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Island: Traditionsreiche Demokratie und moderne politische Kultur am Nordrand Europas | Nordeuropa | bpb.de

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Island: Traditionsreiche Demokratie und moderne politische Kultur am Nordrand Europas

Frauke Rubart

/ 18 Minuten zu lesen

Der Beitrag gibt einen Überblick über politische Geschichte und parteipolitische Strukturen der 1944 gegründeten Republik Island. Für den Beitritt zur EU haben sich bisher nur die Sozialdemokraten ausgesprochen.

Einleitung

"Komm und träume mit uns von einer Insel, einer Welt mit Wasser im Überfluss, mit natürlichen Ressourcen, die sich ständig erneuern, mit sauberer Energie und unberührter Natur, wo der Mensch in Harmonie mit der Umwelt lebt. / Komm und träume mit uns von einer Insel an der Grenze der bewohnbaren Welt, vom Golfstrom umarmt, von Thermalwasser erwärmt und von Vulkanen beheizt. / Komm und träume mit uns von einer Insel der Neuzeit, mit modernster Technologie und althergebrachten Traditionen, einer Insel mitten zwischen der Alten und der Neuen Welt. / Komm und träume mit uns von Island, wo Träume wahr werden." (Island-Werbung auf der EXPO 2000)

Wer hätte nie von einem solchen Ort geträumt? Der Island-Tag auf der EXPO 2000 in Hannover war ein großer Erfolg für das kleine Land, dessen pragmatisches Dichtervolk ständig bestrebt ist, Immanenz und Transzendenz zu vermischen: "Wie Fußspuren am Himmel. Wie Träume auf der Erde." Der isländische Ausstellungspavillon - ein an seinen Außenwänden ständig mit sanft herabströmendem Wasser bedeckter blauer Kubus - wurde als materialisierte Poesie bestaunt und versetzte die Besucherinnen und Besucher in eine meditative Stimmung.

Königliche Hoheiten hat dieses von Wasser umgebene und von Fischereierträgen abhängige Nordland mit 1100-jähriger Geschichte nicht zu bieten, aber der Präsident der Republik Island, O'lafur Ragnar Grímsson, warb höchstpersönlich für den Inselstaat, der bis 1944 zum dänischen Königreich gehörte und dessen Unabhängigkeitsbewegung von Poeten und Literaten geführt wurde. Früher hat Grímsson als Politikprofessor die isländische Machtstruktur analysiert und war Vorsitzender einer (linken) politischen Partei. Heute repräsentiert er einen modernen Staat, der den Tourismus fördert und dabei an die Sehnsüchte gestresster, naturverbundener und reisefreudiger Menschen appelliert. Denn manchmal kommen die Fische nicht so zahlreich; dann sind Touristen wichtig, die Devisen bringen.

Das kleine Island muss Geld verdienen, um als Staat zu überleben. Die erst vor 60 Jahren gegründete Inselrepublik will das "gelobte Land" in den eigenen Grenzen schaffen. Besonders Ende des 19. Jahrhunderts wanderten viele Verarmte und Glückssuchende nach Nordamerika aus. Heute steht Island an siebter Stelle in der UNO-Liste der Länder, in denen es sich am besten lebt. Sie wird seit mehreren Jahren von Norwegen angeführt, von wo die ersten Siedler der Nordmeerinsel stammten.

Im Mittelalter war Island für viele ein "Traumland": In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts gelangten Berichte nach Norwegen, die von einem großen, unbewohnten Eiland weit draußen im Ozean erzählten, einer Insel mit üppigen Schafweiden und einem Überfluss an Fischen, Seehunden und Wasservögeln. Die größeren Landbesitzer betrachteten die Auswanderung als Möglichkeit, dem Untertanendasein zu entgehen. Auch viele Kleinbauern waren interessiert. So segelten ab 870 Tausende von Pionieren (allen voran der legendäre Ingólfur Arnarson, der Gründer von Reyjkavík) westwärts, und später kamen viele Menschen aus Schottland und Irland hinzu. 930 gründeten die Wikinger dort ein unabhängiges Staatswesen, einen Freistaat ohne König. Diese erste Republik bestand bis zum 13. Jahrhundert, als Island zunächst unter norwegische und später unter dänische Herrschaft geriet und zu einer Kronkolonie degradiert wurde. "Iceland is the first 'new nation' to have come into being in the full light of history, and it is the only European society whose origins are known." Die Erhaltung der mit friedlichen Methoden erlangten Souveränität ist für die selbstbewusste Bevölkerung von größtem Wert.

NATO-Stützpunkt mit Osthandel

Zwei einschneidende Ereignisse stehen am Anfang der Geschichte der Republik Island: der Beitritt des Landes zur NATO 1949 und die Erlaubnis an die Amerikaner, auf der Insel einen Stützpunkt einzurichten. Im Gegenzug sollte das kleine Land, das sich keine eigenen Streitkräfte (außer dem Küstenschutz) leisten kann, im Ernstfall von amerikanischen Soldaten verteidigt werden. Die Amerikaner hatten die Insel als Ablösung britischer Truppen während des Zweiten Weltkrieges "beschützt", beteiligten den strategisch wichtigen Staat am Marshallplan und betreiben ihre US Naval Air Station, seit dem Ende des Kalten Krieges mit verringertem Personal, noch heute: in Keflavík westlich von Reykjavík, der "rauchenden Bucht".

Die beiden stark umstrittenen Entscheidungen wurden auch in literarischen Werken thematisiert. Im weltberühmten Nachkriegsroman des Literaturnobelpreisträgers von 1955 Halldór Laxness, "Atomstation", geht es um die Befürchtung, dass die Amerikaner ihre Airbase mit Nuklearwaffen ausrüsten würden. In "Engel des Universums" von Einar Már Guðmundsson wird die tumultartige Protestdemonstration auf dem Platz (Austurvöllur) vor dem Parlament (Althing) in Reykjavík am Tag der Entscheidung über den NATO-Beitritt am 30. März 1949 erwähnt: "Mein Geburtstag war ein historischer Tag. Ich wurde begrüßt mit Steinwürfen und Tränengas. Volk und Polizei prügelten sich. Scheiben im Thinghaus gingen zu Bruch. Eier und Steine flogen durch die Luft. Ein Thingmitglied erlitt eine Hautabschürfung am Arm. Ein anderes bekam eine Glasscherbe ins Auge. Als die Polizei die Lage nicht mehr zu beherrschen glaubte, trotz Ersatzmannschaften und starker Truppen von Freiwilligen, wurde Tränengas eingesetzt am Austurvöllur. Rauchwolken stiegen auf, wie sie der Landnahmemann Ingólfur gesehen hatte, als er nach Kennzeichen spähte, um diesem Ort einen Namen zu geben."

Die kommunistischen Abgeordneten von der Sozialistischen Einheitspartei, die sich später in Volksallianz umbenannte und ab 1987 eine Zeitlang vom heutigen Staatspräsidenten geführt wurde, stimmten erwartungsgemäß gegen den NATO-Beitritt und die amerikanische Militärpräsenz. Seitdem geht es auf den Straßen der nördlichsten Hauptstadt Europas friedlicher zu - auch am 1. Mai, an dem die Menschen sowohl ihr ökonomisches Überleben als auch die immer wieder bedrohte soziale Sicherheit thematisieren ("Wohlfahrt für alle"). Nach dem Absingen der "Internationale" wird das schöne Lied "Maístjarnan" (Der Maistern) mit einem Text von Laxness (der mit den Kommunisten sympathisierte, aber nie Mitglied war) von 1937 angestimmt, das der Komponist Jón Asgeirsson 1981 vertont hat. Die letzte Strophe lautet: "Für den Arbeiter endet heut die eisige Zeit, morgen scheint ihm die Sonne, denn der Mai ist bereit, und auch uns scheint die Sonne unsres einenden Bands, für dich trage ich die Fahne dieses zukünftigen Lands."

In den von der Bevölkerung unterstützten "Kabeljaukriegen", die Island seit den fünfziger Jahren vor allem gegen den NATO-Partner Großbritannien geführt hat, kommen beide Aspekte des Überlebenskampfes zusammen: die Verteidigung der Fischereigrenzen gegen Eindringlinge (die Exklusivzone beträgt seit Mitte der siebziger Jahre 200 Seemeilen) und der Kampf um die ökonomische Existenz des Landes, die bis heute zum Großteil auf Fisch basiert. Kabeljau ist der "goldene Brotfisch", und etwa die Hälfte des isländischen Nationaleinkommens wird mit Fischfang verdient. Maritime Produkte machen ungefähr drei Viertel des Exports aus. Der Außenhandel ist in der Nachkriegszeit unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die Verluste durch den britischen Boykott isländischer Waren durch Handelsbeziehungen zur Sowjetunion ausgeglichen werden konnten und sich Europa seit den siebziger Jahren zu einem wichtigeren Absatzmarkt entwickelt hat als die USA. Auch Japan ist ein guter Abnehmer für isländischen Fisch.

Der größte Handelspartner ist die Europäische Union, der die Isländer bis heute nicht beigetreten sind: "Zwischen Island und der EU liegen der Himmel und das Meer." Es gibt mehr als nur ökonomische Gründe, weshalb die Regierung des EFTA-Mitglieds Island niemals ernsthaft einen EU-Beitritt erwogen hat. Nur die Sozialdemokraten sprachen sich ausdrücklich dafür aus, bevor sie - seit 1995 wieder in der Opposition - durch ihr Wahlbündnis mit den Sozialisten und der Frauenliste 1999 zu leiseren Tönen bewegt wurden, um die gemeinsame Machtstrategie nicht zu gefährden.

Zu einem institutionellen Kräftemessen hätte es Anfang der neunziger Jahre vor dem Eintritt Islands in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) kommen können, wenn Staatspräsidentin Vigdís Finnbogadóttir während des Gesetzgebungsprozesses nicht auf ihr Vetorecht verzichtet und die Regierungsvorlage akzeptiert hätte. Inzwischen ist eingetreten, was viele Isländer, auch Parlamentsabgeordnete, befürchtet hatten: Das Althing "is increasingly impotent in the legislative process. Government ministers dominate it. So does the government bureaucracy, interest groups, and - last but not least - the EEA [EWR]." Der Ratifizierung gingen kontroverse Debatten im Althing voraus - beide politischen Lager waren in sich gespalten. Die Beteiligung Islands am EWR ist eine Streitfrage, die quer zur in der pragmatischen politischen Kultur des Landes allerdings ohnehin nicht besonders prägnanten Links-rechts-Achse liegt.

Politische Kultur mit tradierten Werten

Die Auswanderungswellen nach Nordamerika verebbten, als mit der Mechanisierung der Fischerei die Aussicht auf Arbeit und bessere Überlebensmöglichkeiten im eigenen Land entstand. In der Gegenwart sind nur noch etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen in diesem Wirtschaftssektor beschäftigt. Heute geht es um mehr als ums bloße Überleben, und die Präsenz der Amerikaner, deren Konsumkultur in den sechziger Jahren über den Fernsehsender ihrer Basis in die isländischen Wohnzimmer ausstrahlte, weckte bei den Einheimischen starke Wünsche nach amerikanischer Lebensart.

Die beiden Romane des Kultautors Einar Kárason "Törichter Männer Rat" und "Die isländische Mafia" beschreiben die unermüdliche Betriebsamkeit zur Verwirklichung von großen Konsumträumen und zeichnen ein "herzhaft komisches Sittengemälde von Dallas am Rande von Reykjavík" - so der Werbetext für diese "moderne Familiensaga". Wurde früher um reichlich Fisch gebetet, so seufzen die isländischen Kinder nun "Lieber Gott, gib uns Kaugummi". Die Männer des Inselreiches träumen von großen geländegängigen Autos: "The spirit of Iceland: hard work and big cars." Die isländischen Frauen haben andere Vorstellungen, denn sonst hätte es keine derart erfolgreiche Frauenpartei gegeben. Die ehemalige Staatspräsidentin Finnbogadóttir - Romanistin und vor ihrer Wahl Theaterdirektorin - empfahl sie allen Ländern: "Man braucht eine solche Partei."

Als Gründungs- und Nationalfeiertag der Republik Island wurde mit dem 17. Juni der Geburtstag von Jón Sigurðsson gewählt, der im 19. Jahrhundert die (gewaltlose) Unabhängigkeitsbewegung der dänischen Kolonie anführte. Er war Präsident des Mitte des 19. Jahrhunderts wieder eingesetzten Althing sowie Vorsitzender der Isländischen Literarischen Gesellschaft in Kopenhagen. Eine Statue dieses Politikers und Philologen steht auf dem Reykjavíker Austurvöllur, dem Platz vor dem 1881 erbauten Parlamentsgebäude: Das Althing befindet sich neben der Domkirche, dem institutionellen Mittelpunkt des christlichen Glaubens, der auch in der Nationalhymne zum Ausdruck kommt: "Oh Gott, du unsres Islands Herr".

In Island herrschen Nonchalance und Skepsis gegenüber Autoritäten. Politikerinnen und Politiker werden wie alle Mitbürger mit ihrem Vornamen angesprochen und geduzt, auch das Staatsoberhaupt. Dessen Residenz in Bessastaðir ist allgemein zugänglich. Deshalb erscheint die Szene in Guðmundssons Roman "Engel des Universums" keineswegs aus der Luft gegriffen, in der Psychiatriepatient Óli vom Präsidenten empfangen wird und ihn ernsthaft fragt, ob er nicht dessen Nachfolger werden könne. Der stimmt lachend zu, und sein Besucher fährt fort: "Sag mal, da ich ja nach dir Präsident werde, meinst du nicht, es wäre in Ordnung, wenn ich den Wagen etwas früher kriege?"

Autonomie, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung sind die weit über das nationale Unabhängigkeitsstreben hinausgehenden obersten Werte der Bevölkerung. Sie konnten am erfolgreichsten von der konservativen Partei in Stimmen umgemünzt werden, der Unabhängigkeitspartei von Davið Oddsson, die seit 1991 ununterbrochen regiert. In der egalitär orientierten Inselrepublik wird die Demokratie sehr geachtet, doch "im Allgemeinen sind die Isländer pragmatisch, mehr damit beschäftigt Geld zu verdienen als Prinzipien zu diskutieren".

Parlament, Präsident und Parteien

Island ist eine parlamentarische Demokratie mit einer semipräsidentiellen Verfassung und einer Tradition, die bis ins "goldene Zeitalter" des von 930 bis 1262 bestehenden Freistaates zurückreicht, als das Althing in Thingvellir die höchste politische Instanz - zugleich Parlament und Gerichtsort - war. Schon die ersten Siedler hatten mit dem historischen AlÞingi Recht und Gesetz an die erste Stelle ihres Staatswesens gesetzt. Ihr Versammlungsort Thingvellir, bis 1798 Hauptversammlungsort der Nation, ist ein beliebtes Touristenziel. Dort wurde im Jahr 1000 das Christentum als Staatsreligion angenommen. Heute steht das Althing im Zentrum der Politik. Die Abgeordneten haben seit dem Eintritt Islands in den EWR zunehmend Gesetze abzusegnen, die aus Brüssel stammen. Die Wahlbeteiligung betrug in der Nachkriegszeit siebenmal über 90 Prozent (2003: 87,7 Prozent). Das Wahlrecht wurde zur Jahrtausendwende zum wiederholten Mal revidiert, denn es hatte die ländlichen Stimmbezirke bevorzugt, so dass lange Zeit die Bauernschaft bzw. die agrarische Fortschrittspartei überrepräsentiert war. Außerparlamentarische Aktionen beschränken sich weitgehend auf friedliche Protestmärsche nach Keflavík, wo gegen "die Basis" demonstriert wird - auch die ehemalige "Präsidentin Vigdís" beteiligte sich vor ihrer Amtsübernahme daran.

Präsident Grímsson trat im Juni 2004 nach seiner Wiederwahl seine dritte Amtszeit an. (In Island wird der Präsident direkt gewählt.) Ministerpräsident Oddsson von der Unabhängigkeitspartei, Regierungschef seit 1991, übergab im September 2004 sein Amt (wie nach der Althingswahl 2003 verabredet, bei der die Konservativen sieben Prozent der Stimmen verloren hatten) an Außenminister Halldór Ásgrímsson von der seit 1995 mitregierenden Fortschrittspartei. Das Jahr 2004 hatte mit einem Fauxpas der Regierungskanzlei begonnen, der auf den laxen Umgang mit Autoritäten auch innerhalb des Institutionensystems hinweist. Dänemark hatte Island 1904 das Recht auf Selbstverwaltung zugestanden. Oddssons Mitarbeiterstab bereitete die Feierlichkeiten anlässlich von "100 Jahren Heimatrecht" vor. Man "vergaß" dabei aber, das Staatsoberhaupt einzuladen; "Präsident Ólafur" war am Tag der Zeremonie (Kranzniederlegung am Grab des ersten einheimischen "Islandministers" und Poeten Hannes Haftstein) außer Landes. Zu einem ernsteren Konflikt kam es im Juni 2004, als 60 Jahre nach der Gründung der Republik ihr Präsident zum ersten Mal von seinem Vetorecht gegen ein GesetzGebrauch machte: Grímsson wies den Entwurf für das so genannte "Mediengesetz" zurück, das den gleichzeitigen Besitz von Print- und Funkmedien untersagt. Schließlich wurde erganz zurückgezogen, so dass es nicht zur im Vetofall vorgeschriebenen Volksabstimmung über den Gesetzentwurf kam.

Das isländische Parteiensystem hat sich stark gewandelt. Von den fünf alten Parteien - der vor der Republikgründung entstandenen sozialdemokratischen (1916), bäuerlichen (1916), konservativen (1929) und kommunistischen/sozialistischen (1930) Partei - sowie der Frauenliste (1983) bestehen heute nur noch die konservative Unabhängigkeitspartei, die trotz großer Verluste auch bei der letzten Althingswahl am besten abschnitt (2003: 33,7 Prozent), und die agrarische Fortschrittspartei (17,7 Prozent). Eine liberale Partei gibt es erst seit Ende der neunziger Jahre (7,4 Prozent). Sie entstand aus Protest gegen die Konzentration der Fischfangquoten bei weniger als einem Dutzend Unternehmen, die rund 70 Prozent aller Fischereirechte halten. Die im Mai 2000 gegründete linke Allianzpartei (31,0 Prozent), in der die für skandinavische Verhältnisse immer relativ schwache sozialdemokratische Volkspartei, die vergleichsweise starke sozialistische Volksallianz und die Frauenliste aufgingen, die 1999 schon als Wahlbündnis angetreten war, hat die soziale Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema gemacht. Sie prangerte die zunehmende Verarmungstendenz im Wohlfahrtsstaat an und kritisierte, dass die Regierung zu wenig gegen die wachsenden Einkommensunterschiede unternommen habe. Die isländische Frauenbewegung gründete 1983 einepolitische Partei. Eines ihrer wichtigsten Ziele hatte die Frauenliste erreicht: die Erhöhungder parlamentarischen Repräsentanz von Frauen auf 34,9 Prozent (1999). Seitdem ist der Frauenanteil an den Althingsabgeordneten wieder gesunken.

In der linksgrünen Partei (8,8 Prozent) schlossen sich die stärker ideologisch orientierten Linken aus der sozialistischen und der feministischen Partei mit den bisher erfolglosen Grünen zusammen, die nicht am sozialdemokratischen Gemeinschaftsprojekt teilnehmen wollten. Die Linksgrünen, die 1999 mit sechs Abgeordneten ins Parlament einzogen, verteidigen den offiziell proklamierten Traum von der unberührten Natur Islands und opponierten im Althing gegen das Regierungsprojekt, bei Kárahnjúkar im nordöstlichen Hochland ein Wasserkraftwerk zu bauen, das die geplante Aluminiumfabrik in Reyðarfjörður mit Energie versorgen soll. Sie lehnen die NATO-Mitgliedschaft und einen EU-Beitritt ihres Landes deutlich ab und befürworten bilaterale Handels- und Kooperationsverträge. Insgesamt wollen sie das im Frühlings- und Arbeiterlied "Maístjarnan" ersehnte Land der Zukunft durch eine Kombination von sozialer, ökologischer und feministischer Politik erreichen. Die Fahne, die sie für ihr Traum(is)land tragen wollen, soll rot, grün und lila sein mit einer weißen Friedenstaube.

Als Reaktion auf Kritik an ihrer Machtfülle haben die großen Parteien bereits in den siebziger Jahren "open primaries" eingeführt, bei denen auch Nichtmitglieder entscheiden dürfen. Die Bedeutung der Parteimitgliedschaft hat sich durch die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung weiter verringert. Die Kritik an den Parteien bezog sich auf ihre alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Macht. Bis Ende der fünfziger Jahre wurden die wichtigsten Institutionen von einer kleinen Gruppe von Personen kontrolliert, deren Kern die Parteiführer bildeten. Diese (männlichen) Machthaber hatten de facto die dänische Obrigkeit abgelöst und hintertrieben eine wirkliche Gewaltenteilung. Die politische Elite dominierte auch das ökonomische Establishment. Das begann sich erst zu ändern, als der öffentliche Dienst, juristische Institutionen, der Wirtschafts- und Finanzsektor (v. a. einige große Unternehmen und die früher staatlichen Banken) sowie die Zeitungen durch zunehmende Professionalisierung von den Parteien unabhängiger wurden. Die Entwicklung setzt sich bis heute fort. Sie entzieht klientelistischen Parteien die Möglichkeit zur Patronagepolitik.

Perspektiven für eine eigensinnige Gesellschaft

Ein Großteil der Bevölkerung will es ohne die EU schaffen, neue Einnahmequellen zu erschließen. "Als Teil Europas hat man sich in dem Inselstaat nie gefühlt. Eine Öffnung zur EU käme nur, wenn eine Mehrheit dies als wirtschaftlich nützlich empfände. Und für ein solches Umdenken wären ein paar magere Kabeljau-Jahre nötig." Noch wird im protestantischen Island wohl heimlich zum Fischgott gebetet, der dem Land ein Einkommen beschert hat, mit dem wohlfahrtsstaatliche Leistungen finanziert werden können. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind diese lebensnotwendig. Aber in Island wird nicht gejammert: Das isländische Volk hatte schon vor dem Wirtschaftsaufschwung der neunziger Jahre einen sehr hohen "Glücksindex", der von den Erforschern des subjektiven Wohlbefindens nicht nur mit materiellen Gütern, sondern vor allem mit Demokratie in Verbindung gebracht wird.

In Island gibt es viel Dunkelheit, und der Alltag ist durchaus beschwerlich: "Trotzdem ist die Welt schön." Es sind nicht nur Bestsellerautoren, die positiv denken. Auch die jungen Popmusiker, die als Repräsentanten Islands zur EXPO 2000 nach Hannover geschickt wurden, wollen Hoffnung und Zuversicht verbreiten: "Aber das Beste was Gott geschaffen hat ist / der neue Tag."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Island-Werbebroschüre "Come dream / Wo Träume wahr werden" auf der EXPO 2000 in Hannover.

  2. Einar Már Guðmundsson, Fußspuren am Himmel, München-Wien 2001, S. 51. In Island war diese 1997 erschienene Familiensaga, die mit Komik und Melancholie die schwierigen Lebensbedingungen auf der Insel in der vormodernen Zeit beschreibt, das zur Jahrtausendwende meistverkaufte Buch.

  3. Vgl. Gunnar Karlsson, Iceland's 1100 Years. The History of a Marginal Society, London 2000.

  4. Vgl. Ólafur Ragnar Grímsson, The Icelandic Power Structure 1800 - 2000, in: Scandinavian Political Studies, 11 (1976), S. 9 - 32.

  5. Vgl. den Roman des isländischen Nationaldichters und Literaturnobelpreisträgers von 1955 Halldór Laxness, Die Litanei von den Gottesgaben, Göttingen 1994 und 1999.

  6. Island hat mit 290 000 Einwohnern eine mehr als doppelt so große Bevölkerung wie zum Zeitpunkt der Republikgründung am 17. Juni 1944 - es sind aber immer noch weniger als die Hälfte der Einwohner des kleinsten deutschen Bundeslandes Bremen, die dort auf einer Fläche von der Größe der neuen deutschen Bundesländer leben.

  7. Vgl. die Romantrilogie von Einar Kárason, Die Teufelsinsel, Die Goldinsel und Das gelobte Land, München 1997 und 1999.

  8. Vgl. The Best Place to Live, in: Iceland Review online vom 16.7. 2004.

  9. Vgl. Gylfi Gíslason, Ein Lob der kleinen Staaten, in: Stephen R. Graubard (Hrsg.), Die Leidenschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit. Essays über den nordischen Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden 1988, S. 239.

  10. Vgl. Sigurður Líndal, Early Democratic Traditions in the Nordic Countries, in: Erik Allardt u.a. (Hrsg.), Nordic Democracy, Kopenhagen 1981, S. 15 - 43.

  11. Richard F. Tomasson, Iceland as "The First New Nation", in: Scandinavian Political Studies, 10 (1975), S. 34.

  12. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, From Home-Rule to Sovereignty: The Case of Iceland, in: Godfrey Baldachino/David Milne (Hrsg.), Lessons from the Political Economy of Small Islands, Basingstoke 2000, S. 141 - 155.

  13. Vgl. Esbjörn Rosenblad/Rakel Sigurðardóttir-Rosenblad, Iceland from past to present, Reykjavík 1993, S. 206ff.

  14. Vgl. Jón R. Hjálmarsson, Islands historie. Fra bosættelsen til vore dage, Reykjavík 1999, S. 169ff.

  15. Vgl. Halldór Laxness, Atomstation, München 1997 (Erstveröffentlichung 1948).

  16. Einar Már Gudmundsson, Engel des Universums, München 2000, S. 16. Der auf diesem 1995 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichneten Roman basierende Film "Englar alheimsins" wurde auf dem Nationentag Islands auf der EXPO 2000 gezeigt.

  17. "Velferð fyrir alla!" - Motto der Maikundgebung in Reykjavík 2001 (teilnehmende Beobachtung, F. R.).

  18. Zit. nach Halldór Laxness, Weltlicht, Teil 3: Das Haus des Dichters, Göttingen 2000, S. 478.

  19. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, Iceland: Vulnerability in a Fish-based Economy, in: Cooperation and Conflict, 22 (1987) 4, S. 245 - 253.

  20. Manfred Ertel, Island: Goldener Brotfisch. Ein Wirtschaftsaufschwung ohnegleichen beschert der Vulkaninsel einen Spitzenplatz in Europa - aber auch ungewohnte Interessenkonflikte mit Umwelt und Natur, in: Der Spiegel, Nr. 39/1999, S. 230 - 231.

  21. Vgl. Sigurður Snævarr, Economic Development, in: Jóhannes Nordal/Valdimar Kristinsson (Hrsg.), Iceland. The Republic. Handbook published by The Central Bank of Iceland, Reykjavík 1996, S. 167 - 232.

  22. Vgl. Sigrún Björnsdóttir, Himmel og hav mellem Island og EU, in: Politik i Norden, (2003) 3, S. 14f.

  23. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, Iceland, in: Helen Wallace (Hrsg.), The Wider Western Europe, London 1991, S. 160.

  24. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, Iceland and the European Union. Non-decision on membership, in: Lee Miles (Hrsg.), The European Union and the Nordic Countries, London 1996, S. 151.

  25. Vgl. Frauke Rubart, Auf Stimmenfang im Nordatlantik: Parteiensystem und politische Macht in Island, Bremen, April 2004 (www2.hu-berlin.de/for:n).

  26. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, Iceland, in: Robert Elgie (Hrsg.), Semi-presidentialism in Europe, Oxford 1999, S. 86.

  27. Svanur Kristjánsson/Ragnar Kristjánsson, Delegation and Accountability in an Ambiguous System: Iceland and the European Economic Area (EEA), in: Torbjörn Bergman/Erik Damgaard (Hrsg.), Delegation and Accountability in European Integration: The Nordic Parliamentary Democracies and the European Union, London 2000, S. 105.

  28. Vgl. Thordur Bogason, Althingi and the EEA-Rules in the Making, in: Matti Wiberg (Hrsg.), Trying to Make Democracy Work: The Nordic Parliaments and the European Union, Stockholm 1997, S. 117.

  29. Einar Kárason, Törichter Männer Rat, München 2000.

  30. Ders., Die isländische Mafia, Wien 2001.

  31. So der Titel einer Kurzgeschichte des schriftstellernden ehemaligen konservativen Regierungschefs David Oddsson in seinem Buch Schöne Tage ohne Gudny, Göttingen 2001, S. 17 - 25.

  32. Berit Kvam, The spirit of Iceland - hard work and big cars, in: Nordic Labour Journal, 7 (Oktober 2002), S. 15 - 17.

  33. Vgl. Sigríður Dúna Kristmundsdóttir, Doing and Becoming. Women's Movements and Women's Personhood in Iceland 1870 - 1990, Reykjavík 1997, sowie die Rezension von Auður Styrkarsdóttir, The creation of feminism: an Icelandic story, in: NORA. Nordic Journal of Women's Studies, 7 (1999) 1, S. 83 - 86.

  34. Fred David, Interview mit Islands Staatspräsidentin Vigdís Finnbogadóttir: "Sprache und Literatur sind unsere stärksten Waffen", in: Der Standard vom 29.3. 1996.

  35. E. M. Gudmundsson (Anm. 16), S. 171.

  36. So Gunnar Helgi Kristinsson in Sigrún Daviðsdóttir, På Island ignores magten, in: Politik i Norden, (2002) 1, S. 38.

  37. Vgl. Svanur Kristjánsson, Iceland: A Parliamentary Democracy with a Semi-presidential Constitution, in: Kaare Str?m/Wolfgang C. Müller/Torbjörn Bergman (Hrsg.), Delegation and Accountability in Parliamentary Democracies, Oxford 2003, S. 399 - 417.

  38. Vgl. Grétar Thór Eythórsson/Detlef Jahn, Das politische System Islands, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas,. Opladen 20033, S. 167 - 186.

  39. Vgl. Ólafur Th. Hardarson, Iceland, in: George E.Delury (Hrsg.), World Encyclopedia of Political Systems and Parties, Bd. 2, New York 19993, S. 473.

  40. Vgl. David Arter, From a "Peasant Parliament" to a "Professional Parliament"? Changes in the Icelandic Althingi, in: Journal of Legislative Studies, 6 (2000) 2, S. 45.

  41. Vgl. Ólafur Ragnar Grimsson Elected to a Third Term, in: Iceland Review online vom 29.6. 2004.

  42. Vgl. A New Prime Minister, in: ebd. vom 15.9. 2004.

  43. Vgl. President unhappy, in: ebd. vom 5.2. 2004.

  44. Vgl. Nicholas George, EUROPE: Media under spotlight as Iceland crisis deepens, in: Financial Times vom 12.6. 2004.

  45. Vgl. No More Media Bill, in: Iceland Review online vom 21.7. 2004.

  46. Vgl. Frauke Rubart, Island: Parteiensystem im Wandel, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss/Melanie Haas (Hrsg.), Die Parteiensysteme in Westeuropa, i.E. (Frühjahr 2005).

  47. Vgl. Audur Styrkársdóttir, From social movement to political party: the new women's in Iceland, in: Drude Dahlerup (Hrsg.), The New Women's Movement. Feminism and Political Power in Europe and the USA, London u.a. 1986, S. 140 - 157.

  48. Vgl. dies., Women's lists in Iceland - A response to political lethargy, in: Christina Bergqvist u.a. (Hrsg.), Equal Democracies? Gender and Politics in the Nordic Countries, Oslo 1999, S. 89 - 96.

  49. Vgl. Backlash för kvinnor i Norden?, in: Genus, (2004) 3 - 4, S. 13.

  50. Vgl. Ólafur Th. Hardarson/Gunnar Helgi Kristinsson, Iceland, in: European Journal of Political Research, 42 (2003) 7 - 8, S. 976: "The issue was among the most fiercely debated in Icelandic politics, indicating the emergence of a new cleavage factor - environmental issues - which only about five years earlier could be considered a minor issue in Icelandic politics.""

  51. Vgl. Svanur Kristjánsson, Iceland: Searching for Democracy along Three Dimensions of Citizen Control, in: Scandinavian Political Studies, 27 (2004) 2, S. 153.

  52. Vgl. ders., Iceland: From Party Rule to Pluralist Political Society, in: Hanne Marthe Narud/Mogens N. Pedersen/Henry Valen (Hrsg.), Party Sovereignty and Citizen Control. Selecting candidates for parliamentary elections in Denmark, Finland, Iceland and Norway, Odense 2002, S. 107 - 166.

  53. Vgl. Gunnar Helgi Kristinsson, Clientelism in a Cold Climate: The Case of Iceland, in: Simona Piattoni (Hrsg.), Clientelism, Interests and Democratic Representation, Cambridge 2001, S. 172 - 192.

  54. Vgl. ders., Parties, States and Patronage, in: West European Politics, 19 (1996) 3, S. 433 - 457.

  55. Vgl. Lasse Dudde, Nach den Walen jetzt die Gene, in: Die Woche vom 19.1. 1999.

  56. Hannes Gamillscheg, Umdenken ohne Kabeljau, in: Frankfurter Rundschau vom 12.5. 2003; vgl. auch Ralf Köpke, Leben vom Wasser. Die Isländer setzen auf Fischfang- jetzt erzeugen sie mit dem Nass günstig Strom und wollen so Aluminiumfirmen anlocken, in: Frankfurter Rundschau vom 8.10. 2004.

  57. Vgl. Ronald Inglehart /Hans-Dieter Klingemann, Genes, Culture, Democracy, and Happiness, in: Ed Diener/Eunkook M. Suh (Hrsg.), Culture and Subjective Well-Being, Cambridge, Mass. 2000, S. 165 - 183, sowie Stefan Klein, Die Glücksformel oder Wie die guten Gefühle entstehen, Reinbek 2003, S. 276ff.

  58. Vgl. Henryk M. Broder, Absurdistan unter dem Polarkreis, in: Spiegel online vom 16.7. 2004.

  59. E.M. Guðmundsson (Anm. 2), S. 51.

  60. Sigur Rós, En Það besta sem guð hefur skapað er ny'r dagur, auf der CD Ágætis byrjun (Guter Anfang).

Dipl.-Pol., geb. 1955; Fachautorin/Dozentin für nordische Politik sowie Referentin für Organisations- und Personalentwicklung/Coach; Lehrtätigkeit zuletzt am Jean Monnet Centre for European Studies (CEuS) an der Universität Bremen; Mitglied der Forschungsgruppe Nordeuropäische Politik (FOR:N) am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin.
Anschrift: Rubart Coaching, Elsasser Str. 52, 28211 Bremen.
E-Mail: E-Mail Link: FrRubart@aol.com

Veröffentlichungen u.a.: An der Macht, aber nicht am Ziel: Politische Partizipation von Frauen in Norwegen, in: Beate Hoecker (Hrsg.), Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa, Opladen 1998; Island: Parteiensystem im Wandel, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss/Melanie Haas (Hrsg.), Die Parteiensysteme in Westeuropa (i.E. 2005).