommunikation sowie schnell und kostengünstig vonstatten gehen. Entscheidend für eine demokratische Struktur innerparteilicher Willensbildung ist die Frage, in welche Richtungen internet-basierte Kommunikationsprozesse ablaufen. Mit anderen Worten: Werden die interaktiven Potenziale der Online-Medien genutzt? Finden nicht nur Top-down-Kommunikationen wie bei den Massenmedien, sondern gleichfalls Bottom-up-Prozesse statt ? Zunächst: Im parteiinternen Internet-Angebot ist eine strukturelle Dominanz des Parteimanagements angelegt, dies ist wohl auch unumgänglich. Die den jeweiligen Organisationsspitzen zugeordneten Stabsstellen initiieren und betreuen die Web-Auftritte der Parteien. Damit erhält das Parteimanagement die Möglichkeit, die Rahmenbedingungen der Online-Kommunikation festzusetzen, das heißt, über Form und Inhalte zu entscheiden.

Dennoch kann innerhalb des gesetzten Rahmens die Einseitigkeit durchbrochen werden, wie das Fallbeispiel CDU-Mitgliedernetz veranschaulicht: Dort wird regelmäßig eine Auswertung der Diskussionsforen an die jeweiligen Fachreferenten und die politische Führung im Haus geleitet . Allerdings handelt es sich bei diesem Vorgehen um einen schwach institutionalisierten Kommunikationsstrang. Es kann nicht kontrolliert werden, ob und inwieweit die von den Mitgliedern ventilierten Meinungsbilder in Entscheidungsprozesse einfließen. Dies führt unmittelbar zur Frage der Institutionalisierung von Online-Artikulationen: Die sporadische Einbindung der Mitgliedschaft in Form (realer) parteiinterner Personal- oder Sachvoten hat bereits zu ersten Erfahrungen und einer damit verbundenen kontroversen wissenschaftlichen Diskussion geführt. Denkbar ist, dass derartige Wahl- oder Abstimmungsprozesse über das Internet vonstatten gehen könnten. Der Zusammenhang zwischen technischer Möglichkeit und inhaltlicher Erwünschtheit ist gleichwohl labil: Bevor es zu einer verstärkten Anwendung internet-basierter Technik für solche innerparteilichen Entscheidungsprozesse kommt, muss die Debatte über den Sinn derartiger Verfahren innerparteilich, aber auch in der Wissenschaft zu fundierten und nachvollziehbaren Ergebnissen geführt haben.

Virtuelle Parteitage

Eine weitere Dimension der Veränderung von parteiinternen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ist die Virtualisierung von bis dato realen Versammlungen. Zwei "virtuelle Parteitage" bieten die Grundlage für weiterführende Überlegungen. Jenseits ihrer innerparteilichen Rolle zogen die "virtuellen Parteitage" ihrer Neuheit wegen eine intensive Medienberichterstattung nach sich. Sie erfüllten somit auch die Anforderungen eines auf die Massenmedien (!) zielenden politischen Marketing-Events.

Zum einen hat die CDU im Vorfeld ihres Kleinen Parteitages in Stuttgart am 20. November 2000, der sich mit dem Thema "Bildung" beschäftigte, auf ihrem Mitgliedernetz einen "virtuellen Parteitag" veranstaltet. Einige Tage vor dem Beginn des Delegiertentreffens konnten die Onliner in Diskussionsforen des Mitgliedernetzes über ausgewählte Themen debattieren. Zudem wurden themenbezogene Fragestellungen (z. B. pro/contra Islamunterricht in den Schulen, Studiengebühren) zur Online-Abstimmung gestellt. Die Ergebnisse der Voten lagen den Delegierten vor, mit der Aussicht, dass diese in den Entscheidungsprozess einfließen . An den Debatten und Abstimmungen im Vorfeld beteiligten sich rund 400 der 13 500 registrierten Onliner .

Letztlich handelte es sich bei diesem "virtuellen Parteitag" um einen "Vor-Parteitag": Die Themen eines regulären Delegiertentreffens wurden vordiskutiert. Die präsentierten Abstimmungsergebnisse aus dem Mitgliedernetz waren unverbindlich und dienten den Delegierten lediglich als Orientierung, konnten somit in der Entscheidungsfindung Berücksichtigung finden, mussten es aber nicht. Der institutionalisierte Verbindlichkeitsgrad war gering. Ob und wie die Teilnehmer des Kleinen Parteitages auf diese Vorlage reagiert haben, ist schwer zu erfassen. Dass die Voten der Delegierten weitestgehend den Ergebnissen der Online-Abstimmungen glichen , ist ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Hinweis auf eine entsprechende Verarbeitung der vorgelegten "Umfragedaten".

Ein zweites Fallbeispiel für die Virtualisierung von parteiinternen Treffen bietet der "virtuelle Parteitag" des baden-württembergischen Landesverbands von Bündnis 90/Die Grünen, der vom 24. November bis zum 3. Dezember 2000 ausschließlich im Netz stattgefunden hat. Im Gegensatz zum "virtuellen Parteitag" der CDU, der in einen realweltlichen "Kleinen Parteitag" mündete respektive diesen vorbereitete, spielte sich der Parteitag der baden-württembergischen Grünen ausschließlich im Netz ab.

Eine passive Teilnahme an den "Debatten" war jedermann mit Internet-Zugang möglich, eine aktive nur den 7 500 eingetragenen Parteimitgliedern. Für diese war im Vorfeld eine Anmeldung bei der Landesgeschäftsstelle erforderlich. Parteimitglieder ohne Online-Zugang konnten netzfähige PCs in den Kreisgeschäftsstellen nutzen oder leasen. Eine aktive Teilnahme an der Antragsstellung wurde gemäß der Satzung der baden-württembergischen Grünen den Parteiorganen und Gruppen von Mitgliedern über zehn Personen gestattet. Anträge konnten online gestellt werden; sie wurden vom Präsidium auf ihre Zulässigkeit überprüft. An den eigentlichen Abstimmungen durften lediglich Delegierte mit entsprechender Autorisierung teilnehmen. Die Voten fanden online statt; hierzu benötigten die abstimmungsberechtigten Delegierten Softwarezertifikate, die bereitgestellt worden waren.

Bei einem Landesparteitag, ob virtuell oder real, handelt es sich um ein reguläres und im Parteiengesetz (PartG) erwähntes Instrument der innerparteilichen Willensbildung. Die zentrale Frage lautet, ob dessen "Virtualisierung" Auswirkungen auf die Kommunikationsstrukturen und damit auf die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse gezeitigt hat.

Zwar ist ein Großteil der Regelungen, die für den regulären Landesparteitag gelten, auf den virtuellen Parteitag übertragen worden. Zwei zentrale Verfahrensunterschiede sind neben dem Umstand, dass sich der virtuelle Parteitag über zehn Tage erstreckte, gleichwohl etabliert worden: Zum einen erlaubte das Online-Format die parallele Behandlung von Themen. Zum anderen gab es keine "Redezeitbegrenzung" und kein Losverfahren bei der Auswahl der Beiträge. Dies spricht für eine Vergrößerung und Verlagerung der Beteiligungsmöglichkeiten auf die Ebene der Parteibasis. Gleichwohl ist die Kommunikationssteuerung der Landesparteiführung gestärkt worden. Bedrohungen für den ordnungsgemäßen Ablauf des Parteitages stellten lediglich "Hacker"-Aktionen dar; sonstige Störmanöver, für Parteitage von Bündnis 90/Die Grünen nicht ungewöhnlich und zugleich medienträchtig, wurden jedoch unmöglich gemacht .

Die Delegierten sollten ihre Meinung auf der Grundlage der Debatten in den Diskussionsforen herausbilden und in den Abstimmungsrunden zum Ausdruck bringen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Abstimmungsberechtigten bereit respektive überhaupt in der Lage waren, alle Diskussionsbeiträge zu den Themen wahrzunehmen. Wenn sie auswählten, blieb ihnen als Grundlage die Betreffzeile des Beitrags und die Namensnennung des Autors, bevor sie zur eigentlichen Wortmeldung gelangten. Da die Verfasser der Beiträge nicht nur entlang ihres Wohnorts, sondern zum Teil auch mit ihrer Funktion (z. B. Mitglied des Landesvorstandes) näher beschrieben wurden, sind wie beim realen Parteitag die Wahrnehmungschancen der Debattierenden ungleich verteilt gewesen.

Den Angaben des Landesvorstands der Partei zufolge ist die Web-Site im Verlaufe des Parteitags rund 35 000 mal von Onlinern aufgerufen worden . An 350 der 7 500 Mitglieder des Landesverbandes waren Redepasswörter herausgegeben worden; von diesen haben sich wiederum 100 mit Statements zu Wort gemeldet. Insgesamt sind 380 thematische Redebeiträge eingegangen, plus den circa 500 Beiträgen im "Parteitagsgeflüster". An den Abstimmungsrunden nahmen nicht alle der 115 Delegierten, sondern lediglich 70 teil.

An den Diskussionen auf dem Internet-Parteitag haben sich nur wenig mehr Mitglieder beteiligt, als dies sonst auf den Landesparteitagen üblich ist . Das "Besucherinteresse" wurde mit 35 000 Aufrufen als stark gewertet, wobei eine Übertragung eines realen Parteitages beispielsweise über den Fernsehsender "Phoenix" weit mehr Personen erreichen kann. Die partizipativen Erwartungen, die an den Parteitag gerichtet wurden, sind somit nur zum Teil erfüllt worden. Jedenfalls ist der Kreis der passiven Teilnehmer über die eigentliche Bezugsgröße hinaus (hier Baden-Württemberg) ausgedehnt worden: Von Nutzern aus 47 Ländern ist den Angaben der Partei zufolge die Seite aufgerufen worden.

2. Neue Formen der Mitgliedschaft: Virtuelle Parteigruppierungen

Ein weiterer Bereich, der nachhaltige Auswirkungen auf die Struktur der parteiinternen Willensbildungsprozesse zeitigen kann, ist die Online-Mitgliedschaft. Erste Erfahrungen gibt es bereits mit Zusammenschlüssen von Mitgliedern oder Sympathisanten, die nicht den traditionellen Formen der Mitgliedschaft im Rahmen von territorial gebundenen Kleingruppen entsprechen, also mit "virtuellen Gemeinschaften", die sich von den konventionellen Gruppen durch den Verzicht auf Präsenz und - vorerst - auf reale Begegnung auszeichnen.

Als Fallbeispiel sei der Virtuelle Ortsverein der SPD (VOV) herangezogen . Der VOV ist 1995 gegründet worden und besteht ausschließlich als virtuelles Forum. Thematisch richtet sich der Virtuelle Ortsverein an dem Problem der Entwicklung und den Folgen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien aus (vgl. www.vov.de/allgemeines/). Mitglieder des VOV sind SPD-Parteibuchinhaber in der Bundesrepublik, aber auch Sozialdemokraten, die sich im Ausland befinden und nicht an einem Ortsverein teilnehmen können. Schließlich steht der VOV notabene auch Nicht-Mitgliedern offen, "die sich mit den Zielen der SPD und des VOV identifizieren können" (Richtlinien des VOV, Abschnitt IV).

Der Mitgliederstand wird derzeit auf knapp 1 000 Personen taxiert; davon sind rund neun Prozent weiblich; der Altersdurchschnitt liegt bei 37 Jahren. Über 80 Prozent der VOV-Mitglieder verfügen über ein SPD-Parteibuch. Die Regelung, dass neben SPD-Mitgliedern auch der Partei nahe stehende Personen Mitglieder im VOV werden können, lässt die Grenzen zwischen der regulären Mitgliedschaft und ihrem sympathisierenden Umfeld durchlässig werden, erschwert aber zugleich die Eingliederung des VOV in die Mutterpartei. Die Einordnung wurde in der Form eines "Arbeitskreises beim Parteivorstand" vorgenommen. Der Begriff des "Ortsvereins" im Namen entspricht somit nicht der tatsächlichen Einbettung in die Organisationsstruktur der SPD; es handelt sich nicht um ein virtuelles Pendant der Basiseinheiten.

Am Beispiel des Virtuellen Ortsvereins der SPD wird deutlich, welche Organisationsqualitäten Online-Parteigruppierungen annehmen können: Die virtuellen Gemeinschaften finden sich verstärkt unter thematischen oder ideologischen Gesichtspunkten zusammen, beim VOV z. B. mit Blick auf die Thematik Internet und Politik. Diese inhaltliche Ausrichtung unterscheidet virtuelle Vereinigungen von den bestehenden territorial geprägten Basiseinheiten, in denen eine "Zwangsvergemeinschaftung" unterschiedlicher ideologischer und interessenbezogener Mitglieder unvermeidbar ist und deren zusammenführende Gemeinsamkeit zunächst in der räumlichen Wohnnähe begründet liegt. Netzgemeinschaften hingegen können - wie thematische Gemeinschaften schlechthin - jenseits des Wohnortes Onliner gemäß ihren Interessenschwerpunkten mit der Folge eines höheren Gruppenzusammenhaltes integrieren.

Die Mitgliedschaft in einer Netzgemeinschaft wird nicht nur aufgrund der Motivationslage erleichtert; auch ist der Partizipationsaufwand vergleichsweise niedrig. Die Kommunikationskosten sind gering, vor allem wenn der berufliche Zusammenhang die Nutzung des Internet ermöglicht. Die Zeiteinteilung - zumindest in den Ungleichzeitigkeit erlaubenden Anwendungen (z. B. Diskussionsforen) - folgt eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Virtuelle Gemeinschaften ermöglichen überdies denjenigen Personen die Mitarbeit in Parteien, denen eine Mitgliedschaft in Vor-Ort-Gruppen aus beispielsweise gesundheitlichen Gründen oder aufgrund längerer Abwesenheit verwehrt ist.

Die Unverbindlichkeit der Teilnahme und ihre themenbezogene Ausrichtung sind die beiden Aspekte, welche die Hürden für die Mitgliedschaft an einer derartigen Parteieinheit senken. Sie kommen zudem der geringeren Bereitschaft entgegen, sich in Organisationen langfristig und verbindlich zu engagieren, sowie der vergleichsweise hohen Bereitschaft, sich für ein spezifisches Anliegen einzusetzen. Sie sprechen im Übrigen aber diejenigen nicht an, die ihre sozialen Bedürfnisse nicht allein auf der virtuellen Ebene befriedigen können. Modelle der Online-Mitgliedschaft ergänzen schließlich die sich ausdifferenzierenden Mitgliedschaftsformen im realweltlichen Bereich. Dabei sind bereits neue Formate der Einbindung in die Parteiarbeit (Schnuppermitgliedschaft) andiskutiert und zum Teil auch realisiert worden .

IV. Diskussion: Internet-basierte Mitgliederparteien?

Wie lassen sich diese ersten Erfahrungen parteiinterner Online-Organisation und -Kommunikation mit der Debatte um die Zukunft der Mitgliederpartei in Verbindung setzen? Wie wirkt sich das Internet auf die innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse aus?

1. Verdichtete parteiinterne Kommunikation?

Die innerparteiliche Kommunikation zwischen Funktionseliten und Basis lässt sich mit Hilfe des Internet intensivieren: Informationen, die spezifisch für Mitglieder oder lokale Funktionsträger aufbereitet sind, können billiger, schneller und unter Umgehung der Massenmedien weitergereicht werden. Wichtig für die parteiinterne Willensbildung ist die Frage der Verarbeitung der Bottom-up-Kommunikation der Parteibasis. Hier steht aufgrund der strukturellen Dominanz der Parteiorganisation eine kommunikative Einseitigkeit zu befürchten. Erfahrungen verweisen zudem auf den Umstand, dass interaktive Online-Kommunikation bei den für das Kommunikationsmanagement Verantwortlichen "stecken bleibt" . Dennoch wird der Einfluss der Mitgliedschaft auf Entscheidungsprozesse unbeschadet der strukturellen Dominanz des Parteimanagements ermöglicht: Rückkopplungskanäle finden sich in Ansätzen. Die Frage ist, inwieweit dieser neue parteiinterne Kommunikationsstrang weiter institutionalisiert werden sollte. Hier wird die Debatte um innerparteiliche Sach- und Personenvoten angesichts der technischen Option des "online-voting" reanimiert werden. So sind bereits in den Parteien Stimmen laut geworden, die Mitgliederbefragungen über das Internet in absehbarer Zeit für möglich und wünschenswert halten.

Weitere Partizipations- und Organisationschancen bietet das Netz dadurch, dass online neue, thematisch orientierte parteiinterne Netzwerke von Mitgliedern geknüpft werden können. In der innerparteilichen Willensbildung kann diesen Parteieinheiten eine besondere Rolle zukommen, wenn ihre themengebundene Expertiseausrichtung von den Parteieliten, vor allem den an Entscheidungsprozessen beteiligten (z. B. Fraktionen), anerkannt wird. Dies ist beispielsweise im Virtuellen Ortsverein der Fall, in dem sich Personen aus verschiedenen Funktionsbereichen vermischen und in dem Abgeordnete Gesetzesanträge vor ihrer Einbringung einer Netzdiskussion ausgesetzt haben .

Durch neue Formen der innerparteilichen Partizipation und exklusive Kommunikationsoptionen steigt die Attraktivität, Mitglied einer Partei zu sein oder zu werden. Zudem steht den Parteien im Netz ein neues Rekrutierungsfeld für die Mitgliederwerbung zur Verfügung. Alle im Bundestag vertretenen Parteien bieten online die Möglichkeit an, sich als ordentliches Mitglied registrieren zu lassen. In der Regel wird die Online-Anmeldung als Interessensbekundung angesehen, der eine schriftliche Beantragung der Mitgliedschaft folgen muss.

Begleitet wird die Partizipationsstärkung der Mitglieder von einem Trend, der das Netz unter anderen Gesichtspunkten nutzt, nämlich unter dem Aspekt der Organisationseffizienz. So haben die Parteien bereits neben den Mitgliedernetzen Intranets für bestimmte Funktionsträger oder -einheiten der Partei etabliert, in denen auf einer weiteren Exklusivitätsstufe Kommunikation angeboten wird. Diese Einsatzperspektive steht beispielsweise - neben der Beschwörung der Mitgliederpartei - in dem Konzept der "Netzwerkpartei" im Vordergrund, das innerhalb der SPD diskutiert wird. In dem Papier ist die Rede von der Straffung und Effizienzsteigerung der Parteiarbeit durch die Vernetzung der Ortsvereine. Voraussetzung für einen Wahlerfolg seien "ein geschlossenes Erscheinungsbild, Disziplin und eine verbindliche Aufgabenteilung" - kurzum: Organisationseffizienz, die auch mit Hilfe des Internet bewerkstelligt werden könne . Die Entscheidung für Effizienz und/oder Partizipation ist bei der Weiterentwicklung der parteiinternen Netzkommunikation genau zu beobachten.

2. Neue Mitgliedschaftsformen

Perspektiven bieten die neuen Formen der Mitgliedschaft im Rahmen virtueller Gruppierungen. Parteien vermögen sich hiermit denjenigen gegenüber zu öffnen, denen konventionelle Formen der Basisarbeit fremd sind und die auf eine Unverbindlichkeit sowie die thematisch zugespitzte Ausrichtung ihres Engagements Wert legen. Über die Online-Beteiligungsformen vollzieht sich eine Ausdifferenzierung der Einbindungsgrade in die innerparteiliche Organisation. Die Parteien verlieren dabei ihre starren Konturen; die Grenzen zu dem Bereich der Sympathisanten werden durchlässig. Dies führt zu einer vielleicht weniger starken, dafür aber breiter gestreuten gesellschaftlichen Verankerung der Parteien und zu einer - von vielen Seiten geforderten - dichteren Kommunikation zwischen Parteien und Gesellschaft . Die neuen Mitgliedschaftsformen könnten sich vermehrt neben den bereits bestehenden traditionellen etablieren.

Mit der Ausdehnung virtueller Parteigruppierungen stellen sich freilich hochkomplexe Fragen: Wie können thematisch-sektorale und territoriale Gruppierungen miteinander in einen organisatorischen Kontext gestellt werden? Müssen virtuelle Mitglieder Beiträge zahlen (beim VOV ist dies nicht der Fall)? Wird es unterschiedliche Rechte und Pflichten der jeweiligen Mitgliedergruppe geben und mit welchen Folgen? Welche Auswirkungen wird die unterschiedliche Demographie der Mitgliedergruppen für die Stellung des jeweiligen Mitgliedschaftssegments zeitigen? Wie können virtuelle Parteisegmente die Personalrekrutierung für politische Ämter gewährleisten? Schließlich: Wie muss das Parteiengesetz geändert werden, um neuen innerparteilichen Partizipationsformen Rechnung zu tragen, regelt dieses doch nur die territoriale Strukturierung?

Diese Fragen veranschaulichen die Schwierigkeiten, die mit einer entsprechenden Reform der bestehenden Parteistrukturen verbunden sein werden. Die anfängliche Zurückhaltung der SPD gegenüber dem "VOV" und die Schwierigkeit bei der Einordnung des Virtuellen Ortsvereins in die Organisationsstrukturen der Sozialdemokratie geben - wie überhaupt die bislang gescheiterten Reformprojekte - einen Hinweis darauf, wie schwer sich die Akteure mit einer Neudefinition von Parteimitgliedschaft und Binnenorganisation tun. Organisationsfragen sind bekanntlich Machtfragen und vermögen entsprechende Beharrungskräfte zu mobilisieren. So ist es wahrscheinlich, dass innerhalb der bestehenden Mitgliedschaft virtuelle Gemeinschaften entstehen, sich bestehende Beteiligungsformen ausdifferenzieren werden und dass sich die innerparteiliche Kommunikation neu strukturieren wird. Weniger wahrscheinlich ist, dass sich internet-induziert an der Grenze zwischen Parteibuchinhabern und der sympathisierenden Umwelt flächendeckend neue Formen der Mitgliedschaft entwickeln werden.

3. Privilegierung der Onliner

Angesichts aller positiver Perspektiven bleibt gleichwohl ein bedenkenswerter Vorbehalt im Raume stehen: Problematisch ist und bleibt die Privilegierung der Parteimitglieder mit Netzzugang gegenüber denjenigen ohne. So konnten nur diejenigen Mitglieder Einfluss auf die Meinungsbildung des Kleinen CDU-Parteitags nehmen, die über einen Netzzugang verfügten. Von den insgesamt zwei Prozent der online registrierten Mitglieder haben lediglich drei Prozent an den Debatten und Abstimmungen teilgenommen ; von der Gesamtzahl der Mitglieder sind dies gerade 0,06 Prozent. Die Meinung dieser kleinen Gruppe innerhalb der Mitgliedschaft wurde den Delegierten vorgelegt, obgleich der Personenkreis weder durch Wahl noch durch besondere Expertise ausgewiesen und legitimiert war. Als problematisch stellte sich das Vorgehen in diesem Fall auch wegen der direktdemokratischen Anmutung des Verfahrens dar. Ähnliches gilt für den "virtuellen Parteitag" der Grünen, an dem sich nur diejenigen Mitglieder des baden-württembergischen Landesverbandes faktisch beteiligen konnten, die über Online-Zugang und über die erforderliche Computer Literacy verfügten. Letzten Endes beteiligte sich eine nicht spezifisch legitimierte Gruppe von 100 der 7 500 Mitglieder an den Debatten (1,3 Prozent), die somit auf die Entscheidungsfindung bevorzugten Einfluss nehmen konnte.

Diese Privilegierung rührt an dem Prinzip der Chancengleichheit für Parteimitglieder, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, und somit an dem Grundsatz der "angemessenen Mitwirkung an der Willensbildung" in den Parteien (PartG § 7 Abs. 1). Denn eine gleiche Beteiligungsmöglichkeit ist verwehrt, wenn - wie bereits bei den realweltlichen Beteiligungsformen - bestimmte Personenkreise aus Gründen, die sie nicht verantworten, von dem Kommunikationskanal ausgeschlossen sind. Aus den einschlägigen Erhebungen ist bekannt, dass die Onliner keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung darstellen, sondern bestimmte Personengruppen systematisch und überverhältnismäßig vertreten sind . Die gleichzeitig diagnostizierten demographischen Schieflagen in der Parteimitgliedschaft (Überalterung, ressourcenstarke Personengruppen) stehen dabei in wechselseitiger Verstärkung mit den entsprechenden Verzerrungen in der Nutzer-Gemeinde.

Der Einwand der Privilegierung betrifft auch Formen der Netzmitgliedschaft; hier sind gleichermaßen Interessenten mit Online-Anschluss gegenüber denjenigen ohne Zugang im Vorteil, können sie sich doch für virtuelle oder reale Mitarbeit entscheiden und in der Folge Einfluss auf die Parteiwillensbildung ausüben. Die demokratietheoretisch zu führende Debatte um die innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse wird künftig nicht ohne Berücksichtigung der sich zwar ausgleichenden, aber immer noch schief verteilten Online-Zugangschancen zu führen sein. Dabei ist aktiv Sorge zu tragen, dass es nicht zu einer Diskriminierung der Offliner innerhalb der Parteien und darüber hinaus kommt.

Zusammengefasst: Das Netz ermöglicht eine neue Quantität und Qualität innerparteilicher Kommunikation. Personenkreise, die zuvor von der Möglichkeit der Mitwirkung ausgeschlossen worden sind respektive sie nicht genutzt haben, können sich unter den neuen Rahmenbedingungen in Parteien einbringen. Die parteiinterne Willensbildung hat sich infolge des Internet-Engagements gewandelt, wenn auch bislang nur in Ansätzen. Die Effekte auf die Verteilung der Machtpotenziale innerhalb der Parteien zeigen sich erst zögerlich. Ob die erweiterten Partizipationschancen, die das Netz bietet, letzten Endes genutzt werden und somit zu einem Ausbau der Mitgliedschaft sowie einer Stärkung der Mitglieder führen werden, hängt zum einen von der Bereitschaft des Parteimanagements ab, interaktive Prozesse zu fördern und zu institutionalisieren, somit Mitgliedschaft attraktiv zu machen. Zum anderen ist die Bereitschaft der (potenziellen) Mitglieder, sich aktiv einzubringen, maßgeblich. Überdies wird zu beobachten sein, inwieweit die Eigendynamik technischer Entwicklungen eine "partizipatorische Revolution" entfalten kann. Letztlich kann nur die Praxis zeigen, ob das Netz der Netze die "Mitgliederpartei" oder die "professionelle Wählerpartei" stärken wird. Internet-basiert werden Parteien allemal sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph Bieber, Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit, Frankfurt/M.-New York 1999; Winand Gellner/Fritz von Korff (Hrsg.), Demokratie und Internet, Baden-Baden 1998; Claus Leggewie/Christa Maar (Hrsg.), Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie, Köln 1998; Klaus Kamps (Hrsg.), Elektronische Demokratie? Perspektiven politischer Partizipation, Opladen 1999; Wichard Woyke (Hrsg.), Internet und Demokratie, Schwalbach/Ts. 1999.

  2. Vgl. www.denic.de; zur Quantität und Qualität der Nutzung vgl. Birgit van Eimeren/Heinz Gerhard, ARD/ZDF-Online-Studie 2000: Gebrauchswert entscheidet über Internetnutzung. Entwicklung der Onlinemedien in Deutschland, in: Media Perspektiven, (2000) 8, S. 338-349; GfK Online-Monitor, August 2000.

  3. Vgl. Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000; Klaus von Beyme, Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Wiesbaden 2000.

  4. Vgl. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 19894 (Originalausgabe 1911); Moise Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, 2 Bde., Chicago 1964 (Originalausgabe 1902); Maurice Duverger, Die politischen Parteien, Tübingen 1959.

  5. Vgl. Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen 1998, hier S. 219-249.

  6. Vgl. hierzu auch Hans Herbert von Arnim, Strukturprobleme des Parteienstaates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/2000, S. 30-38.

  7. Vgl. Klaus von Beyme, Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 359-382; K. v. Beyme (Anm. 3).

  8. Vgl. Parteien leiden unter starkem Mitgliederschwund, in: Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 2001.

  9. Vgl. Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer, Entwicklung und Sozialstruktur der Parteimitgliedschaften, in: O.W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Anm. 7), S. 277-300; K v. Beyme (Anm. 3), S. 104-157.

  10. Vgl. Ulrich von Alemann, Parteien, Reinbek 1995, S. 70-90.

  11. Vgl. Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt. An den Grenzen des Parteienstaates, in: Christian Graf von Krockow (Hrsg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, Frankfurt/M. 1983, S. 28-46.

  12. Vgl. Richard S. Katz/Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy, in: Party Politics, 1 (1995), S. 5-28.

  13. Vgl. Peter Haungs, Plädoyer für eine erneuerte Mitgliederpartei. Anmerkungen zur aktuellen Diskussion über die Zukunft der Volksparteien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl.), 25 (1994), S. 108-115.

  14. Vgl. Eckhard Nickig, Von der Mitglieder- zur Fraktionspartei: Abschied von einer Fiktion, in: ZParl., 30 (1999), S. 382-389.

  15. Peter Radunski, Fit für die Zukunft? Die Volksparteien vor dem Superwahljahr 1994, in: Die Sonde, 24 (1991), S. 3-8.

  16. So der Generalsekretär in seiner Rede auf einem Reformkongress der NRW-SPD in Essen, zit. in: Clement mahnt Reform der SPD an, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. November 2000.

  17. Vgl. Demokratie braucht Partei - Die Chance der SPD, von Franz Müntefering, Generalsekretär der SPD, am 2. April 2000.

  18. Grundlage bieten die Web-Aktivitäten der Bundesorganisationen der im Bundestag vertretenen Parteien. Vgl. www.spd.de, www.cdu.de, www.csu.de, www.gruene.de, www.fdp.de, www.pds-online.de (Stand: Dez. 2000).

  19. Davon zu unterscheiden sind Mitgliedernetze mit eigener Internet-Adresse und Netze für spezifische Funktionsträger.

  20. Vgl. zu den Konzepten Ulrich von Alemann, Parteien und Medien, in: O.W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Anm. 7), S. 478-494.

  21. Vgl. E-Mail-Auskünfte der Bundesgeschäftsstelle der CDU vom 11. Oktober 2000.

  22. Vgl. Erster Internet-Parteitag der CDU, Pressemitteilung der CDU-Pressestelle vom 3. November 2000.

  23. Vgl. Die CDU im Internet-Fieber, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. November 2000.

  24. Vgl. Eicke Hebecker, Pixel Parteitage, in: politik-digital vom 23. November 2000.

  25. Vgl. das Interview mit dem verantwortlichen Projektleiter, Markus Mausch, in: politik-digital vom 23. November 2000.

  26. Vgl. das Schlusswort des Landesvorstands auf www.virtueller-parteitag.de vom 4. Dezember 2000. Vgl. auch Wo bleibt das sinnliche Erlebnis bei der Demokratie im Netz?, in: Kölner Stadtanzeiger vom 6. Dezember 2000.

  27. Außer den Delegierten nehmen rund 20 bis 100 Parteimitglieder an realen Landesparteitagen teil. Vgl. das Interview mit M. Mausch (Anm. 25).

  28. Vgl. zum Folgenden www.vov.de (Stand Dez. 00). Ein weiteres Beispiel für eine virtuelle Parteigemeinschaft ist der "Internet-Landesverband der Freien Demokratischen Partei". Zudem haben sich auf den Mitgliedernetzen erste lose Gruppen gebildet.

  29. Vgl. Ingrid Reichart-Dreyer, Parteireform, in: O.W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Anm. 7), S. 338-355.

  30. Vgl. Stefan Marschall, Wirkung von Online-Kommunikation auf das Kommunikationsmanagement von Organisationen - am Beispiel der Public Relations des Deutschen Bundestages, in: Patrick Rössler (Hrsg.), Online-Kommunikation. Beiträge zur Nutzung und Wirkung, Opladen 1998, S. 189-205.

  31. Vgl. Jörg Tauss/Johannes Kollbeck, Der vernetzte Politiker, in: C. Leggewie/C. Maar (Anm. 1), S. 277-289.

  32. Vgl. Matthias Machnig, Netzwerkgesellschaft und Netzwerkpartei, in: Spiegel-Online vom 20. Oktober 2000.

  33. Vgl. Richard Stöss, Parteienstaat oder Parteiendemokratie?, in: O. W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Anm. 7), S. 13-36.

  34. Vgl. Die CDU im Internet-Fieber (Anm. 23).

  35. Vgl. B. v. Eimeren/H. Gerhard (Anm. 2).

Dr. phil., geb. 1968; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Politikwissenschaft II der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Anschrift: Politikwissenschaft II, Heinrich-Heine-Universität, Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf.
E-Mail: Stefan.Marschall@uni-duesseldorf.de

Veröffentlichungen u.a.: Politischer Prozess und Internet - neue Einflusspotentiale für organisierte und nicht-organisierte Interessen, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Internet und Demokratie, Schwalbach/Ts. 1999.