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Von Black Power bis Ta-Nehisi Coates | Black America | bpb.de

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Von Black Power bis Ta-Nehisi Coates Schwarze Identitätspolitik in den USA

Jens Kastner

/ 16 Minuten zu lesen

Bei Identitätspolitik geht es um die Betonung partikularer Identität und den Anspruch auf gesellschaftliche Umgestaltung. Diese Doppelforderung sieht sich seit jeher Kritik ausgesetzt.

Seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA 2017 wird wieder viel über Identitätspolitik diskutiert. Diese Diskussion ist geprägt von einer Gegenüberstellung: auf der einen Seite die partikularen Anliegen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, auf der anderen Seite die Frage allgemeiner sozialer Ungleichheit. Dass diese Entgegensetzung verkürzt oder sogar falsch ist, kann ein Blick in die Diskussionen um Schwarze Identitätspolitik zeigen. Der Beitrag geht von aktuellen Debatten aus und diskutiert die Argumente für emanzipatorische Identitätspolitiken und die Kritiken daran aus feministischer, klassenpolitischer und liberaler Sicht. Dass es alle drei Kritikformen auch in früheren Auseinandersetzungen gab, legen Rückblicke in die 1990er und 1960er Jahre dar. Abschließend wird auf die Kämpfe gegen cultural appropriation (Kulturelle Aneignung) eingegangen. In diesen Debatten werden die Fallstricke eines zu statisch gefassten Verständnisses von Identität deutlich.

Identität und rassialisierte Ungleichheit

Diese linke Vorstellung ist wahrscheinlich so alt wie die Linke selbst: Wenn erst die Klassenspaltung einer Gesellschaft überwunden ist, lösen sich die anderen Widersprüche wie von selbst auf. Unter die anderen Gegensätze fallen dann in der Regel sowohl die Geschlechterverhältnisse als auch jene sozialen Beziehungen, die auf rassialisierten Zuschreibungen beruhen. Es gibt zwar keine menschlichen "Rassen", aber es gibt sehr nachhaltig wirkende Einteilungen nach Hautfarbe und Herkunft.

Die Annahme, dass die Klassifizierungen keine Rolle mehr spielen, wenn nur der Gegensatz zwischen Armen und Reichen verringert oder gar abgeschafft wird, fand auch im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 ihre Aktualisierung. Der Journalist Ta-Nehisi Coates nannte sie die "Liberal Imagination". Coates, der mit seinem Buch "Zwischen mir und der Welt" (2016) auch im deutschsprachigen Raum bekannt wurde, kritisierte den Kandidaten der Demokratischen Partei, Bernie Sanders, für diese liberale Vorstellung – und damit auch für seine vermeintliche Blindheit gegenüber dem Rassismus.

Coates’ zentraler Vorwurf ist grundlegend und lautet: Die Politik des liberalen Mainstreams versuche ein Problem zu lösen, indem sie einen Kategorienfehler propagiere. Sie fordere mehr soziale Gleichheit und hoffe, dass sich dadurch auch die auf Rassismus beruhenden Ungleichheiten und Diskriminierungen erledigen. Aber, wendet Coates ein, die Verletzungen, die der Rassismus hervorrufe mit klassenbasierten Heilmitteln lindern zu wollen, komme dem Versuch gleich, eine Schusswunde mit einem Verband zu heilen. Der Verband helfe zwar, aber er reiche bei Weitem nicht aus.

Schon in "Zwischen mir und der Welt" hatte Coates darauf hingewiesen, dass Schwarze Familien mit einem Jahreseinkommen von 100.000 US-Dollar in Stadtteilen leben, in denen weiße Familien leben, die im Durschnitt nur 30.000 US-Dollar verdienen; dass die Anzahl der Schwarzen in den US-Gefängnissen im Vergleich zu Weißen überproportional hoch ist; und dass die staatliche Politik gegenüber willkürlich erschossenen Schwarzen Jugendlichen dazu führt, "dass von den jährlich zerstörten Körpern eine wahnwitzig und unverhältnismäßig hohe Zahl schwarz ist". Kurz und bündig schließt er daraus: "Das ist keine Klassenspaltung, sondern eine rassistische Spaltung."

Wie Coates weisen auch viele andere Schwarze Intellektuelle und AktivistInnen gegenwärtig darauf hin, dass diese Spaltung mindestens zwei Besonderheiten aufweist: Sie ist strukturell, und sie ist von Dauer. Strukturell ist sie, weil die Spaltung auf beständigen sozialen Klassifikationen beruht und Diskriminierungen zur Folge hat, die sowohl im Alltag als auch institutionell verankert sind. Dass weiße PolizistInnen viel mehr Schwarze Jugendliche töten als weiße, ist kein Zufall. Von Dauer ist sie insofern, als sich der Spalt, der weiße Existenzweisen und Lebenswirklichkeiten von denjenigen Schwarzer trennt, nicht verkleinert, sondern eher vergrößert hat. Keeanga-Yamahtta Taylor, Professorin für Afroamerikanische Studien in Princeton, schreibt in ihrem aktuellen Buch über die Black-Lives-Matter-Bewegung: "Während der letzten 25 Jahre hat sich der Unterschied im durchschnittlichen Haushaltsvermögen verdreifacht: weiße Haushalte besitzen im Schnitt 91.405 Dollar, Schwarze 6.446 Dollar."

Die Frage ist nun, was politisch daraus folgen soll, wie also dieser rassialisierten Ungleichheit begegnet werden soll. Grundsätzlich bestehe die Herausforderung darin, schreibt Taylor, auf Basis der "Anerkennung Schwarzer Menschlichkeit die Transformation jener Institutionen herbeizuführen, die für die Missachtung dieser Menschlichkeit die Verantwortung tragen". Es geht also um beides: um eine Politik der (spezifischen) Anerkennung und um eine Politik (allgemeinen) institutionellen Wandels. Es geht um die Betonung partikularer Identität einerseits und um den Anspruch auf universelle gesellschaftliche Umgestaltung andererseits.

Die Aussagen von Ta-Nehisi Coates bieten sich nicht nur aufgrund ihrer gegenwärtigen Prominenz zur Verdeutlichung dieser Doppelforderung an. Coates wird von unterschiedlichen Seiten aus kritisiert, und die Kritiken entstammen dem Standardrepertoire, das gegen emanzipatorisch motivierte Identitätspolitiken in den vergangenen 50 Jahren aufgefahren wurde.

Kritik heute

Zum einen wird angemerkt, dass die Einheit, die jede Identität behauptet, gar nicht so einheitlich ist und die "Gleichen" sich doch mehr in ihren Lebensweisen, Einkommen und Gewohnheiten unterscheiden, als die VertretertInnen von Identitätspolitiken behaupten. Schwarze Frauen etwa sehen sich demnach ganz anderen Diskriminierungsformen ausgesetzt als Schwarze Männer, arme Schwarze anderen als reiche Schwarze. Identitätspolitik vereinheitlicht und unterschlägt damit Differenzen. Die Philosophin Brittney Cooper kritisiert Coates dafür, keinen Blick für Geschlechterverhältnisse zu haben. Er erwähne zwar weibliche Ikonen des Schwarzen Befreiungskampfes wie Ida B. Wells (1862–1931), übersehe aber die Lebenswelten und Anliegen Schwarzer Frauen. Ein ähnliches Argument des Ausschlusses bringt der Theologe und prominente Autor Cornel West gegen Coates an. Im Interview mit der "New York Times" bezeichnet er Coates als "Liebling des weißen und schwarzen neoliberalen Establishments". Anlass ist Coates’ aktuelles Buch zur Obama-Ära, das den Titel "We Were Eight Years in Power" (2017) trägt. "Wer ist dieses ‚Wir‘?", fragt West. "Möglicherweise waren er [Coates] und ein paar seiner Freunde acht Jahre an der Macht, aber nicht die armen, arbeitenden Menschen." Das identitätspolitische "Wir" macht also laut dieser Kritik die Unterschiede zwischen arm und reich unsichtbar.

Neben diesem Insistieren darauf, dass Identitätspolitik immer vereinheitlicht – also das "Wir" gleicher macht, als es tatsächlich ist –, gibt es noch einen anderen fundamentalen Einwand: Identitätspolitik spaltet. Sie treibe die verschiedenen sozialen Gruppen, deren unterschiedlicher gesellschaftlicher Status wohl eingestanden wird, noch weiter auseinander. Der partikulare Ansatz, Identität zu stärken, sieht sich damit im schlimmsten Fall dem Vorwurf ausgesetzt, dieselben Mittel anzuwenden wie die Gegner, nämlich Segregation, Teilung, Trennung.

Der Journalist Thomas Chatterton Williams wirft Coates in der "New York Times" vor, in seiner Argumentation den weißen Rassismus zu spiegeln. Die Konzentration auf das Weißsein und die Angriffe gegen die white supremacy mündeten darin, rassialisierte und moralische Kategorien zu vermischen. "Weißsein und falsch urteilen sind austauschbar geworden". Aber damit werde nicht nur Handeln untrennbar an Hautfarbe geknüpft. Sowohl der weiße Rassismus als auch die Schwarze Identitätspolitik "reduziert Menschen zu abstrakten Farbkategorien", während "diejenigen von uns, die nach den Graubereichen und einem gemeinsamen Nenner suchen, ein zweites Mal auseinanderdividiert werden".

Coates hatte zuvor den US-Präsidenten Donald Trump als "The First White President" beschrieben, der keineswegs so ideologielos agiere, wie häufig angenommen. Im Gegenteil, so Coates, "seine Ideologie ist white supremacy". Der Begriff white supremacy (weiße Vorherrschaft) galt lange Zeit als Name für die Haltung von offen rassistischen Personen und Gruppen wie dem Ku-Klux-Klan, wird seit den 1990er Jahren aber auch zur Beschreibung des strukturellen Rassismus des politischen Systems der USA angewandt. Coates verwendet den Begriff ebenfalls weit gefasst und rekurriert dabei immer wieder auf die Geschichte der Sklaverei in den USA. Coates bezieht die Geschichte des weißen Überlegenheitsgefühls aber auch auf die gegenwärtige Situation. Es sei weißer Rassismus gewesen, der Trump ins Amt verholfen habe, und nicht etwa die Vernachlässigung und Herabwürdigung weißer ArbeiterInnen, wie es in liberalen Medien diskutiert wurde. Schwarze Menschen, so Coates, hätten schließlich seit Jahrhunderten unter Spott und Herablassung gelitten, und sie hätten deshalb trotzdem nicht Trump gewählt.

In einer Erwiderung auf Williams’ Kritik verteidigt der Journalist Philip Holdsworth die identitätspolitische Position von Coates. Sie sei keineswegs ein spiegelverkehrter Rassismus, sondern "genau das Gegenteil des Diskurses von Rasse bei der white supremacy". Coates würde race nicht als menschliche Essenz deuten und Menschen auf ihre Hautfarbe reduzieren. Vielmehr ginge es, wie bei der Bewegung Black Lives Matter, um die Anerkennung ihres Menschseins. Dazu sei die identitätspolitische Position nur ein Mittel. Dass dieses Mittel manchmal unumgänglich ist, macht Holdsworth mit dem entscheidenden Hinweis darauf deutlich, "dass rassialisierte Menschen in Amerika nicht die Wahl haben, den Begriff der Rasse als bloße Idee zu betrachten". Auch wenn "Rasse" tatsächlich nur eine soziale Konstruktion ist, also eine historisch entstandene und weitverbreitete Idee, so ist sie doch in der Realität sehr wirksam. Dass den rassialisierten Subjekten keine Wahl bleibt, weil es nicht nur auf das (sich selbst) Identifizieren, sondern auch und vor allem auf die Identifikation durch andere ankommt, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Die Frage allerdings bleibt, inwiefern die Identität beziehungsweise diese Identifizierungen zum Ausgangspunkt für emanzipatorische Politik gemacht werden soll beziehungsweise sollen. Diese Frage ist ebenso alt wie die genannten Kritikpunkte – Vereinheitlichung und Spaltung. Sie erlebten und erleben verschiedene Konjunkturen, entzünden sich an je aktuellen Anlässen.

Afrozentrismus versus Integration

Auch in den theoretischen und aktivistischen Debatten der 1980er und frühen 1990er Jahre wurden die dargestellten Einwände angebracht: von feministischer ebenso wie von klassenkämpferischer Warte die Kritik an der Vereinheitlichung; aus linksliberaler Perspektive die Kritik an der Spaltung.

Schwarze Feministinnen wie Michelle Wallace und bell hooks erhoben vehementen Einspruch gegen die männlich konnotierte Auffassung Schwarzer Identität und den damit verbundenen Ausschluss von Frauen. "Wir müssen die Sexualisierung der schwarzen Befreiung, sofern sie Sexismus, Phallozentrismus und männliche Herrschaft unterstützt und fortsetzt, zurückweisen", so bell hooks zusammenfassend.

Die klassenkämpferische Kritik wurde vor allem im Kontext des Malcolm-X-Revivals in den frühen 1990er Jahren laut. Malcolm X, der 1965 ermordete Aktivist und ehemalige Prediger der Nation of Islam, hatte in seinem letzten Lebensjahr eine Hinwendung zu internationalistischen Positionen vollzogen.

Für die liberale Kritik liefert der Politikwissenschaftler Albert Scharenberg in seinem Buch über die verschiedenen Rezeptionsweisen von Malcolm X ein Beispiel. Die Hinwendung zum Internationalismus bei Malcolm X war auch panafrikanisch motiviert. Seine schon früher benannte Kritik an der Abhängigkeit Schwarzer von weißen Denkweisen, die vom Panafrikanisten Marcus Garvey (1887–1940) als mental slavery bezeichnet worden war, fand in den 1980er Jahren Widerhall im Afrozentrismus. Es ging (und geht) um die Ablehnung des Eurozentrismus als Voraussetzung für intellektuelle Unabhängigkeit. Das Buch "Afrocentricity: The Theory of Social Change" (1980) von Molefi Kete Asante, Professor für Afroamerikanische Studien in Philadelphia, stieß auf Unbehagen bei weißen Liberalen. Der (weiße) Historiker Arthur M. Schlesinger (1917–2007) hielt dem Afrozentrismus das Modell der Integration entgegen. Die USA hätten sich stetig von einer Gesellschaft des Ausschlusses zu einer der Integration entwickelt. Schlesinger formulierte damit nicht bloß ein optimistisches Bild einer linear verlaufenden Geschichte. Er betonte zugleich, dass Integration nicht nur das Ziel zur Gleichberechtigung Schwarzer, sondern auch der Weg dorthin sei. Als Argument führte er an, dass auch die meisten Schwarzen in die Vororte ziehen würden, wenn Rassismus und Einkommen es zuließen. Gegen dieses Argument kommentierte schon Scharenberg 1998: "Aber eben weil ‚Einkommen und Rassismus‘ diese Integration verhindern, hat die afrozentrische Suche nach einer eigenen, von weißer Vormundschaft unabhängigen Identität an Bedeutung gewinnen können."

Die rassialisierte Zuschreibung hat enorme sozioökonomische Konsequenzen bis heute. Sie macht, allgemein gesprochen, nicht jede/n Schwarze/n arm. Aber Schwarzsein erhöht nach wie vor die Wahrscheinlichkeit für Armut und verringert die Möglichkeit sozialen Aufstiegs. An dieser Verknüpfung von Rassialisierung und sozialer Lage setzte auch schon die Black-Power-Bewegung der 1960er Jahre an.

Black Power und Schwarzer Nationalismus

Inmitten der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung tauchte der Slogan "Black Power" auf. Es war eindeutig ein identitätspolitischer Schlachtruf, der unter anderem vom Bürgerrechtler Stokely Carmichael (später Kwame Toure) lanciert wurde. Er war ab 1966 Vorsitzender der wichtigsten Organisation der Bewegung, des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Die Strömung um Carmichael geriet damit auch in Gegensatz zur Position von Martin Luther King jr.: die Integration der Schwarzen in die US-Gesellschaft bei gleichzeitiger sozialer – und schließlich sogar sozialistisch gedachter – Transformation dieser Gesellschaft. Das Black-Power-Motto konnte als eines gelesen werden, das sich gegen beide Ansprüche richtete: gegen Integration und sozialistische Transformation. Es wurde als Selbstermächtigung verstanden, der eine Selbstverständigung über die eigenen Wurzeln und Werte vorangehen sollte. Die Selbstverständigung dreht sich um die Frage, wer eigentlich gemeint ist, wenn von "wir Schwarzen" die Rede ist. Black Power setze bei der Notwendigkeit an, so Carmichael 1967, "unsere Geschichte und unsere Identität zurückzufordern". Damit schloss Black Power an Vorstellungen des militanten Schwarzen Nationalismus an, den vor allem Malcolm X repräsentierte. Black Power konnte aber auch als Machteroberung im profanen Sinne der Einnahme von Positionen in Unternehmen und Bürgermeisterämtern verstanden werden. Diese Interpretation wurde von Teilen der Black Panther Party zwar scharf kritisiert. Sie war aber letztlich auch eine Reaktion auf die Analyse Carmichaels, dass auch in den Schwarzen Gemeinden "die Geldmittel, die politischen Entscheidungen, die Durchsetzung der Gesetze und die Wohnverhältnisse" von Weißen kontrolliert wurden.

Der Black-Power-Slogan, so urteilt zumindest der Historiker Clayborne Carson in seinem Buch über das SNCC, habe letztlich mehr getrennt als geeint: "Als der ambivalente Black-Power-Slogan zum einen mit der Wahl schwarzer Politiker oder mit der Entwicklung eines schwarzen Kapitalismus verbunden wurde, andererseits mit einem neuen schwarzen Wertesystem und der Forderung nach einer Revolution der Schwarzen, wurde immer offensichtlicher, dass die SNCC-AktivistInnen den grundlegenden Konflikt zwischen Klassen- und ‚Rassen‘-Strategie nicht lösen konnten." Hinzu kam zweifelsohne die mangelnde – und von Teilen der Bewegung auch explizit ausgeschlossene – Möglichkeit, Bündnisse mit linken Weißen zu schließen, wie sie in den frühen 1960er Jahren noch selbstverständlich waren.

Identität und Kultur als stabile Essenz

In der Vorstellung von Carmichael und vieler identitätspolitischer Konzeptionen, die sich am Black-Power-Motto orientierten, lässt sich die soziale Ungleichheit nur verringern, indem die Identität gestärkt wird. Das klingt zunächst wie die Position von Ta-Nehisi Coates: Schwarze Armut erledigt sich nicht durch den "farbenblinden", nicht auf rassialisierte Aspekte der Armut fokussierenden Ausbau des Sozialstaates. Der entscheidende Unterschied zwischen den Positionen ist aber das Verständnis von Identität. Auch wenn der Status des "Wir" bei Coates etwas unklar bleibt und er vereinheitlichend von der "Sicht unseres Kampfes" spricht, handelt es sich um ein historisches Identitätsverständnis. Historisch meint hier: Es wird davon ausgegangen, dass die Vorstellung von "Rassen" im Laufe der Geschichte entstanden ist – "Rasse ist das Kind des Rassismus" – und letztlich auch dementsprechend verändert werden kann.

Bei Carmichael sowie bei einigen Strömungen des Schwarzen Nationalismus und Afrozentrismus hingegen ist Identität eine relativ stabile Essenz. Stabilität erscheint als ausschlaggebend für die Kampfkraft der Bewegung. "Der rassische und kulturelle Charakter der schwarzen Community muß erhalten bleiben" – diesen Satz hält Carmichael bezeichnenderweise der Auffassung von Marx entgegen, das Proletariat sei die erste Klasse der Geschichte, die für ihre eigene Abschaffung kämpfe. Die Übertragung auf die Schwarze Community verspottet Carmichael als falsche Strategie der "gemäßigten" Schwarzenführer. Bezeichnend ist das insofern, als in Marx’ Beschreibung gerade der Übergang von einer partikularen in eine universelle, von einer identitätspolitischen in eine alle Menschen umfassende Perspektive formuliert wurde. Diese Perspektive konnte und wollte Carmichael nicht sehen.

Die Annahme, dass so etwas wie der "kulturelle Charakter der schwarzen Community" einerseits geschlechter- und klassenübergreifend existiert, und andererseits bewahrt werden müsse, inspiriert gegenwärtig auch einige im Kampf gegen cultural appropriation. In den vergangenen Jahren hat sich eine Bewegung von Intellektuellen, KünstlerInnen und AktivistInnen formiert, die sich gegen das Aufgreifen kultureller Ausdrucksformen – von der Musik bis zu Frisuren wie Dreadlocks – durch Weiße, oder allgemeiner durch Angehörige der Dominanzkultur wendet. Argumentiert wird, dass Weiße sich aus einem Pool kultureller Praktiken bedienen, zu dem sie nichts beigetragen haben und damit – von Elvis Presley bis Eminem – Profit machen. Weiße eignen sich, so der Kulturwissenschaftler Greg Tate, "Everything But The Burden" (alles außer der Last) an. Sie greifen alles Verwertbare auf, ohne die Diskriminierungen erfahren haben zu müssen, die mit der Entwicklung der jeweiligen kulturellen Ausdrucksform wie Blues oder Soul oder Dreadlocks verbunden war. Jede kulturelle Aneignung stärke damit auch unreflektierte Privilegien.

Als eine Verwertung Schwarzer Kultur zugunsten der Privilegien einer weißen Künstlerin sahen einige das Gemälde "Open Casket" der Künstlerin Dana Schutz bei der Whitney Biennial 2017. Auf der Ausstellung US-amerikanischer zeitgenössischer Kunst hatte das Bild Kontroversen ausgelöst. Die Darstellung des Gemäldes basiert auf einem Foto des Schwarzen Jugendlichen Emmett Till, der 1955 im Alter von 14 Jahren von zwei Weißen misshandelt und ermordet worden war. Während die Künstlerin und Autorin Hannah Black monierte, es sei "nicht akzeptabel, wenn eine Weiße schwarzes Leiden in Profit und Spaß umwandelt", nahmen viele (weiße wie Schwarze) KünstlerInnen zugunsten von Dana Schutz Stellung und sprachen sich gegen "Zensur und Unterdrückung" aus.

Während die UnterstützterInnen von Schutz sicherlich Protest mit Zensur verwechseln, bleibt auch die Argumentation der GegnerInnen, also die der KämpferInnen gegen cultural appropriation nicht ohne Fallstricke. Sie verengen die Frage von Kunstschaffen und Kunstwahrnehmen, von Produktion und Rezeption, auf einen stabilen Pool von Möglichkeiten. Anders gesagt: Spaß und Profit aus der Darstellung Schwarzen Leidens zu ziehen, ist ohne Zweifel verwerflich. Was aber mit der Konzentration auf diese Aspekte ausgeblendet, ja letztlich für unmöglich gehalten wird, ist Solidarität. Sowohl im Hinblick auf die Motive der Künstlerin, als auch in Bezug auf die Effekte bei den Betrachtenden wird die Möglichkeit einer solidarischen Haltung gar nicht in Betracht gezogen. Weißer Hip-Hop ist zwar Verwertung, geht aber auch auf Wertschätzung zurück. Die Abbildung eines Opfers weißer Gewalt stellt zwar die Schwarze Opferrolle nicht infrage und kann kulturelles Kapital für die weiße Künstlerin generieren, es kann aber auch zu Parteinahmen gegen Rassismus ermuntern und auch so intendiert gewesen sein.

Schluss

Ein essenzialistisches Kulturverständnis erschwert Solidarität und damit auch politische Bündnisse. Das beanstandete schon Eldridge Cleaver, Mitbegründer der Black Panther Party, an Stokely Carmichael Ende der 1960er Jahre, und das ist auch heute wieder Teil der Debatte: Die Kritik an einem zu eng, zu statisch und ahistorisch gefassten Verständnis von Schwarzer Identität spiegelt sich in jenen Positionen, die die Bedeutung der von Schwarzen geprägten Kämpfe für die Allgemeinheit hervorheben. So erinnerte etwa Angela Davis, Ikone der Black-Liberation-Bewegung, in einem Vortrag 2013 daran, dass die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre nicht nur auf Bürgerrechte für Schwarze aus war. Es handelte sich laut Davis um eine Freiheitsbewegung, die sich nicht nur auf den institutionellen Rahmen des Bestehenden beschränkte. "Man wollte substanzielle Freiheiten gewinnen. Es ging um freie Bildung, kostenlose medizinische Versorgung und bezahlbares Wohnen." Sie bezieht sich dabei unter anderem auf das Zehn-Punkte-Programm der Black Panther Party (1966). In diesem Sinne plädiert auch Keeanga-Yamahtta Taylor dafür, die (nicht identitätspolitische) "Politik der Black Panther Party ernst zu nehmen" und für heutige Allianzen zwischen weißen und Schwarzen ArbeiterInnen fruchtbar zu machen. Zugleich aber kritisiert auch Taylor, ähnlich wie Coates, Bernie Sanders für seine "Farbenblindheit" und die Hoffnung, über die Bekämpfung ökonomischer Ungleichheit auch den Rassismus abschaffen zu können.

Ein Fokus auf rassialisierte Zuschreibungen bleibt also unumgänglich. Die historisch fundierte Gewalt der rassialisierten Zuschreibung mit ihren gegenwärtigen Auswirkungen auf die Wohnbezirke und Kreditvergaben oder auf die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen oder grundlos erschossen zu werden, schafft eine "Notwendigkeit von Identitätspolitik". Zugleich gibt es, wenn "Rasse", wie bei Coates, als Effekt von Rassismus begriffen wird, keinen Grund, an dem Konzept festzuhalten. Das ist das grundlegende Dilemma von emanzipatorischer Identitätspolitik.

ist promovierter Soziologe am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie sowie die Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen. E-Mail Link: j.kastner@akbild.ac.at