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Was für den Westen zählt, oder: Sind amerikanische Werte auch unsere Werte? | Wertepluralismus und Toleranz | bpb.de

Wertepluralismus und Toleranz Editorial Was für den Westen zählt, oder: Sind amerikanische Werte auch unsere Werte? Ein Krieg "jeder gegen jeden": Terror und die Politik der Angst Globaler Dschihad? Zum Verhältnis von Wissenschaft, Technologie und Globalisierung in der arabischen Welt Zivile oder herrschaftliche Religion?

Was für den Westen zählt, oder: Sind amerikanische Werte auch unsere Werte?

Richard Herzinger

/ 12 Minuten zu lesen

Es gibt zwei Manifeste amerikanischer Rechts- und Linksintellektueller. Publiziert wurden sie anlässlich des Terroranschlages vom 11. September 2001.

Einleitung

Anfang dieses Jahres veröffentlichten 60 namhafte amerikanische Intellektuelle ein Manifest mit dem Titel "What we're fighting for." Darin erklären sie ihre Unterstützung für den Antiterrorkrieg der US-Regierung und versuchen ihn rechtsphilosophisch und moraltheoretisch zu begründen. Zu den Unterzeichnern gehören, an prominenter Stelle, der Historiker Samuel Huntington, der Politologe Francis Fukuyama, der Soziologe Michael Walzer sowie Amitai Etzioni, der als ein führender Kopf der kommunitaristischen Denkschule bekannt geworden ist.

In ihrem Manifest betonen die Autoren, eine so schwerwiegende Angelegenheit wie ein Krieg, der "das Opfern und Auslöschen wertvoller Menschenleben einschließt", bedürfe unbedingt einer sorgfältigen ethischen Begründung. Sie räumen ein, dass die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in der Vergangenheit von manchen Fehlern und Irrwegen gekennzeichnet war. Und sie verbinden ihre Zustimmung zu militärischen Aktionen gegen den internationalen Terrorismus mit der Versicherung, "alles gegen die schlimme Versuchung zu tun, zu denen Nationen im Krieg neigen - vor allem Arroganz und Chauvinismus".

Umso mehr jedoch sehen sich die Verfasser veranlasst, für die Haltung ihrer Regierung Stellung zu nehmen. Denn der islamistische Terrorismus hat ja nicht nur ihr, sondern Amerika und seinen Werten insgesamt, und damit jedem einzelnen Amerikaner den tödlichen Kampf angesagt. Deshalb fragen die Unterzeichner: "Wer also sind wir? Was sind unsere Werte?" Und sie führen nun jene "Grundwahrheiten" an, auf die das Selbstverständnis der amerikanischen Nation gegründet sei: Alle Menschen hätten das Recht auf Freiheit, Würde und Rechtsgleichheit, auf Wahrheit, Gewissens- und Glaubensfreiheit. Hinzu kommen in dem Manifest weitere Werte, die in besonderer Weise mit den Gründungsidealen der amerikanischen Demokratie verbunden seien. Es sind dies das Bekenntnis zur Realisierung des Gleichheitsprinzips in der demokratischen Staatsform, zur Existenz allgemein gültiger moralischer Wahrheiten wie der Gleichheit aller Menschen vor Gott und dem Recht, nach dem eigenen Glück zu streben, sowie zu einer im Geist der Offenheit und Meinungsverschiedenheit ausgetragenen Meinungspluralität.

Für ihre Initiative sind die 60 Intellektuellen von verschiedenen Seiten heftig angegriffen worden. Nicht nur von arabischen Intellektuellen wie dem amerikanisch-palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said, sondern auch aus Europa ernteten sie den Vorwurf des Nationalismus und Kulturimperialismus. Am meisten provozierte die Kritiker, dass die Verfasser den Anspruch erheben, die von ihnen benannten "amerikanischen Werte" seien zugleich universale Werte, also Werte, die grundsätzlich für alle Menschen Gültigkeit haben.

Zuletzt hieß es in einer am 10. April 2002 in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichten und als "Brief von US-Bürgern an unsere Freunde in Europa" bezeichneten Gegenerklärung von 130 amerikanischen Linksintellektuellen, die "Apologeten der US-Kriegspolitik" setzten "amerikanische Werte" mit der "Ausübung von wirtschaftlicher und vor allem militärischer Macht der USA im Ausland" gleich. Die Gegenerklärung, die unter anderen von dem Schriftsteller Gore Vidal, dem katholischen Bischof Thomas Gumbleton und dem Physiker Alan Sokal unterzeichnet wurde, leugnet auch, dass die Anschläge des 11. September "amerikanischen Werten" gegolten haben sollen; vielmehr seien sie eine Reaktion gegen die von den USA überall in der Welt praktizierte "brutale Anwendung von Macht" gewesen. Ja, es wird sogar behauptet, die Anschläge von New York und Washington seien gar nicht der Grund, sondern nur der Vorwand für den "Krieg gegen den Terror": die Kriegspläne der US-Regierung gegen willkürlich ausgewählte Opfer ihrer Aggressionsbestrebungen hätten längst vorher festgestanden. In diesem immer gleichen "antiimperialistischen" Weltbild gelten die USA als das schlechthin Böse, als der alleinige Verursacher allen Elends und aller Gewalt auf der Welt. Folgerichtig erscheint dann massenmörderischer Terror wie der von islamistischen Extremisten als begreifliche Gegenwehr.

Sich selbst entlarvende Reaktionen wie diese zeigen, dass die Erklärung der 60 Intellektuellen einen Nerv getroffen hat. Berührt ihre Feststellung, die amerikanischen Grundwerte seien ein zivilisatorisches Gut der gesamten Menschheit, doch einen philosophischen Kernpunkt, der für die gegenwärtige politische Debatte um die Legitimität des amerikanischen Kriegs gegen den Terror von äußerster Relevanz ist. Denn an diesen Fragen scheiden sich derzeit nicht zuletzt in Europa die Geister: Wie weit darf man den USA in ihrer Strategie gegen den Terror folgen? War die Terrorattacke vom 11. September 2001 ein Angriff gegen die gesamte westliche Welt, oder hat sie ihre spezifische Ursache auch in einer fatalen Großmachtpolitik der Vereinigten Staaten? Und damit verbunden die Frage: Soll sich Europa weiterhin in Solidarität mit Amerika sehen, oder soll es nicht gerade jetzt eigene Wege gehen, seine eigenen Werte und Interessen definieren und gegen den großen Bruder jenseits des Atlantiks zur Geltung bringen?

Freilich bieten Erklärungen wie die der 60 Intellektuellen solchen Kritikern des amerikanischen Universalitätsanspruchs Angriffsflächen - allerdings in anderer Weise, als es deren eigener Kulturrelativismus intendiert. Denn die Unterzeichner der Erklärung haben gegen ihre Kritiker völlig Recht, wenn sie auf den universalistischen Charakter jener amerikanischen Grundwerte verweisen, die sie in ihrem Papier aufzählen. Das Verdienst der Erklärung liegt gerade darin, an diese universalistische Verpflichtung amerikanischer Politik auch und gerade in Zeiten des Krieges zu erinnern und zu unterstreichen, dass "amerikanische Werte" nur zur Rechtfertigung von Kriegen angeführt werden dürfen, wenn und insoweit sie mit universalen Menschenrechten in Übereinstimmung stehen. Dass amerikanische Regierungen gegen diese Werte selbst häufig verstoßen haben, ist kein Grund, ihren universellen Charakter in Zweifel zu ziehen. Denn sie wurden von den Gründungsvätern der Vereinigten Staaten ausdrücklich auch, ja sogar in erster Linie als Schutzvorrichtung gegen mögliche Übergriffe der eigenen Regierung formuliert. Und sie wirken in der amerikanischen Gesellschaft bis heute als starkes Bollwerk gegen despotische Ambitionen der Staatsmacht.

Die Schwäche des Papiers liegt vielmehr in seinem Versuch, das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft substanzialistisch aus moralphilosophischen Wahrheiten heraus zu definieren. Damit verfehlen sie nämlich die entscheidende Dimension dessen, was die pluralistischen Gesellschaften des Westens in aller Welt so anziehend macht. Gleich zu Beginn ihrer Erklärung räumen die Verfasser ein, es gebe in Amerika einige Werte, die "nicht erstrebenwert" seien: zum Beispiel "der Konsum als Lebenszweck" oder "die Schwächung von Ehe und Familienleben". Dagegen setzen sie dann jene wahrhaft substanziellen Werte, die das Fundament der amerikanischen Gesellschaft bildeten und die es gegen den Terrorismus zu verteidigen gelte. Mit dieser Unterscheidung in verächtliche, wertlose und edle, wertvolle Werte sind die Autoren den terroristischen Apokalyptikern jedoch schon in die Falle gegangen. Diese interessiert ja in Wahrheit gar nicht, woran die Menschen, die sie am 11. September im World Trade Center auslöschten, im Einzelnen geglaubt haben. Was es gegen diese Massenmörder zu verteidigen gilt, ist nicht primär eine bestimmte moralische Überzeugung, sondern das nackte Existenzrecht freier Menschen. Die islamistischen Extremisten sprechen nämlich jedem Menschen das Lebensrecht ab, der ihre psychopathische Version eines einzigen rechten Gottesglaubens nicht teilt. Was sie am Westen am meisten hassen, ist gerade die dort herrschende Freiheit jedes Einzelnen, nach eigenen Wertvorstellungen zu leben, ohne diese von übergeordneten Autoritäten einer allein selig machenden Weltanschauung vorgeschrieben zu bekommen. Angesichts einer solchen Herausforderung gilt es, aller Menschen Recht auf Leben und freie Entfaltung zu verteidigen - gleichgültig, ob sich einer (oder eine) nun den Konsum oder die Familie zum "Lebenszweck" erkoren hat. Denn diese Freiheit, sich den eigenen Daseinssinn selbst zu wählen, macht den wirklich zentralen Wert der pluralistischen Zivilisation der westlichen Welt aus. Zugespitzt formuliert: Was die einzelnen Bürger für einen wirklich lebenswerten Wert halten, geht Moraltheoretiker wie Huntington und Etzioni nichts an. Und schon gar nicht irgendwelche islamistische Chefideologen, die uns für unsere "Dekadenz" bestrafen wollen.

Die Verachtung, mit der die Verfasser der Erklärung vom "Konsum als Lebenszweck" sprechen, ist zudem ganz unangemessen. Denn das Konsumprinzip ist die vielleicht bedeutendste Erfindung, mit der die Vereinigten Staaten die Welt revolutioniert haben, und es bringt das amerikanische Freiheits- und Gleichheitsprinzip besser und anschaulicher zum Ausdruck als jede philosophische Grundsatzerklärung. Die USA haben Europa nicht nur vom Nationalsozialismus befreit und gegen den Sowjettotalitarismus beschirmt; ihre Präsenz hat Europa seit 1945 auch im Innersten verändert. Amerika hat (West-)Europa pazifiziert, indem es ihm ein neues, übergreifendes Daseinsideal implantierte: die egalitäre Konsumentendemokratie. Die viel gescholtene Fixierung auf den Massenkonsum als gesellschaftlichen Endzweck hat gewalttätige religiöse, nationale, ethnische und ideologische Vorherrschaftsambitionen, von denen Europa jahrhundertelang geplagt wurde, wirksamer unterminiert als manche Proklamation der Völkerverständigung. Das Konsumprinzip ist das amerikanische Integrationskonzept schlechthin: Es fokussiert alle Fortschrittsanstrengungen auf das private Glück des Einzelnen. Der Einzelne aber kann sich als Konsument seiner Individualität versichern, sich zugleich aber im Gleichklang mit der großen Konsumentengemeinschaft fühlen - der Konsumismus ist sowohl individualistisch als auch kollektivistisch. Die Orientierung am Konsum hält obendrein Rassismus und religiös-kulturellen Hass im Zaum; kommt doch jeder Einzelne, egal welcher Hautfarbe, Religion oder kulturellen Herkunft, als potenzieller Konsument in Frage, weswegen niemand grundsätzlich aus der Konsumentendemokratie ausgeschlossen werden darf.

Die Konsumentenkultur ist die eigentliche "Leitkultur" der westlichen Welt. Auf ihrer weltweiten Anziehungskraft, und nicht so sehr auf der militärischen und technologischen Überlegenheit der USA, beruht das Erfolgsgeheimnis der so genannten "Amerikanisierung", gegen die sich die Gralshüter kultureller Reinheit überall auf dem Globus so heftig erregen. Doch die "Amerikanisierung" ist kein Ausdruck von Kulturimperialismus; sie ist kein von außen aufgezwungenes Diktat, sondern gerade wegen ihrer großen Flexibilität und Kompatibilität so erfolgreich: Kein Land übernimmt die Importe der amerikanischen Massenkultur, ohne sie den jeweils eigenen spezifischen Bedingungen anzuverwandeln. Die amerikanische Massenkultur selbst ist ja das Produkt einer solchen "Hybridisierung", wie die Kultursoziologie diesen Prozess nennt: Fremde Kulturen treffen auf engstem Raum aufeinander und gehen miteinander neuartige Verbindungen ein. Diese übersetzt sie in einen universalen Code, der von allen entschlüsselt werden kann. Die amerikanische Massenkultur ist Produkt einer inneren Dynamik, mit der die multiethnische amerikanische Gesellschaft immer neue Kultureinflüsse aufzunehmen und mit ihrem Selbstbild in Einklang zu bringen in der Lage ist.

Was aber macht die innere Kraft aus, die Amerika in so beispielloser Weise befähigt, potenzielle kulturelle Zerreißkräfte in Produktivität und Selbstgewissheit zu verwandeln? Es ist wohl der vom europäischen Standpunkt aus - allenfalls vom englischen, denn dort herrscht eine ähnliche Disposition - kaum nachvollziehbare Pragmatismus im Umgang mit Gegensätzen und Konflikten. Oder genauer: die Bereitschaft, in extremen kulturellen und sozialen Unterschieden das Element der Gleichheit wahrzunehmen. Die Ursache ist im individualistisch-universalistischen Menschenbild amerikanischer Prägung zu suchen. Um heute als guter Amerikaner zu gelten, spielt es keine entscheidende Rolle mehr, welche religiösen oder kulturellen Riten man zelebriert. Das wird grundsätzlich als Privatsache betrachtet. Sekundär ist auch, ob man sein Wohlbefinden in der ethnisch-kulturellen Abkapselung oder der Vermischung sucht. Entscheidend dagegen ist, ob man sich dem amerikanischen Glauben an das selbst verantwortete Streben nach individuellem Erfolg als dem eigentlichen Daseinssinn eines Menschen anschließt. Die Überzeugung, dass dieses Glücksstreben jedem Individuum angeboren sei, egal, aus welchem noch so fernen Kulturkreis er stammt, begründet den Vertrauensvorschuss, der Einwanderern prinzipiell entgegengebracht wird. Paradoxerweise ist es gerade der Verzicht auf die Vorstellung von der Gesellschaft als einer homogenen Einheit, die der amerikanischen Gesellschaft ihr außerordentlich starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und ihre beispielhafte Erneuerungsfähigkeit sichert.

Dieses gesellschaftliche Heterogenitätsprinzip wird mehr und mehr zum Leitbild aller modernen pluralistischen Gesellschaften - aber es ist, wie zuletzt die zähe Debatte über das Einwanderungsgesetz in Deutschland gezeigt hat, nicht nur der islamischen Welt, sondern sogar den europäischen demokratischen Nationen nicht ganz geheuer. Und nicht einmal großen Teilen der amerikanischen Intelligenz, wie der Versuch der 60 Intellektuellen zeigt, die amerikanische Gesellschaft substanzialistisch zu begründen. Da ihre moralphilosophische Definition amerikanischer Werte - in diesem Punkt stark vom kommunitaristischen Denken geprägt - auf Homogenisierung zielt, entgeht ihr das Spannungsverhältnis, in dem die moralischen Überzeugungen westlicher Gesellschaften stehen.

Für die Erklärung der 60 ist der Antiterrorkrieg ein "gerechter Krieg", weil er gegen einen Feind geführt wird, der elementaren Rechten aller Menschen den Kampf angesagt hat. So weit kann man ihrer Argumentation folgen. Doch damit ist zunächst nur gesagt, dass die Vereinigten Staaten generell berechtigt sind, sich gegen erklärte Todfeinde kriegerisch zur Wehr zu setzen. Es sagt aber noch nichts darüber aus, inwieweit bestimmte militärische Aktionen politisch, rechtlich und ethisch statthaft sind. Hier spielen im Übrigen konkrete interessenpolitische und militärstrategische Aspekte eine wesentliche Rolle. Ein möglicher Krieg gegen den Irak zum Beispiel kann nach diesen Kriterien ganz anders beurteilt werden als der Einsatz in Afghanistan.

Die Beseitigung des Taliban-Regimes und die Vertreibung der Al-Qaida aus ihrer Hauptbastion Afghanistan stellen eine starke Rechtfertigung des amerikanischen Bombenkrieges dar. Aber wie viele zivile Opfer durfte man für dieses Ziel in Kauf nehmen? Die Frage führt - welche moralphilosophischen Kriterien man auch immer anlegt - in ein ethisches Dilemma. Das individuelle Menschenleben ist das höchste Gut eben jener pluralistischen Ordnung, zu deren Verteidigung die USA und ihre westlichen Verbündeten Kriege wie die in Afghanistan führen müssen. Dass man dabei aber eben dieses höchste Gut antasten muss, bleibt in jedem Fall ein moralischer Makel, den man nur ertragen, nicht aber wegwischen kann.

In dieser Fähigkeit, auch unlösbare Widersprüche auszuhalten und sie offen zu benennen, um Missständen entgegentreten zu können, erweist sich die Überlegenheit einer offenen Gesellschaft gegenüber Systemen, die auf die gewaltsame Harmonisierung von Konflikten angewiesen sind. Wenn man fragt, was die Gemeinsamkeit ausmacht, die westliche Demokratien in einer "Wertegemeinschaft" verbindet, wird man bald feststellen, dass der Begriff "Westen" nichts Statisches beschreibt. Die Praktizierung der Todesstrafe in den USA wird von den Europäern zu Recht als menschenunwürdig verurteilt. Doch es ist noch nicht lange her, dass die Europäer selbst die Todesstrafe abgeschafft haben. Frankreich und Belgien haben noch vor wenigen Jahrzehnten grausame Kolonialkriege geführt, und die französische Armee hat im Algerienkrieg offenbar systematisch die Folter angewendet. Im Süden der Vereinigten Staaten galten bis in die sechziger Jahre hinein rassistische Segregationsgesetze, die schwarze Bürger vom Wahlrecht ausschlossen und zu Parias stempelten. Es waren die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die mit ihr verbündeten antirassistischen Organisationen, die in diesen Jahren "den Westen" repräsentierten - und sich in einem Staat, der die Führungsmacht der westlichen Welt war, wie in Feindesland fühlen mussten.

Seit dieser Zeit hat sich in den westlichen Demokratien ein enormer Wandel vollzogen. Die universalen Menschenrechte genießen inzwischen geradezu den Status einer Zivilreligion, auf die internationale Bündnis- und Vertragsstrukturen sowie neuartige Institutionen wie das Internationale Kriegsverbrechertribunal gegründet sind. Aber solche Errungenschaften bleiben stets gefährdet, und es lässt sich daraus keine systemimmanente Fortschrittsbewegung hin zu einer immer gerechteren Gesellschaft ableiten. Rassismus und Gewalt wird es auch in westlichen Ländern weiterhin geben - es kann allenfalls gelingen, diese Erscheinungen zu verringern und auf Dauer einzudämmen. Die offene Gesellschaft hält keine Verheißung einer besseren Welt bereit, in der sich alle Gegensätze eines Tages in das friedvolle Miteinander einer einzigen "Family of Man" auflösen würden. Was sie anderen Gesellschaftsordnungen voraus hat, ist ihre Fähigkeit zur Selbstinfragestellung und Veränderung, die ihr eine nie gekannte Dynamik der Anpassung ihrer Strukturen an ökonomische und kulturelle Veränderungen sowie an neue soziale Konfliktkonstellationen verleiht.

Der Westen ist nicht mehr und nicht weniger als das Versprechen, es sei möglich, selbst den schlimmsten Gefahren und Problemen, mit der eine Gesellschaft konfrontiert wird, unter Wahrung der Würde und Freiheit des Einzelnen zu begegnen. Dass jede Beseitigung eines Missstandes, welche die Beseitigung der Freiheit beinhaltet, schlimmer sei als dieser Missstand selbst, ist seine Maxime. Es ist die Maxime eines defensiven Freiheitsverständnisses: Erst die Geltungskraft von individuellen Grundrechten, die den Einzelnen und die Minderheiten vor dem willkürlichen Willen der Mehrheit schützt, macht eine demokratische Gesellschaft zu einer freiheitlichen Demokratie. Die offene Gesellschaft gründet zudem auf Werten, die nicht völlig miteinander in Deckung gebracht werden können, manchmal sogar in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander stehen. In aller Regel geht die Durchsetzung eines positiven Ziels auf Kosten eines anderen, ebenso erstrebenswerten. Individuelle Freiheit und soziale Gleichheit sind solche gleichermaßen hoch zu schätzenden Werte, die sich aber nie ganz in Einklang bringen lassen. Pluralismus bedeutet eben nicht, dass am Ende des zugelassenen Streits doch wieder alle am gleichen Strang ziehen, sondern dass Gegensätze auch im aktiven Gegeneinander fortbestehen dürfen.

So hält sich die offene Gesellschaft in einer prekären Balance, die sie aber gerade dann verlieren würde, wenn man ihren experimentellen Charakter zugunsten einer einheitsstiftenden Werteverordnung überwinden wollte. Der Westen baut wohl auf einem tradierten Wertefundament auf, an das die 60 amerikanischen Intellektuellen mit Recht erinnert haben. Seine wahre Stärke aber liegt in seiner Freude an der Kontingenz. Der Wahrheit über die Werte, die wir im Krieg gegen den Terror gemeinsam mit den USA verteidigen müssen, ist der Schriftsteller Salman Rushdie näher gekommen, als er den Fundamentalisten entgegenhielt, "was für uns zählt": "Küssen in der Öffentlichkeit, Schinkensandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechtere Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe": Kurz: Ein freies, abwechslungsreiches Leben.

Dr. phil., geb. 1955; Publizist und Redakteur im Politikressort der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg.

Anschrift: Die Zeit, 20079 Hamburg.
E-Mail: herzinger@zeit.de

Veröffentlichungen u.a.: Die Tyrannei des Gemeinsinns, Berlin 1997; Republik ohne Mitte, Berlin 2001.