40 Jahre Elysée-Vertrag: Hat das deutsch-französische Tandem noch eine Zukunft?
V. Zur Zukunft des Elysée-Vertrags
Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen zwei Szenarien:
- Der Intergouvernementalismus setzt sich durch, und Frankreich fällt in das überwunden geglaubte Gleichgewichtsdenken zurück. Dies würde unvermeidlich die Herausbildung von gegensätzlichen Lagern fördern, was Paris und Berlin langfristig entfremden könnte. Wechselseitige, historisch bedingte Fehlwahrnehmungen (besonders aus Sicht der französischen Regierung und Eliten) wären die Folge mit unmittelbaren Blockaden in der europäischen Politikgestaltung.
- Die politisch erwirkte Parität zwischen Berlin und Paris drängt beide Länder in das Lager der "Großen", die gegen die "Kleinen" - die Kleinst- und Mittelstaaten in der EU - opponieren, um nicht von diesen majorisiert werden zu können. Lagerübergreifende Kompromisse wären ebenso erschwert und würden stark an die historische Gemengelage im einstigen Deutschen Bund erinnern.[31]
In jedem Fall ist der deutsch-französische Konsens, wie er bisher im Elysée-Vertrag einen Rahmen gefunden hat, durch die Veränderungen des politischen Umfeldes ernsthaft unter Druck geraten. Zentrale Akteure wie Frankreichs Staatspräsident Chirac und sein Außenminister Dominique de Villepin, aber auch Bundeskanzler Schröder hatten zunächst eine Neufassung ("refondation") des bisherigen Gründungspakts gefordert. Dieser sollte die bilateralen Beziehungen auf ein neues Kooperationsniveau heben, das durch eine gehaltvolle politische Erklärung zur Finalität der europäischen Integration abzusichern sei.[32] Sie erhofften sich eine neue Dynamik auf europäischer Ebene, wenn der deutsch-französische Motor wieder auf Hochtouren läuft.[33]
Von anderer Seite wurde dagegen die Auffassung vertreten, ein Zusatzprotokoll würde diesem Ziel bereits entsprechen. Der altbewährte Elysée-Vertrag füge sich bestens als eine flexible Konstante in die erweiterten Beziehungen ein.[34] Beide Dokumente müssten schließlich von den Parlamenten in Deutschland und Frankreich ratifiziert werden. Der ehemalige CDU-Abgeordnete und Außenpolitik-Experte Karl Lamers schließlich hielt eine feierliche Erklärung zum 40. Jahrestag für völlig ausreichend, um die veränderten Realitäten im Sinne der alten Gründungsintention neu zu beschreiben. Zudem schlug er vor, den beiden Koordinatoren der deutsch-französischen Beziehungen (gegenwärtig der Historiker Rudolf von Thadden und der ehemalige französische Minister André Bord) ein stärkeres politisches Gewicht zu geben und den Austausch zwischen den Parlamenten und den Abgeordneten zu fördern.[35]
Unter der Fragestellung "Welches Europa wollen wir?" haben die Koordinatoren auf dem 79. Deutsch-Französischen Gipfel in Schwerin im Juli 2002 eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet. Diese sollen helfen, das zukünftige europäische Profil ("l'Europe-puissance") der deutsch-französischen Partnerschaft zu schärfen. Angestrebt wird
- ein offenes Europa, das zwar seine historische Identität zu wahren versteht, sich aber auch den globalen Herausforderungen stellt;
- ein Europa, das seine Einheit bejaht, ohne restaurativ zu wirken;
- ein selbstbewusstes Europa, das Platz für nationale und regionale Besonderheiten lässt;
- ein Europa auf der Grundlage der deutsch-französischen Partnerschaft, die ihren historischen Eigenwert behält;
- ein Europa der Bildung und Erziehung, das weniger materiellen Interessen als der menschlichen Kommunikation dient.[36]
Hierzu haben die Koordinatoren ein Vorbereitungskomitee angeregt, das zusammen mit den Länderbevollmächtigten im Jubiläumsjahr zahlreiche Veranstaltungen planen soll.[37] Frankreichs Staatspräsident Chirac hatte bereits im Juni 2000 im Reichstag vorgeschlagen, jährlich eine deutsch-französische Großkonferenz abzuhalten: Verantwortliche aus Politik, Wirtschaft, den Gewerkschaften und Verbänden, den Medien und aus dem Kulturbereich könnten zusammentreffen, um bilaterale Interessengegensätze zu erörtern und die Zukunft der Nationalstaaten in der europäischen Integration neu zu bestimmen.[38]
In den letzten beiden Monaten des Jahres 2002, insbesondere nach den Bundestagswahlen in Deutschland, haben die Treffen auf oberster Ebene deutlich zugenommen. Der intensive Austausch gründet auf die Einsicht der Verantwortlichen in Berlin: "Zweck hat es nur, etwas gemeinsam mit Frankreich zu machen".[39] So konnten sich beide Länder - auch gegen den Willen Londons und anderer europäischer Partner - auf einen Kompromiss in der Agrarpolitik sowie auf einen gemeinsamen Vorschlag im EU-Reformkonvent zum Ausbau der innen- und rechtspolitischen Zusammenarbeit und zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einigen.
Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags sollen den Planungen des Schweriner Gipfels und der Blaesheim-Runde in Storkow zufolge zum Anlass genommen werden, die vorhandenen Instrumentarien - insbesondere die regelmäßigen Treffen - intensiver als bisher zu nutzen und so das Arbeitsklima zwischen beiden Ländern zu verbessern.[40] Von der Option einer Neufassung des Vertrags wurde dagegen Abstand genommen.[41]
Fortschritte auf zentralen Feldern der Europapolitik könnten die bilaterale Zusammenarbeit entscheidend wiederbeleben:
- Im Bereich von Sicherheit und Rüstung hat sich die Institutionalisierung des gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsrates nie richtig entwickelt. Die Teilnahme erscheint den Verantwortlichen in beiden Ländern eher als lästige Pflicht denn als notwendige Abstimmung. Daher können die bisherigen Institutionen nur wenig zur Überwindung der Interessengegensätze in diesem Bereich beitragen. Ein kleines Sekretariat aus wenigen Ministerialbeamten beider Länder ist nötig, das als ständige Kontaktstelle den rechtzeitigen Informationsaustausch zwischen den Regierungen sicherstellt und vor unliebsamen Überraschungen schützt. Folglich ist es nur zu begrüßen, wenn deutsch-französische Vorschläge in diese Richtung gehen.[42]
- Ein weiteres Feld gemeinsamen Handelns stellt die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion dar. Gerade in der Haushalts- und Steuerpolitik wäre Deutschland gut beraten, wenn es der französischen Initiative für eine stärker institutionalisierte makroökonomische Koordinierung auf europäischer Ebene folgen würde. Auch in der Standort- und Ordnungspolitik sowie im gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum, in der Wettbewerbspolitik und der sozialen wie regionalen Kohäsion liegen noch weitgehend unbeachtete Potenziale für den gemeinsamen Ausbau einer europäischen sozialen Marktwirtschaft.[43]
- Schließlich ist die Zusammenarbeit auf Regierungsebene unbedingt durch Institutionen der Zivilgesellschaften zu ergänzen. Gerade die Arbeit im EU-Konvent bietet eine besondere Gelegenheit für gesellschaftliche Organisationen, europäische Parteien[44] sowie Wirtschafts- und Sozialverbände, die Debatte um gemeinsame Werte und Leitbilder in einen transnationalen Kontext zu stellen und dafür die bereits etablierten deutsch-französischen Bürgernetzwerke verstärkt in Anspruch zu nehmen.
Allerdings stößt das deutsch-französische Tandem immer dann an seine Grenzen, wenn divergierende Einstellungen zu den Grundfragen des politischen Systems (Nationsbegriff, Staatsstruktur, Regierungssystem) aufeinander prallen.[45] Eine Alternative zu der privilegierten Partnerschaft der vergangenen 40 Jahre ist jedoch schwer vorstellbar. Nur wenn sich die beiden Länder zumindest in den weniger stark von unterschiedlichen Präferenzen geprägten Bereichen einigen, kann sich auch die Gemeinschaft weiterentwickeln.