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Regieren in der EU Editorial Was kennzeichnet modernes Regieren? Politisches Einflusspotenzial von Regierungsbürokratien in OECD-Ländern Traum oder Alptraum? Politikgestaltung im Spannungsfeld von Nationalstaat und Europäischer Union Mehr Demokratie wagen: Die Europäische Union braucht einen institutionellen Sprung nach vorn

Mehr Demokratie wagen: Die Europäische Union braucht einen institutionellen Sprung nach vorn

Frank Decker

/ 13 Minuten zu lesen

Die auf der Regierungskonferenz in Nizza beschlossenen Reformen haben weitreichende Auswirkungen. So verfolgen sie beispielsweise den Zweck, die Union arbeits- und entscheidungsfähig zu halten.

I. Abschnitt

Die Europäische Union steckt in einer institutionellen Krise. Die Staats- und Regierungschefs haben ein Scheitern der mit hohen Erwartungen verbundenen Regierungskonferenz von Nizza zwar vermeiden können; die dort getroffenen Entscheidungen dürften den Namen "Reform" jedoch kaum verdienen. Ob Nizza vor der Osterweiterung das letzte Wort bleiben kann, ist fraglich. Spekulationen über eine Nachfolgekonferenz, die von deutscher Seite im Vorfeld des Treffens zu vernehmen waren, werden durch die enttäuschenden Resultate des Gipfels neue Nahrung bekommen. In der Öffentlichkeit wurden diese Äußerungen als unverhohlene Kritik an der französischen Ratspräsidentschaft aufgefasst, die es vor und während der Konferenz am nötigen Kompromisswillen fehlen ließ. Wachsende Irritationen im beiderseitigen Verhältnis hatte es schon seit längerem gegeben. Insbesondere die europapolitischen Visionen Joschka Fischers, die dieser in einer Rede vor Studenten der Berliner Humboldt-Universität im Mai entwickelt hatte, wurden von den Franzosen als wenig hilfreich empfunden, um den Reformgipfel zum Erfolg zu bringen. Die harsche Kritik Hubert Védrines an seinem Berliner Kollegen machte kurz vor Beginn der Konferenz sichtbar, dass der einstige Motor des Integrationsgeschehens - das enge französisch-deutsche Verhältnis - in einer wichtigen Phase der Europapolitik aus dem Takt geraten war.

Dabei ging es in Nizza keineswegs ums Eingemachte. Weder sollte dort über eine europäische Verfassung entschieden werden, noch zielen die von den Regierungschefs vereinbarten Reformen auf eine Lösung des eigentlichen institutionellen Problems der Gemeinschaft - ihren Mangel an Demokratie. Eine Verfassung, die den Namen verdiente, würde einen annähernden Begriff von der "Finalität" des Integrationsprozesses voraussetzen, so wie sie in Fischers Berliner Rede versuchsweise beschrieben worden ist. Die Auffassungen darüber, was Europa ausmacht, welche Gestalt es institutionell einmal annehmen und wer ihm als Mitglied überhaupt angehören soll (und kann), gehen jedoch innerhalb der EU soweit auseinander, dass eine Verfassung beim derzeitigen Stand der Europäisierung ein Torso bleiben müsste. Ein solcher Torso könnte das Demokratieproblem der Gemeinschaft nicht lösen und damit auch keine identitätsstiftende Wirkung entfalten.

Auch unterhalb der Verfassungsebene spielte das Demokratisierungsziel in Nizza allenfalls am Rande eine Rolle. Die Reformen verfolgen in erster Linie den Zweck, die Gemeinschaft funktions- und entscheidungsfähig zu halten, sie fit zu machen für die bevorstehende Osterweiterung. Einen mittelbaren Nutzen für die Demokratie verspricht lediglich die Neuordnung der Stimmenverhältnisse im Ministerrat, die sich in Zukunft stärker an der tatsächlichen Bevölkerungsgröße ausrichten wird. Dass die großen Mitgliedsländer in einer erweiterten Gemeinschaft ein höheres Quorum für sich reklamieren, liegt auf der Hand. Da es sich bei den Beitrittskandidaten ausnahmslos um kleine bzw. mittelgroße Staaten handelt, könnten die Großen bei einer Fortschreibung der alten Konstellation leichter majorisiert werden als bisher. Die Notwendigkeit, dem entgegenzuwirken, hatten im Prinzip auch die kleinen Staaten anerkannt. Die Kompromisssuche gestaltete sich nur deshalb so schwierig, weil sie vom deutsch-französischen Sonderproblem der Parität überschattet wurde.

II. Abschnitt

Bei der Reform der Kommission - dem zweiten großen Gipfelthema - war das Ziel ebenfalls unstreitig: Um die Arbeitsfähigkeit des Gremiums zu erhalten, sollte die Zahl der Kommissare auf 20 oder weniger begrenzt werden. Mit Blick auf die bevorstehende Osterweiterung würde das bedeuten, dass nicht mehr jeder Staat zur selben Zeit in der Kommission vertreten sein kann. Da sich die kleineren Mitgliedsländer mit dieser Vorstellung (noch) nicht anfreunden wollten oder konnten, hat man die Lösung in Nizza einfach auf einen späteren Zeitpunkt vertagt: Erst wenn die Kommission auf 27 Mitglieder angewachsen ist, soll nun über die Verkleinerung entschieden werden. Die Entscheidung ist symptomatisch für den janusköpfigen Charakter der Brüsseler Behörde. Obwohl die Kommission ihrem Selbstverständnis nach ein supranationales Organ ist und ihre Mitglieder sich gerade nicht als Interessenvertreter ihrer Herkunftsländer verstehen, wird sie doch nicht als supranationales Organ bestellt! Über ihre Zusammensetzung befinden vielmehr allein die nationalen Regierungen. Dass der Kommissionspräsident vom Europäischen Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit bestimmt werden soll, ändert daran zunächst nichts, im Gegenteil: Die vermeintliche Demokratisierung des Bestellungsverfahrens wird den Regierungen helfen, ihren Einfluss auf die Kommission (und das heißt: ihre Stellung im Entscheidungssystem insgesamt) weiter auszudehnen. Damit würde sie einen ähnlichen Zweck erfüllen wie die Neuordnung der Stimmenverhältnisse.

III. Abschnitt

Bleibt als drittes und wohl schwierigstes Problem die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen. Auch hier standen in Nizza pragmatische Überlegungen im Vordergrund: Erhöht sich die Zahl der potenziellen Vetospieler im Entscheidungsprozess, so kann dessen Effizienz nur gewährleistet werden, wenn man die Anwendbarkeit des Vetos künftig erschwert. Integrationsfreundliche Staaten wie die Bundesrepublik haben darum seit längerem gefordert, das Mehrheitsprinzip auch auf Bereiche wie Steuern, Soziales oder die Außenpolitik auszudehnen, wo bislang noch Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Die Gleichsetzung von Entscheidungsfähigkeit mit "mehr Demokratie", die das Lob des Mehrheitsprinzips häufig begleitet, unterliegt allerdings einem Missverständnis. Mehrheitsentscheidungen bedeuten aus Sicht der überstimmten Minderheiten nur dann "mehr Demokratie", wenn ihre Ergebnisse auch als legitim erachtet werden. Diese Bedingung kann die Europäische Union beim derzeitigen Stand der Integration nicht erfüllen. Wo es um Themen geht, die in den Kernbestand nationaler Souveränität eingreifen oder bei den Bürgern materielle Gewinne und Verluste verursachen, stellt das Fehlen einer gemeinsamen, Solidarität begründenden Identität in der EU eine unüberwindliche Zentralisierungsbarriere dar. Dass eine substanzielle Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in Nizza nicht gelungen ist, birgt vor diesem Hintergrund keine Überraschung. Selbst Staaten wie Frankreich oder Spanien, die dem Integrationsgedanken grundsätzlich positiv gegenüberstehen, waren in den für sie wesentlichen Fragen der Handels- bzw. Strukturpolitik nicht bereit, auf ihr Vetorecht zu verzichten.

IV. Abschnitt

Das Problem der Mehrheitsentscheidungen verweist auf den eigentümlichen Charakter der europäischen Integration, die sich zum Teil unter "intergouvernementalen", zum Teil unter "supranationalen" Vorzeichen vollzieht. Im ersten Fall firmiert die EU als ein Verhandlungssystem gleichberechtigter Staaten, deren Interessenvertretung durch die jeweiligen Regierungen nach nationalen Gesichtspunkten erfolgt. Im zweiten Fall stehen funktionale Interessengesichtspunkte im Vordergrund, die von gemeinschaftlichen Institutionen in den Entscheidungsprozess eingebracht werden. Die Verquickung beider Integrationsformen macht den Kern des europäischen Demokratiedefizits aus. Würde sich die Europäisierung allein als Zusammenarbeit der Regierungen darstellen, stünden die Reichweite der Integration wie auch die Entscheidungsinhalte selbst weiterhin unter dem Zustimmungsvorbehalt der Mitgliedsstaaten. Die Kontrolle dieses Prozesses durch die nationalen Parlamente und die Öffentlichkeit bliebe im Prinzip gewährleistet. Im Zeichen der Supranationalisierung drohen diese Bedingungen abhanden zu kommen: Die Verflechtung von nationaler und europäischer Gesetzgebung, die ein Kennzeichen der fortschreitenden Integration ist, degradiert die Mitgliedsstaaten heute immer mehr zu Befehlsempfängern des europäischen Entscheidungssystems. Die Einführung der Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat hat das daraus entstehende Legitimationsproblem allenfalls verschärft, nicht aber im eigentlichen Sinne hervorgerufen.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die nationalen Regierungen ihre Kontrolle über den Integrationsprozess soweit wie möglich erhalten wollen. Dabei profitieren sie davon, dass sich die europäischen Entscheidungsabläufe aufgrund ihrer Intransparenz und inhaltlichen Komplexität von der "Heimatfront" gut abschirmen lassen. Der supranationale Kompetenztransfer gibt den Regierungen nicht nur die Chance, innenpolitische Versäumnisse mit dem Verweis auf Europa zu entschuldigen; er gestattet es auch, Beschlüsse der EU in die nationale Politik zu "reimportieren", die dort wahrscheinlich nicht durchsetzbar gewesen wären. Die nationalen Parteien, Verbände, das Parlament und die Öffentlichkeit, die das innenpolitische Geschehen stark prägen und dessen demokratische Qualität verkörpern, werden damit zu den Hauptverlierern der Europäisierung.

Wenn die Möglichkeit einer mittelbaren Legitimation der europäischen Politik (über die Mitgliedsstaaten) versperrt ist, muss die Legitimation dort besorgt werden, wo die Entscheidungsprozesse tatsächlich stattfinden - in den europäischen Institutionen selbst. Auch hier haben die Regierungen jedoch kein rechtes Interesse an einer demokratischen Fortentwicklung gezeigt, um ihre eigenen Kreise vor lästiger Konkurrenz zu schützen. So wurde die Kommission vom Ministerrat zuletzt immer mehr an den Rand gedrängt, während das Europäische Parlament - das einzige direkt gewählte Organ der Gemeinschaft - seine Mitwirkungsrechte in der Vergangenheit mühsam erkämpfen musste. Heute weiß man, dass schon die Einführung der Direktwahlen im Jahre 1979 keineswegs nur hehre demokratische Absichten verfolgte. Ihr Hauptzweck lag vielmehr darin, die gleichzeitig betriebene Einrichtung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs legitimatorisch abzusichern - jenes Gremiums also, das seither zur wichtigsten Instanz der europäischen Politik avanciert ist.

Im Rückblick auf die Geschichte der Integration wird deutlich, dass die "intergouvernementalen" Strukturen der Gemeinschaft das Zusammenwachsen in vielen Bereichen eher erleichtert als erschwert haben. Ob die Fortschritte des Binnenmarkt- und Maastricht-Prozesses in einem voll demokratisierten Entscheidungssystem erreichbar gewesen wären, ist zweifelhaft. Einige Staaten, darunter die Bundesrepublik, sind sogar soweit gegangen, ihrer Bevölkerung die nachträgliche Bestätigung der bereits beschlossenen Verträge zu verweigern, um jede Eventualität einer Ablehnung zu vermeiden. Dieselbe Ambivalenz weist das von den integrationsfreundlichen Kräften empfohlene Konzept der flexiblen oder abgestuften Integration auf, das eine engere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedsstaaten in bestimmten Politikfeldern ermöglichen soll. So nützlich diese auch sein mag, die Dynamik des Einigungsprozesses im Ganzen zu verstärken, so birgt sie doch die Gefahr, dass die EU damit noch weiter auf die Bahn des Intergouvernementalismus gedrängt wird, die aus demokratischer Sicht in eine Sackgasse mündet.

V. Abschnitt

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, reicht ein gradualistisches Vorgehen nicht mehr aus. Die Staats- und Regierungschefs müssen die Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems endlich zu ihrer Angelegenheit machen. Dazu bedarf es eines institutionellen Sprungs nach vorn, der die bisherige, elitenzentrierte Struktur der Gemeinschaft überwindet und das europäische "Volk" mit mehr Entscheidungsrechten ausstattet. Demokratie heißt, dass eine europäische Regierung, wo immer sie institutionell angesiedelt ist, sich vor den Wählern verantworten muss. Eine stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße bei der Stimmengewichtung im Ministerrat genügt diesem Kriterium noch nicht, weil die dort versammelten Regierungsvertreter nur über eine mittelbare Legitimation verfügen. Der Ministerrat als solcher braucht dabei gar nicht zur Disposition zu stehen. Die Europäische Union bleibt ja bei der administrativen Umsetzung ihrer Beschlüsse auf die Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten angewiesen, weshalb man die nationalen Regierungen von den Entscheidungsprozessen nicht einfach ausschließen kann. Eine wirkliche Demokratisierung muss jedoch bei den supranationalen Organen ansetzen: bei Parlament und Kommission.

Die Hoffnungen auf mehr Demokratie in Europa gründen üblicherweise auf die erstgenannte Einrichtung: das Parlament. Die EU, so lautet die Vorstellung, müsse sich langfristig in Richtung eines parlamentarischen Systems fortentwickeln, wie es auch in den Mitgliedsstaaten existiere. Das Demokratiedefizit der Gemeinschaft ist von daher leicht beschrieben:

- Es besteht erstens darin, dass das Europäische Parlament nur in einem Teil der Gesetzgebung über ein dem Rat gleichberechtigtes Mitentscheidungsrecht verfügt. Zur Zeit kennt der EU-Vertrag nicht weniger als sechs bzw. - wenn man die unterschiedlichen Beteiligungsformen im Haushaltsverfahren hinzunimmt - acht Mitwirkungsarten des Parlaments an der Gesetzgebung, die von der fakultativen Anhörung bis zur obligatorischen Zustimmung reichen. Die genaue Unterscheidung dieser Beteiligungsarten ist nur noch Insidern geläufig. Eine Ausweitung der Zustimmungspflicht auf sämtliche Gesetze wäre also auch aus Gründen der Transparenz dringend geboten.

- Zweitens wird bei den Wahlen zum Europäischen Parlament der demokratische Grundsatz verletzt, wonach alle Stimmen die gleiche Erfolgswahrscheinlichkeit haben müssen ("one man, one vote"). Nicht nur, dass die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens - wie von den Gemeinschaftsverträgen vorgegeben - in der EU weiterhin aussteht. Auch die vorab festgelegten Mandatskontingente für die einzelnen Mitgliedsstaaten verzerren die tatsächlichen Größenunterschiede zwischen den Bevölkerungen erheblich. (Nach der in Nizza beschlossenen Neuverteilung steht einem luxemburgischen Wähler immer noch das 16-fache Stimmgewicht eines deutschen Wählers zu.) Würde die Sitzzuweisung normalen demokratischen Gepflogenheiten entsprechen, könnte es im Ministerrat durchaus bei einer stärker föderativ ausgerichteten Stimmenverteilung - vergleichbar derjenigen im deutschen Bundesrat - bleiben. Voraussetzung dafür wäre aber, dass beide Kammern im Gesetzgebungsprozess gleichgestellt sind.

- Drittens leidet die Straßburger Versammlung darunter, dass sie über das wichtigste Recht einer Volksvertretung im parlamentarischen System nicht oder nur unvollständig verfügt: das Recht, die Regierung zu bestellen und abzuberufen. Als Exekutivorgan der Gemeinschaft bedarf die Kommission zwar inzwischen der förmlichen Bestätigung und kann durch das Parlament auch abgesetzt werden, doch handelt es sich dabei weniger um ein politisches als um ein rechtliches Verfahren. Bis heute sind es die Vertreter der nationalen Regierungen, die über die Mitglieder der Kommission entscheiden. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament spielen für deren Zusammensetzung also - wie auch die Installierung der Prodi-Kommission zuletzt wieder gezeigt hat - so gut wie keine Rolle.

VI. Abschnitt

Wie sind - gemessen daran - die Chancen einer weiteren Parlamentarisierung zu bewerten? Am besten stehen sie zweifellos im ersten Punkt. Die Forderung nach mehr Entscheidungsrechten für das Parlament gehört fast schon zur normalen Begleitmusik europäischer Gipfeltreffen. Da die Abgeordneten den Staats- und Regierungschefs gegenüber keineswegs machtlos sind (sie müssen z. B. der geplanten Osterweiterung zustimmen), werden sich diese einer Ausweitung der parlamentarischen Befugnisse auch nicht einfach verweigern können. Eine gesetzgeberische Gleichstellung des Parlaments liegt also auf lange Sicht durchaus im Bereich des Möglichen.

Schwieriger verhält es sich mit dem zweiten Punkt. Die Vereinheitlichung des Wahlsystems und eine proportionale Sitzzuweisung setzen im Grunde voraus, was sie erst schaffen wollen, nämlich den supranationalen Charakter der Europawahlen. Um diesen ist es aber, wie an den niedrigen Wahlbeteiligungen abgelesen werden kann, schlecht bestellt. Nach wie vor sind es die um die Erlangung der Regierungsmacht geführten nationalen Parlamentswahlen, denen das Hauptinteresse von Wählern und Parteien gebührt. Weil die Regierungen innerhalb der EU eine zentrale Rolle spielen, entbehrt dieser Vorrang nicht der europäischen Logik. Für die Wahlen zum Europäischen Parlament hat er freilich die völlige Unterordnung unter den nationalen Parteienwettbewerb zur Folge. Eine Legitimation der supranationalen Institutionen kann daraus nicht erwachsen.

Hier liegt zugleich der Grund dafür, warum die Parlamentarisierungsstrategie in ihrem dritten Punkt - der Kreation einer verantwortlichen Regierung - zum Scheitern verurteilt ist. Dass die Staats- und Regierungschefs nur ungern bereit sein werden, ihr Bestellungsrecht der Kommission an das Parlament abzutreten, ist eine Sache. Eine andere, wichtigere Sache ist, dass es der Gemeinschaft an einem funktionierenden demokratischen Unterbau fehlt, der eine solche Regierung hervorbringen und legitimieren könnte. Weil es einen gemeinsamen öffentlichen Adressaten der europaweiten Willensbildungsprozesse nicht gibt, bleiben die Institutionen der Interessenvermittlung (Parteien, Verbände und Medien) ganz oder überwiegend der nationalen Sphäre verhaftet. Eine parlamentarisch verantwortliche Kommission würde die bestehenden Strukturen der europäischen Politik daher zwangsläufig überfordern.

Wenn das parlamentarische Modell für die EU ungeeignet ist, heißt das nicht, dass die künftigen Straßburger Abgeordneten auf Macht und Einfluss verzichten müssen. Bei genauerem Hinsehen dürfte eher das Gegenteil der Fall sein: Solange das Europäische Parlament die Regierung (Kommission) nicht "kreiert", wie in einem parlamentarischen System üblich, kann es dieser relativ unbefangen gegenübertreten. Im Vergleich der legislativen Funktionen schneidet das Europaparlament schon heute zum Teil besser ab als die meisten nationalen Parlamente, denen die Exekutiven als Gesetzgeber weitgehend den Rang abgelaufen haben. Die schwach ausgeprägten Loyalitätsbeziehungen zwischen Parlament und Kommission in der EU erinnern insoweit an das präsidentielle System der USA, wo die vergleichsweise starke Stellung des Kongresses im Gesetzgebungsprozess ebenfalls auf seiner formellen Unabhängigkeit von der Exekutive gründet. Angesichts dieser Parallele und den Aporien einer parlamentarischen Strategie ist es verwunderlich, dass die Chancen des präsidentiellen Modells für Europa bislang kaum gesehen worden sind. Dabei eröffnet gerade dieses Modell einen gangbaren Weg der Demokratisierung.

Die präsidentielle Strategie sieht vor, die Verantwortlichkeit der Regierung dadurch zu gewährleisten, dass die Exekutivspitze - im Falle Europas also der Kommissionspräsident - in einem eigenen Wahlakt unmittelbar vom Volk bestimmt wird. Statt sie wie im parlamentarischen System miteinander zu verschränken, würde die Legitimation von Parlament und Regierung in diesem Falle getrennt besorgt: Das Parlament wäre auf die Funktion einer Legislative beschränkt, und die Regierung könnte von der Volksvertretung nicht abberufen werden - zumindest nicht aus politischen Gründen. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten wäre zwar ein gewaltiger Reformschritt, würde aber an der Grundstruktur des vorhandenen Systems zunächst nichts ändern. Insbesondere auf der parlamentarischen Seite bliebe alles beim Alten: Das Europäische Parlament könnte sich als Volksvertretung weiter demokratisieren (durch ein einheitliches und gleiches Wahlrecht), seine Gesetzgebungsbefugnisse im Verhältnis zum Ministerrat ausbauen und auch seine bisherigen Kontrollrechte gegenüber der Kommission behalten. Letzteres gilt vor allem für das Recht, die Kommissionsmitglieder vor ihrer Ernennung zu bestätigen, das ein typisches Element der Gewaltenverschränkung darstellt und in ähnlicher Form auch in den USA anzutreffen ist. Ein politischer Gleichklang zwischen den Organen, der die Abgeordneten zur Einhaltung der Partei- und Fraktionsdisziplin verpflichten würde, wäre in einem solchen System nicht erforderlich.

Auf der anderen Seite würde von der Direktwahl ein bedeutender Demokratisierungsschub ausgehen. Die auf europäischer Ebene bisher nur lose verbundenen Parteien wären genötigt, sich nationübergreifend auf einen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen und mit einem personellen und programmatischen Gesamtangebot in den Wahlkampf zu ziehen. Dies hätte zum einen den Vorteil, dass über die Vergabe wichtiger Ämter nicht mehr allein im Kreis der Regierungschefs oder Ratsmitglieder entschieden würde. Zum anderen würde es die Parteien zwingen, die Wahlen ausschließlich um europäische Themen und Personen zu führen, statt wie bisher nationale Aspekte in den Vordergrund zu schieben; die Folge wäre ein höherer Mobilisierungsdruck, der das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa stärken, die Entwicklung eines supranationalen Parteiensystems vorantreiben und sich natürlich auch auf die weiterhin stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament auswirken würde.

In einer programmatischen Rede vor dem belgischen Parlament hat Joschka Fischer den Direktwahlvorschlag unlängst aufgegriffen und als denkbare Reformalternative ins Spiel gebracht. Fischer ließ allerdings offen, ob er den Schwerpunkt einer künftigen europäischen Regierung eher bei der Kommission oder beim Rat angesiedelt sieht - im letzteren Fall würde die Direktwahl wenig Sinn ergeben. Auch die Überlegung des Außenministers, das Europäische Parlament um eine zweite Kammer zu erweitern und diese mit Vertretern aus den nationalen Parlamenten zu besetzen, zeugt nicht gerade von einem schlüssigen institutionellen Gesamtkonzept. Dennoch hat Fischer der Debatte einen wichtigen Anstoß gegeben. Das verbreitete Unbehagen an Europa lässt einen weiteren Aufschub der Demokratisierung nicht mehr zu. Mit welchem Ziel und in welcher Form dies geschehen soll, darüber gilt es in der Öffentlichkeit und den Parteien verstärkt zu streiten. Ohne den Druck ihrer Wähler werden sich die Staats- und Regierungschefs zu nennenswerten Reformen kaum bereit finden. Es ist höchste Zeit, sie auf diesen Weg zu zwingen.

Dr. rer. pol., geb. 1964; Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundeswehr Hamburg.

Anschrift: Universität der Bundeswehr Hamburg, FB WOW, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg.
E-Mail: Frank.Decker@unibw-hamburg.de

Veröffentlichungen u. a.: Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Opladen 2000; Über das Scheitern des neuen Rechtspopulismus in Deutschland. Republikaner, Statt-Partei und der Bund Freier Bürger, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (2000) 2.