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Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen - aber wie? | Arbeitslosigkeit | bpb.de

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Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen - aber wie?

Günter Thoma

/ 17 Minuten zu lesen

Der Jugendarbeitslosigkeit sollte u.a. durch die Erleichterung des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt begegnet werden: durch eine gezielte Förderung der Ausbildungsreife und Optimierung der Ausbildungssituation.

Einleitung

Die Bekämpfung der Beschäftigungslosigkeit hat in unserer Gesellschaft höchste Priorität. Enorme Anstrengungen werden zu ihrer Verringerung unternommen; dabei kommt der Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit ein besonderer Stellenwert zu. Millionen Mark und Euro sind in der Vergangenheit für entsprechende Programme ausgegeben worden - ohne den gewünschten Erfolg zu erzielen. Könnte es sein, dass die alten Antworten nicht mehr taugen, weil sich mittlerweile die Fragestellungen verändert haben? Immerhin schlagen wir uns nun schon seit dreißig Jahren mit einer alles in allem wachsenden Massenbeschäftigungslosigkeit herum. Es sind also neue Konzepte gefragt.

Was den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit betrifft, so muss einerseits in den Bereichen Prävention und Qualifizierung entschieden anders vorgegangen werden als bisher. Andererseits ist die Jugendarbeitslosigkeit Teil der allgemeinen Krise der Arbeit, deren Überwindung eine wesentliche Bedingung dafür ist, die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern bzw. zu beseitigen.

Eine Absage muss all jenen erteilt werden, welche sich die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit vom zu erwartenden Geburtenrückgang erhoffen. Die Zukunft ist grundsätzlich nicht vorhersehbar, da man nie alle Faktoren berücksichtigen, geschweige denn richtig einschätzen kann. Außerdem gibt es zahlreiche Einflüsse, welche die Entlastung des Arbeitsmarktes durch einen Geburtenrückgang mehr als neutralisieren könnten. Wir haben das Problem jetzt. Die Frage muss also lauten: Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen - aber wie?

I. Prävention

Prävention bedeutet, den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt so zu gestalten, dass so wenig Jugendliche wie möglich ausbildungsplatz- bzw. arbeitssuchend werden. Zwei präventive Maßnahmen sollen im Folgenden vorgeschlagen bzw. erörtert werden: erstens die gegenwartsgerechte Förderung der Ausbildungsreife auf Seiten der Jugendlichen und zweitens die Optimierung der Ausbildungssituation.

Die Arbeitswelt hat sich dramatisch verändert und stellt vor allem junge Menschen vor neue Herausforderungen, denen mit herkömmlichen Präventionsmaßnahmen nicht mehr begegnet werden kann. An die Stelle des früher nahtlosen Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt ist eine Kluft getreten. Viele SchulabgängerInnen fragen sich Jahr für Jahr, wie sie diese überwinden können. Finden sie keine konkreten Antworten auf ihre Fragen, machen sich leicht Frust, Resignation und Perspektivlosigkeit unter ihnen breit. Sie erleben den Übergang ins Berufsleben dann nicht selten als eine Überforderung - mit dem Resultat, dass viele von ihnen in diese Kluft stürzen. Anschließend müssen sie aus dieser mühsam wieder herausklettern bzw. geborgen werden. Viele Orientierungsprogramme für junge Arbeitsuchende, die teuer sind und jährlich in die Millionen gehen, erübrigten sich, wenn es eine bessere Berufsorientierung gäbe. Viele der Ausbildungsabbrüche könnten vermieden werden, hätten die SchulabgängerInnen die Arbeitswelt vorher kennenlernen und so den zu ihnen passenden Beruf herausfinden können. Die so genannte Normalbiografie gehört der Vergangenheit an. Der formale Schulabschluss, das Gelernte und ein gutes Zeugnis garantieren nicht mehr den reibungslosen Anschluss an die Arbeitswelt. Zusätzliches Rüstzeug ist notwendig geworden.

1. Gegenwartsgerechte Förderung der Ausbildungsreife

Die gegenwartsgerechte Förderung der Ausbildungsreife besteht in der Entwicklung der individuellen Möglichkeiten der Jugendlichen, der Ableitung einer Idee für ihre künftige Tätigkeit und schließlich in deren Umsetzung in der Arbeitswelt. Weshalb ist diese Vorgehensweise erforderlich?

1. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist unübersichtlicher geworden. Das Wissen um die eigenen Möglichkeiten und die Formulierung einer persönlichen Idee für Beruf und Arbeit geben dem jungen Menschen Richtung und Orientierung.

2. Routinetätigkeiten werden automatisiert und Problemstellungen bzw. deren Lösungen rücken als Arbeitsaufgaben in den Mittelpunkt. Daraus ergeben sich nicht nur andere, sondern zugleich höhere Anforderungen für den Arbeitenden. Die Entwicklung und Nutzung der eigenen Möglichkeiten ist erforderlich, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Die bloße Arbeitskraft reicht hierfür nicht mehr aus.

3. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist nach wie vor eng und wird es auch künftig bleiben. Es herrscht harte Konkurrenz um fast alle Stellen. Wer sich beliebig bewirbt und nichts vorzuweisen hat außer einer gut gestylten Bewerbungsmappe, ist denjenigen unterlegen, die eine Eignung für die betreffende Arbeit vorweisen können. Die Arbeitgeber haben die Wahl und können sich aus den zahlreichen BewerberInnen die Geeignetsten auswählen.

4. Während früher zwischen unterschiedlichen Angeboten am Arbeitsmarkt gewählt werden konnte, hängt die Entscheidung für einen Beruf bzw. eine Ausbildung heute in stärkerem Maße von der persönlichen Entwicklung und den eigenen Möglichkeiten ab. Damit rückt der Jugendliche selbst bzw. sein "Selbstmanagement" in den Mittelpunkt.

An die Stelle der Berufswahl tritt die Frage, wie man das, was man gern tun möchte, in der Arbeitswelt realisieren kann. Die klassische Berufsberatung mit ihren derzeitigen Hilfsangeboten ist hier überfordert, weil sie in erster Linie informationsorientiert ist. Diese Informationen sind aber nur bzw. erst dann nützlich, wenn die jungen Orientierungssuchenden wissen, was sie (mit ihren persönlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten) wollen (können). Die Berufsberatung setzt also das voraus, weswegen Jugendliche in die Beratung kommen: nämlich eine Antwort auf ihre zentrale Frage zu finden, was sie unter den gegebenen Bedingungen tun wollen.

Dabei ist zu bedenken, dass die Berufsberatung nicht die Kapazität für eine Serie von Einzelgesprächen hat, die für die bessere Orientierung der Jugendlichen erforderlich wäre. Sie steht also auf verlorenem Posten, wenn die Jugendlichen nicht anderenorts auf vielfältige Art und Weise an die Beantwortung der Frage herangeführt werden.

Die Förderung der individuellen Ausbildungsreife ist aufwändig und nimmt viel Zeit in Anspruch. Institutionell sehe ich deshalb keinen anderen Ort als die Schule, an dem dieser Prozess anzusiedeln wäre. Nirgendwo sonst ist im Vorfeld der Arbeitswelt dieser Spielraum vorhanden.

Wie soll die Förderung der Berufsreife inhaltlich aussehen, und wie kann sie in die Praxis umgesetzt werden? (Vgl. die Übersicht.) Der erste Schritt besteht darin, die individuellen Möglichkeiten der Jugendlichen zu erkennen und zu entwickeln. Es geht darum herauszufinden, was der oder die Einzelne an Potenzial, Ressourcen, persönlichen Eigenschaften und Interessen mitbringt. In einem zweiten Schritt ist zu entscheiden, wie dieses gefördert werden könnte.

Dieser Ansatz steht im Gegensatz zur herrschenden pädagogischen Praxis, die von der Persönlichkeit der SchülerInnen abstrahiert: Unsere Pädagogik zeichnet sich einerseits durch eine mehr oder weniger abstrakte Wissensvermittlung aus; andererseits setzt sie alle SchülerInnen gleichen zeitlichen, inhaltlichen und didaktischen Lernbedingungen aus. Dabei ist längst bekannt, dass jeder Mensch anders lernt. Ergebnis dieser Pädagogik ist nicht der viel beschworene humanistisch gebildete Mensch bzw. dessen individuelle Entwicklung. Vielmehr werden normierte, weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibende, zum Teil lebensfremde und sich selbst entfremdete junge Menschen "produziert", die nicht selten orientierungslos und ohne die notwendigen Fähigkeiten in die "raue Wirklichkeit" entlassen werden. Aus der Sicht einer Schulabgängerin hört sich das so an: "Unsicher schlittern wir nun vorwärts. Unsicher und ängstlich, weil es nie eine wirkliche Interessensfindung gegeben hat, unsere Köpfe wurden hervorragend trainiert, nur, was von dem Gelernten uns selbst angeht, haben wir nie herausgefunden, zu beschäftigt waren wir mit der Jagd nach Noten."

Dieser inneren Dimension steht eine äußere gegenüber: die Aufgabe, jungen Menschen die Bedingungen der Arbeitswelt nahe zu bringen. Es gilt, SchülerInnen mehr und bessere Kenntnisse über die Arbeitswelt und die Arbeitsgesellschaft insgesamt zu vermitteln. Themen wie der ökonomisch-technologische Fortschritt, seine Auswirkungen auf Beschäftigungsverhältnisse, Chancen und Risiken der Veränderungen in der Arbeitswelt, Globalisierung und ihre Folgen usw. gehören auf den Stundenplan. Entsprechende Kenntnisse sind eine Voraussetzung dafür, dass sich Jugendliche mit der Arbeitsgesellschaft beschäftigen bzw. beschäftigen können. Sie werden so überhaupt erst in die Lage versetzt, sich zu der Welt ins Verhältnis zu setzen, in die sie nach der Schule entlassen werden.

Zugleich gilt es, die Vermittlung beruflicher Informationen zu optimieren. Neue Berufsbilder tauchen auf, alte verschwinden. Die Einführung neuer Technologien stellt höhere Anforderungen an ArbeitnehmerInnen wie Auszubildende. Die Kfz-Lehre z. B. bedeutet heute etwas ganz anderes als vor zehn Jahren. Was für den Beruf des Kfz-Mechanikers gilt, trifft für viele andere auch zu. Aus diesem Grund bedarf es einer systematischen Berufsorientierung. Bei Jugendlichen tauchen Fragen über Fragen auf, die es zu beantworten gilt: Welchen Beruf, welche Arbeit soll man wählen? Welcher Beruf ist sicher? Welcher bietet eine Perspektive? Welchem wird man mit den gegebenen persönlichen Voraussetzungen am besten gerecht? Welcher passt zu mir? Nicht nur die Jugendlichen haben diesbezüglich Orientierungsschwierigkeiten, sondern auch deren Eltern. Sie können nicht mehr ohne weiteres Empfehlungen geben. Wie ihre Kinder sind auch sie auf Hilfestellung von außen angewiesen.

Schließlich bedarf es der Vermittlung von Basis- und Schlüsselqualifikationen. Die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA haben jüngst gezeigt, dass es auch hier an Deutschlands Schulen mangelt. Es wurde ja bekanntlich nicht das Abfragewissen geprüft, sondern es wurde auch "die Fähigkeit von Schülern, Probleme zu lösen, aus Wissen Schlüsse zu ziehen, es im Alltag anzuwenden - zu denken also" getestet. Angesichts der miserablen Ergebnisse sind die Folgen absehbar: "In Deutschland wächst offenkundig eine Generation heran, der es in großen Teilen an elementaren Voraussetzungen fehlen wird, sich im Beruf wie im Leben zurechtzufinden."

Die Entwicklung der beschriebenen inneren und äußeren Dimension der Förderung der Ausbildungsreife ist vor allem eine Sache der Praxis. Es gilt, ein schulisches Umfeld zu schaffen, in dem Jugendliche sich ausprobieren, einbringen und bewähren können. Jugendliche müssen Fehler bzw. Erfahrungen machen dürfen, ohne dafür gleich mit schlechten Noten bestraft zu werden. Projekt- und Praxiszusammenhänge dienen zugleich der Vermittlung von Basis- und Schlüsselqualifikationen. Beide können nicht in der herkömmlichen Unterrichtsform, der Wissensvermittlung, angeeignet werden. Es nützt nichts, wenn Jugendliche einen Aufsatz über Eigeninitiative schreiben können. Es kommt darauf an, dass sie lernen, eigeninitiativ zu werden. Inhalte der äußeren Dimension sind in erster Linie durch vielfältige Begegnungen mit der Arbeitswelt zu vermitteln. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Das fängt an bei informellen Gesprächen mit BerufsvertreterInnen, geht über Praktika bis hin zu gemeinsamen Vorhaben von Schule und Unternehmen. Vor dem Hintergrund der eigenen Möglichkeiten und der gesammelten Erfahrungen sind Ideen für künftige Tätigkeiten zu generieren. Darüber hinaus wird für eine Ideenanregung plädiert. Damit sollen Jugendliche nicht von ihrem Weg abgebracht, ihnen soll nichts oktroyiert werden. Durch die Vorstellung unterschiedlichster Lebens- und Berufswege sowie Arbeitsmöglichkeiten soll sich eigenes Interesse entwickeln und strukturieren können.

Häufig ist zu hören, man solle Jugendliche bei der Berufswahlentscheidung am besten sich selbst überlassen. Sie müssten alleine herausfinden, welchen Weg sie einschlagen wollen. Jede Intervention stelle dabei eine Beeinflussung dar. Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, dass erst die Kenntnis von Optionen eine sachgerechte Entscheidung möglich macht. Vor dieser steht der praktische Versuch, stehen Praktika, die es ermöglichen, sich auszuprobieren, Vorstellungen zu präzisieren, mögliche Tätigkeitsfelder miteinander zu vergleichen. Auf dieser Basis kann nach einem Ausbildungsplatz gesucht werden, der zur gewünschten Tätigkeit passt. Jetzt erst sind bei den Jugendlichen die Voraussetzungen gegeben, auf denen die Berufsberatung aufbauen und auf die das Ausbildungssystem reagieren kann.

2. Optimierung der Ausbildungssituation

Die Ausbildungssituation muss hinsichtlich folgender drei Punkte verbessert werden:

1. Erhöhung der Zahl der Ausbildungsplätze

Solange die Zahl der SchulabgängerInnen in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch zunimmt, gilt es weitere Anstrengungen zu unternehmen, rein quantitativ mehr Ausbildungsplätze im ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Es gibt hierzu Vorschläge. Zwei seien an dieser Stelle genannt: die Entwicklung neuer Ausbildungsberufe und die Schaffung von Ausbildungsverbänden, um brachliegendes Ausbildungspotenzial zu aktivieren.

2. Behebung des Mismatch-Problems im Ausbildungsmarkt

Das Mismatch-Problem im Ausbildungsmarkt besteht einerseits darin, dass offene Lehrstellen nicht besetzt werden können, obwohl es zahlreiche unversorgte SchulabgängerInnen und junge Arbeitssuchende gibt. Es hat andererseits damit zu tun, dass Talente und Fähigkeiten von Jugendlichen nicht erkannt und genutzt werden. Diesem Problem ist mit passgenauer Vermittlung zu begegnen. Voraussetzung dafür ist eine enge Kooperation von Schule und Ausbildungssystem. So kann Schulen und Ausbildungseinrichtungen nur dringend empfohlen werden, konkrete berufsorientierende Projekte gemeinsam durchzuführen, um den geeigneten Nachwuchs für die Ausbildung zu rekrutieren. Die Projektgestaltung hängt dabei von der konkreten Problemlage vor Ort ab. Es mag sich dabei darum handeln, Jugendliche betriebsnah über Ausbildungsinhalte zu informieren. Es kann auch das Anliegen von Ausbildern sein, potenzielle Lehrlinge kennenzulernen.

3. Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen

In den letzten Jahren lag die Zahl der Ausbildungsabbrüche bei ca. 20 Prozent. In absoluten Zahlen wurden 1998 von 611 819 Ausbildungsverträgen 134 683 gelöst. Angesichts der Tatsache, dass jede fünfte Ausbildung scheitert, müssen dringend Maßnahmen zur Reduzierung dieser Abbrüche ergriffen werden. Das gilt umso mehr, als sie Frustrationen und Kosten verursachen und die Ausbildungsbereitschaft auf beiden Seiten dämpfen. Zu Ausbildungsabbrüchen kommt es häufig auf Grund von Überforderungen auf Seiten der Jugendlichen. Es ist folglich bei der Berufswahl darauf zu achten, diese möglichst zu vermeiden. Dazu könnte das Berufsausbildungssystem beitragen, wenn es sich ausdifferenzieren würde in Kernqualifikationen, Wahlpflichtbausteine und Zusatzqualifikationen. Durch eine solche Differenzierung würden leistungs- und lernschwächere Jugendliche entsprechend gelenkt und nicht überfordert. Ihnen würde eine größere Chance auf eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung eingeräumt: Im Ergebnis ginge die Zahl der Ausbildungsabbrüche zurück. Umgekehrt würden durch eine solche Ausdifferenzierung leistungsfähige Jugendliche nicht unterfordert. Wahlbausteine und Zusatzqualifikationen ermöglichten es, Talente und Begabungen von Jugendlichen zu berücksichtigen. Ausbildungsschwerpunkte könnten für Jugendliche geschaffen werden.

II. Innovative Qualifizierung und Arbeitsschaffung für junge Arbeitssuchende

Die herkömmliche Qualifizierung ist weder entschieden genug am Potenzial der einzelnen jungen Arbeitsuchenden noch an den entsprechenden Erfordernissen der Arbeitswelt ausgerichtet. Sie vermittelt immer noch zu viel abstraktes Wissen. Die Berufswahlentscheidung der Jugendlichen wird implizit vorausgesetzt, statt sie mit diesen gemeinsam zu entwickeln. Die jungen Menschen werden bestenfalls auf einen anonymen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vorbereitet. Das Ziel innovativer Qualifizierung besteht darin, dass die Jugendlichen tatsächlich den Übergang in diesen Markt schaffen. Es ist zu realisieren auf dem Wege der

- Vermittlung von Schlüsselqualifikationen - allen voran Eigeninitiative und Unternehmensgeist, damit die Teilnehmer sich selbständig im Arbeitsmarkt bewegen können;

- Förderung des vorhandenen Potenzials ihrer jugendlichen Teilnehmer;

- Förderung und Entwicklung persönlicher Ideen über ihre künftige Tätigkeit und die selbstständige Umsetzung;

- präzisen Analyse des Arbeitsmarktes und seines Bedarfs;

- Unterstützung bei der Entdeckung des formellen wie informellen Arbeitsmarktes;

- Schaffung vielfältiger Beziehungen zwischen den Jugendlichen und der Arbeitswelt.

Außerdem macht es sich die innovative Qualifizierung zur Aufgabe, gemeinsam mit arbeitslosen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen neue Arbeitsmöglichkeiten zu entwickeln und zu schaffen - vor allem mit jenen, denen der Arbeitsmarkt wenig Möglichkeiten bietet, bzw. mit jenen, die für sich keine Chancen sehen. Ein Beispiel für die Schaffung individueller Arbeit ist das "Projekt Enterprise" in Brandenburg: ein alternatives Existenzgründungsprogramm für junge Arbeitslose, die sich selbständig machen wollen und wirtschaftlich benachteiligt sind: "Mit Enterprise wird jungen Menschen ein neuer Zugang zu Qualifizierungsmöglichkeiten geboten, indem auf deren spezifische Bedarfe zur Verwirklichung ihres Konzepts reagiert wird. Ziel ist es, junge Menschen zu befähigen, eigenständige Erwerbsstrategien zu entwickeln und ihre Lebens- und Berufsbiographien selbst zu gestalten", heißt es in einem Auszug aus der Informationsschrift zu dem Projekt.

Gering qualifizierte und benachteiligte Jugendliche in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu integrieren erfordert besondere Anstrengungen, da dies aus folgenden Gründen immer schwieriger wird:

- Einfache Tätigkeiten fallen der Rationalisierung am stärksten zum Opfer, so dass die Zahl der Stellen für ungelernte Arbeitskräfte stetig abnimmt.

- Geringqualifizierte werden auf dem Arbeitsmarkt von den besser Qualifizierten verdrängt.

- Geringqualifizierte haben genau das nicht, was die meisten Jobs voraussetzen: höhere Bildungsabschlüsse. Sie sind damit von vorneherein von der Mehrheit der Stellen ausgeschlossen.

Nicht selten kommen erschwerende soziale und persönliche Umstände hinzu, wie Erziehungsdefizite und familiäre Probleme. Mehr noch: Wie die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen, werden Schüler mit einem schwierigen familiären Hintergrund nicht etwa besonders gefördert, um die Defizite wettmachen zu können. Das Gegenteil ist der Fall. So ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeitslosigkeit sozial benachteiligter Jugendlicher in der Schule bereits programmiert ist.

Es stellt sich die Frage, was zu tun ist, wenn es für diese Gruppe junger Menschen tatsächlich keine Vollerwerbsarbeitsplätze mehr gibt. Dann wird es erforderlich, auf Arbeitsformen jenseits von Job und Beschäftigung zurückzugreifen, um den Lebensunterhalt zumindest teilweise durch Arbeit zu sichern. Selbstversorgung ist eine solche Arbeitsform. Durch Verminderung der Lebenshaltungskosten - durch die Verringerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Zielgruppe - wird der Zwang reduziert, jeden Monat eine beträchtliche Summe Geld verdienen zu müssen. Der Effekt der Selbstversorgung lässt sich besonders gut am Beispiel der Schaffung von Wohnraum illustrieren. Haben die betroffenen Jugendlichen die Gelegenheit, ihren künftigen Wohnraum selbst zu sanieren, so schaffen sie sich einen Wert, den sie auf dem Wege der Lohnarbeit niemals realisieren könnten. Der Wegfall der Miete verringert die monatliche Kostenbelastung erheblich. Ein Vollzeitjob bzw. ein volles Einkommen ist dann nicht mehr zwingend erforderlich. Dafür stehen den Jugendlichen jetzt andere Optionen am Arbeitsmarkt zur Verfügung, sei es eine Teilzeitarbeit, ein befristetes Beschäftigungsverhältnis oder eine geringfügige Beschäftigung. Anders ausgedrückt: Die Integration der betroffenen Jugendlichen in den Arbeitsmarkt wird nun wieder möglich bzw. fällt leichter. Dazu trägt bei, dass die Einbindung von Jugendlichen in die Sanierungsarbeiten der Wohnung eine arbeitsweltnahe Qualifizierung darstellt. Sie erwerben Fähigkeiten und Kenntnisse, die als Teilqualifikationen zertifiziert werden können und die ihnen auf dem Arbeitsmarkt zugute kommen. Selbstversorgung und Jobarbeit schließen sich also nicht aus, sondern ergänzen sich. Gerade die Gruppen, die auf Grund ihrer persönlichen Voraussetzungen Gefahr laufen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden, könnten mit solchen Modellen aufgefangen werden. Anstatt dauerhaft am Tropf der Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe zu hängen, könnten sie sich selbst versorgen und dadurch unabhängiger werden. Der beschriebene Ansatz, Jobarbeit mit Selbstversorgung zu verknüpfen, der bislang nur punktuell Anwendung findet, sollte besser verbreitet werden.

III. Reform des Beschäftigungssystems

Jugendarbeitslosigkeit ist Teil der gegenwärtig allgemein herrschenden hohen Beschäftigungslosigkeit. Im Gegensatz zu früher ist diese heute weit weniger begrenzt - räumlich wie zeitlich, sektoral wie gruppenbezogen. Waren in der Vergangenheit bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen, so ist heute jede Gruppierung davon tangiert: Männer wie Frauen, Akademiker wie Handwerker, Angestellte wie Arbeiter, ältere wie junge Menschen. In der Vergangenheit war Arbeitslosigkeit konjunkturell bedingt. Eine schlechte Auftragslage bzw. Rezessionen bewirkten einen Beschäftigungsrückgang, der durch wirtschaftliche Belebung allmählich wieder ausgeglichen werden konnte. Die gegenwärtige Beschäftigungslosigkeit ist nicht mehr nur konjunktureller Natur. Trotz Wirtschaftswachstums bzw. Umsatzsteigerungen geht sie nicht zurück, manchmal nimmt sie sogar zu. Die Beschäftigungslosigkeit ist heute im Kern konjunkturresistent. Ursache ist die immer stärkere Rationalisierung der Produktion. Als Folge des technologischen Fortschritts wird menschliche Arbeitskraft systematisch ersetzt. Technologie, bisher hauptsächlich Hilfsmittel für Arbeit und Produktion, wird zunehmend zu einem wertschöpfenden Produktionsfaktor. Kein Arbeitsbereich bleibt davon verschont: Industrie wie Dienstleistungssektor, Staatsbetriebe wie öffentliche Verwaltung werden mit der Einführung jeder neuen technologischen Generation produktiver. Immer mehr Güter und Dienstleistungen können mit immer weniger Menschen hergestellt bzw. erbracht werden. Wir stehen bei dieser Entwicklung noch ganz am Anfang; sie liegt nicht, wie viele meinen, schon hinter uns. Dabei wird die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts und die damit einhergehende Automatisierung der Produktion geradezu sträflich unterschätzt.

Neben der technologisch bedingten Arbeitslosigkeit gibt es die so genannte strukturelle Arbeitslosigkeit. Sie ist auf Mängel im Beschäftigungssystem zurückzuführen. Zu den gravierendsten Mängeln gehört, dass immer mehr Überstunden geleistet werden. Trotz hoher Beschäftigungslosigkeit gelingt es nicht, diese abzubauen und in zusätzliche Arbeitsplätze zu verwandeln.

Des Weiteren ist das "Mismatch"-Problem des Arbeitsmarktes zu nennen. Der Massenarbeitslosigkeit steht eine wachsende Zahl offener Stellen gegenüber, die nicht besetzt werden kann. Das gilt insbesondere für den Informatikbereich und den Lehrerberuf, aber auch in Handwerk und Industrie fehlen Fachkräfte. Offensichtlich ist dieses Mismatch-Problem größer als angenommen. Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen schließt: "Der Fachkräftemangel, den wir heute in einigen Bereichen spüren, wäre also noch viel höher, wenn er nicht durch eine Verlängerung der Arbeitszeit bei vielen qualifizierten Arbeitskräften verschleiert worden wäre." Ergänzend zu den jugendspezifischen Maßnahmen bedarf es daher einer grundlegenden Reform des Beschäftigungssystems.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf diese Reform im Einzelnen einzugehen. Es soll lediglich ein zentraler Punkt angesprochen werden: Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft der Weg zur Einkommenserzielung und damit zur Bestreitung des Lebensunterhaltes. Daraus folgt die Notwendigkeit, dass alle Erwerbsfähigen die Möglichkeit erhalten müssen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Da Jobs knapper und Beschäftigungsverhältnisse prekärer werden, stellt sich die Frage nach einer Teilung der Arbeit im Sinne einer Arbeitszeitverkürzung. Sie würde nicht nur zur Behebung von Beschäftigungslosigkeit führen. Sie würde zugleich dem Abbau der Überstunden förderlich sein. Damit könnte dem Missstand entgegengewirkt werden, dass Inhaber von Vollzeitarbeitsplätzen tendenziell immer mehr arbeiten - und das angesichts eines Heers von Arbeitslosen, die zum Nichtstun verurteilt sind. Überhaupt würde damit etwas Wirksames getan werden gegen die gesellschaftliche Kluft zwischen denen, die Arbeit haben, und jenen, die keine haben.

Der grundsätzlich irreversible Rückgang von Jobs und Beschäftigung ist des Weiteren auszugleichen durch die oben angesprochene Förderung und gesellschaftliche Verankerung neuer Formen von Arbeit. Jobs werden immer knapper, trotzdem gibt es unendlich viel Arbeit. Das heißt, Vollbeschäftigung ist als Ziel aufzugeben. Ein Beispiel dafür, wie man sich beim Versuch der Annäherung an Vollbeschäftigung andere, nicht minder schwerwiegende Beschäftigungsprobleme einhandelt, liefert das Job-Wunder-Land USA, das mit dem working-poor-Phänomen zu kämpfen hat. Beschäftigungslosigkeit mag auf diesem Wege zurückgehen oder verschwinden, die Krise der Arbeit bleibt.

Jugendarbeitslosigkeit hat viele Auslöser. Das einseitige Betonen einer Ursache, wie es häufig und gern getan wird, wird weder der Sache gerecht noch bringt es uns einer Lösung näher. Bestenfalls dient es dazu, einen Schuldigen ausfindig zu machen, dem man die Misere in die Schuhe schieben kann. Zugleich ist damit gesagt, dass es keinen Königsweg zur Lösung des Problems gibt. Vielmehr bedarf es vielfältiger systemischer und zielgruppenspezifischer Problemlösungen, die heute - wenn überhaupt - erst in Ansätzen vorhanden sind. Erst wenn die vorhandenen Probleme in das Bewusstsein der verantwortlichen Akteure eindringen, wird die herkömmliche Methode der Überwindung von Jugendarbeitslosigkeit eine Richtungsänderung erfahren und dadurch zu einer Fülle neuer Programme führen. Dennoch besteht kein Zweifel, dass es sich um eine große Herausforderung für die Praxis handelt.

Schon die in diesem Artikel vorgetragenen Reformvorschläge für Schule, Berufsberatung, Ausbildung und berufliche Qualifizierung stellen Ansprüche und Anforderungen an das Personal, denen dieses derzeit kaum gerecht werden kann. Lehrer, Berater, Ausbilder, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen erwerben in ihrer Ausbildung kaum die Fähigkeiten, die sie für die Durchführung einer individuellen Bildung und Qualifizierung benötigten. Sie erfahren wenig oder nichts über entsprechende Methoden und Instrumente. Hinderlich ist zuweilen auch die Struktur der arbeitsmarktpolitischen Programme zur Beschäftigungsförderung. So werden nicht selten innovative Vorhaben abgelehnt, weil sie nicht in den vorgegebenen Rahmen passen. Oder sie müssen passend gemacht, d.h. so zurechtgestutzt werden, dass das Innovative auf der Strecke bleibt.

Weiterführende Internetadressen
Externer Link: www.dji.de
Externer Link: www.iq-enterprise.de
Externer Link: www.newwork.net
Externer Link: www.arbeitsamt.de/essen/projekte
Externer Link: www.hiba.de
Externer Link: www.bibb.de
Externer Link: www.imbse.de

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sabine Rutar, Nicht wissen, wo es langgeht, in: DIE ZEIT vom 1. August 1986, S. 40.

  2. Martin Spiewak, Die Schule brännt, in: DIE ZEIT vom 6. Dezember 2001, S. 1.

  3. Ebd.

  4. Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft, Ausbildungsabbruch, in: Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdienste (ibv), (2001) 4, S. 189.

  5. Vgl. Dieter Philipp, Karriere nach Maß im Handwerk: "Ausbilder der Nation" erprobt Zukunftsmodelle für Lehre und Weiterbildung, in: ibv, (2000) 23, S. 2559ff.

  6. Vgl. Gabriele Gabriel, Wohnen durch Arbeit - Jugendliche sanieren ihren künftigen Wohnraum, in: Deutsches Jugendinstitut e. V. (Hrsg.), Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit, München 1998.

  7. Gerhard Bosch, Die Zukunft der Arbeitsmarktpolitik für Jugendliche in Deutschland, in: Claus Groth/Wolfgang Maennig (Hrsg.), Strategien gegen Jugendarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. 2001.

Dipl.-Ökonom, geb. 1961; Geschäftsführer der Aral-Stiftung.
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