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Parteien und die Politik der Zumutungen | Innenpolitik | bpb.de

Innenpolitik Editorial Vom Elend des Reformierens Regieren ohne inneren Kompass Die deutschen Parteien: Defizite und Reformideen Parteien und die Politik der Zumutungen Rot-grüne Zwischenbilanz Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP

Parteien und die Politik der Zumutungen

Elmar Wiesendahl

/ 16 Minuten zu lesen

Unter zunehmendem Krisendruck werden die Parteien zu Getriebenen des Wandels. Sie könnten sich entweder dem Reformdruck verweigern oder sie setzen sich an die Spitze der Reformbewegungen.

Einleitung

Für die Parteien in Deutschland endet eine Epoche. Sie stand für einen Parteienwettbewerb, bei dem die Bevölkerung von Wahlperiode zu Wahlperiode mit einem stetigen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der sozialen Sicherungssysteme rechnen konnte. Diese Politik befand sich im Einklang mit dem tief verwurzelten Sozialstaatskonsens in Deutschland, und für die Parteien ging ihr Stimmenmaximierungskalkül auf, zumal sie für eine Politik sozialer Wohltaten mit elektoraler Erfolgsprämierung rechnen konnten. Infolgedessen geriet der Sozialstaat zum ureigensten Objekt parteipolitisch organisierter Interessenrepräsentation und Wählermobilisierung. Nun sind für den weiteren Erhalt des sozialstaatlichen Wohlfahrtsniveaus die Voraussetzungen weggefallen, was die Parteien zu einem Kurswechsel zwingt. Hierbei geht es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Ausmaß und das Wie sowie um die Frage der Durchsetzung einer Politik der Zumutungen.

Der Gezeitenwechsel von einer Politik der Wohltaten zu einer Politik der Zumutungen stellt Parteien vor enorme Herausforderungen und Risiken, die im Folgenden untersucht werden. Herausgefunden werden soll, aus welchen Gründen und auf welche riskante Art und Weise Parteien in Deutschland einen sozialstaatlichen Kurswechsel vollziehen, und dies unter begrenzten externen und parteiinternen Handlungsspielräumen. Um Parteien als Schlüsselakteure einer sozialen Wendepolitik zu analysieren, ist der politikwissenschaftlich vorherrschende Blick auf die restriktiven institutionellen Arrangements und Vetospieler-Barrieren, die für Reformblockaden in Deutschland verantwortlich gemacht werden, eher hinderlich. Nützlicher ist es, Parteien aus der Akteursperspektive zu beleuchten. Dabei werden Struktur- und Handlungsanalyse kombiniert, um mit Blick auf die Intentionen und Vorgehensweisen von Spitzenvertretern der Parteien in Regierung und Opposition den eingeleiteten Prozess der sozialstaatlichen Politikwende zu rekonstruieren.

Zunächst wird auf die prekäre Lage eingegangen, mit der Parteien bei ihrem Wechsel hin zu einer Politik der Zumutungen konfrontiert werden. Danach sollen die Umstände und Handlungslogiken der Parteispitzen skizziert werden, die den Reformen des Gesundheits- und Rentensystems sowie des Arbeitsmarktes zu Grunde liegen. Richtung und Vorgehensweise der Reformakteure werden diskutiert und in einen parteiendemokratischen Bewertungszusammenhang eingebettet. Am Ende werden problematische Folgen thematisiert, die sich aufgrund von Legitimationsschwächen und parteiendemokratischen Fehlsteuerungen der Reformen einstellen könnten.

Parteien und Politikwende

Parteien haben sich generell mit einer hohen Erwartungshaltung ihrer Wählerschaft auseinanderzusetzen. Und jetzt sollen sie eine Politikwende organisieren, die mit Zumutungen für den größten Teil der Bevölkerung einhergeht. Geht es doch um die Beschneidung angestammter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sowie um Kostenzuzahlungen und den Abbau arbeitsmarktlicher Schutzrechte. Als Schlüsselakteuren des politischen Prozesses und Bindegliedern zwischen Staat und Gesellschaft fällt den Parteien die undankbare Rolle zu, eine Wende zu einer Politik der Zumutungen einzuleiten und durchzusetzen. Obgleich nicht gut dafür vorbereitet, haben sie dabei widerstreitende Erwartungen zu berücksichtigen und spannungsgeladene Funktionen miteinander zu kombinieren.

Da sie die Schaltstellen staatlicher Macht besetzen und im Zentrum des parlamentarischen und gouvernementalen Entscheidungsprozesses stehen, wird von ihnen einerseits erwartet, dass sie problemgerechte und sachdienliche Vorschläge und Reformkonzepte formulieren und in effektive Entscheidungen umsetzen. Andererseits haben sie dafür Sorge zu tragen, dass im Reformprozess die Wünsche und Kollektivinteressen ihrer Mitglieder, Anhänger, Wähler, verbündeten Verbände und sonstigen gesellschaftlichen Gruppen angemessen berücksichtigt und repräsentiert werden. Und last but not least ist es ihre Aufgabe, auch unter Reformstress den Parteienstaat mit der Gesellschaft in enger Verbindung zu halten. Hierzu müssen sie weitreichende Perspektiven aufzeigen, die Öffentlichkeit überzeugen und Gründe dafür nennen, warum, für welche Zwecke und wie sich die Dinge ändern sollten, um die Politikwende nachvollziehbar und akzeptabel zu machen.

Parteien können sich dem kritischen Wandel derökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht entziehen. Es ist ihnen verwehrt, auf bewährte Reaktionsmuster der Vergangenheit zurückzugreifen. Dies konfrontiert sie mit einem prekären Dilemma. In dem Maße nämlich, wie das bisher geltende sozialdemokratische Politikmodell, das auf sozialer Gleichheit, paritätischer Kostenteilung und einem starken Sozialstaat fußt, an seine ökonomischen und fiskalischen Grenzen stößt, wird dieser politischen Wohlfahrtslogik nun die Grundlage entzogen. Unter wachsendem Krisendruck werden Parteien zu Getriebenen des Wandels, wobei sie sich nur zwischen Scylla und Charybdis entscheiden können. Sich dem Reformdruck zu verweigern hieße, von den ungelösten ökonomischen und sozialen Problemen überwältigt zu werden, würde ferner bedeuten, zu allererst die Verantwortung für die Reformunfähigkeit Deutschlands zu übernehmen. Stellen sich die Parteien aber umgekehrt aktiv an die Spitze der Reformbewegung, müssen sie sich notgedrungen auf eine unpopuläre Politik sozialer Zumutungen einlassen. Die Grundfesten ihrer Erfolgsbasis würden dadurch erschüttert. Schließlich bilden sie mit ihrer bisherigen Wettbewerbslogik der sozialen Wohltaten eine wesentliche Ursache für die Sozialstaatsprobleme, die gelöst werden müssen. Sie sitzen auf dem Ast, den sie zu beschneiden haben. Gehen sie den Weg der Sozialstaatsreform, haben sie mit der Abstrafung durch die Wähler zu rechnen. Hinzu tritt noch das Risiko, mit dem Reformkurs zu scheitern, weil für die Reformakteure ungewiss ist, ob sich durch die schmerzhaften Einschnitte wirklich eine Besserung der Lage einstellt.

Politikwechsel als Durchmarsch

Seit der deutschen Einheit erlebt Deutschland einen gesellschaftlichen und ökonomischen Zeitenwechsel mit einem ungewissen Ausgang. Das Land hat mit chronischer Wachstumsschwäche, struktureller Massenarbeitslosigkeit, hohen Lohnkosten, wachsenden Sozialausgaben, Steuerausfällen, Haushaltsdefiziten und ungebremster Staatsverschuldung zu kämpfen. Diese dramatische Lage geht auf unterlassene politische Anpassungen zurück, die weit bis in die Kohl-Ära zurückreichen.

Spätestens seit 2003 hat ein Prozess des politischen Umsteuerns begonnen. Aus einer breiten gesellschaftlichen Aufbruch- und Reformbewegung ist dieser nicht hervorgegangen, ebensowenig konnte er an ein aufgeschlossenes gesellschaftliches Reformklima anknüpfen. Auch innovative programmatische Impulse der Parteien für die Reformagenda blieben aus, zumal der hierfür erforderliche innerparteiliche Programmerneuerungsprozess sich erst noch mühsam an die gewandelte Wirklichkeit heranarbeitet. Infolgedessen stehen die eingeleiteten Sozialstaatsreformen im Kontrast zu den nach wie vor gültigen Programmpositionen der Parteien.

Bis zur Agenda 2010 konnte von einem strategischen Reformkurs der zweiten Schröder-Regierung keine Rede sein, was nahtlos an die Linienlosigkeit seines ersten Kabinetts 1998 bis 2002 anschloss. Erst der sich krisenhaft zuspitzende Problemstau, gescheiterte Konsensrunden und die elektorale Abwärtsspirale der SPD lösten im Kanzleramt einen strategischen Richtungswechsel aus, der zur Agenda 2010 führte. Sie kann als Schlüsselprojekt einer wohlfahrtsstaatlichen Politikwende begriffen werden. Als Kopfgeburt aus dem Kanzleramt liefert sie eine regierungslogisch determinierte Antwort auf eine sonst nicht mehr beherrschbare Notlage. Eine sozialdemokratische Handschrift ist dagegen nicht zu erkennen.

Der Sozialstaatsreform liegt inhaltlich eine Verschiebung des politischen Problemwahrwerdungsrahmens zugrunde. So atmen die Agenda 2010 und weitere von Spitzenvertretern der Union und FDP propagierte Reformschritte durchweg den Geist eines neoliberalen Elitenkonsens, von dem die öffentliche Reformdebatte beherrscht wird. Nicht von ungefähr sprechen sich führende Vertreter des ökonomischen, politischen und administrativen Elitensektors für radikale Sozialleistungskürzungen und die Deregulierung des Arbeitsmarktes aus. Für die politische Klasse ist diese Entwicklung allerdings neu, weil noch Mitte der neunziger Jahre Parteieliten hinsichtlich des gewünschten Ausmaßes, die Verantwortung des Sozialstaats für soziale Sicherheit zurückzuschrauben, deutlich differierten.

Die gegenwärtige Hegemonie angebotstheoretischer, neoliberaler Reformideen ist auch auf das Fehlen attraktiver, alternativer, soziologischer und sozialphilosophischer Theorien der Gesellschaftsmodernisierung in Deutschland zurückzuführen. Infolgedessen sind die politische Linke und die Verteidiger des Sozialstaats aus den Arbeitnehmerflügeln der Parteien und aus dem Gewerkschafts- und Kirchenbereich an den Rand der gegenwärtigen Reformdebatte gedrängt worden.

Was im Reformjahr 2003 im Gesundheits-, Renten- und Arbeitsmarktsektor an Reformschritten in Gesetzesform gegossen wurde, dient der Kostenbegrenzung und -stabilisierung. Die Lohnkosten sollen durch Abwälzung des Arbeitgeberanteils an den Sozialabgaben auf die Beschäftigten gesenkt werden. Negative Anreize sollen Arbeitslose zur rascheren Arbeitswiederaufnahme bewegen. Zugleich sollen ältere Beschäftigte am frühzeitigen Verlassen des Arbeitsmarktes gehindert werden. Die Reformen zeigen zweifelsohne eine Schieflage zu Ungunsten von Beitragszahlern, Kranken, Arbeitslosen und älteren Lohn- und Gehaltsempfängern. Dagegen sind die Interessen von Unternehmern und Selbstständigen sowie der Anbieter von Gesundheitsgütern aufgrund der Unterstützung von FDP und CDU/CSU weitgehend bei den Reformmaßnahmen verschont geblieben. Die grundlegende Sanierung des Sozialstaats steht weiterhin auf der Tagesordnung.

Dem mit der Agenda 2010 eingeleiteten Politikwechsel liegt ein strategisches Change-Management-Konzept zugrunde. Schon mit der Regierungserklärung vom 14. März 2003 wurde ein politischer Wandel des Führungsstils sichtbar. Der Kanzler beansprucht, Richtung und Schritte der Sozialreform aus eigener Machtvollkommenheit vorzugeben. Schröder war nicht bereit, die Verantwortung am Zustandekommen und Kurs der Agenda 2010 zu teilen. Diese strategische Liniepersonalisierter Entscheidungszentralisierung bricht in aller Form mit der eingebürgerten Konsenskultur in Deutschland. Mehr noch kommt der Kanzler als entschlossene Führungsgestalt mit der autokratischen Attitüde daher, dass das von ihm generierte Reformkonzept substanziell nicht mehr verhandelbar sei. Mit seinen Worten: "Das, was jetzt noch zu geschehen habe", sei "Politikimplementation und nicht Debatte". Und gegenüber Fraktion und Partei klagt er Gefolgschaft ein. Ihnen bleibe die Aufgabe, "der Politik des Kanzlers zuzustimmen oder es zu lassen".

Schröder entledigt sich der institutionellen Fesselung, um den Reformprozess von der Spitze her zu diktieren und top-down durchzusetzen. Die autoritative Chefrolle paart sich dabei mit der des seiner Sache absolut sicheren strategischen Akteurs, der sich um der großen Reformsache willen über den sehr zähen parteiendemokratischen und verhandlungsdemokratischen Politikbetrieb erhebt. Alle Verantwortung für Erfolg oder Missgelingen der Sozialstaatsreform ist mit seinem Namen verbunden. Hat er Erfolg, geht er als staatsmännischer Reformkanzler in die Geschichte ein. Scheitert er, hat sein Untergang immerhin etwas Heroisches. Der resolute Ausbruch des Kanzlers aus der konsensdemokratischen Wagenburg beeindruckte so sehr, dass radikalreformerische Nachahmereffekte unter den konkurrierenden Spitzenpolitikern ausgelöst wurden. Hier ist die mutige, am 1. Oktober gehaltene Berliner Rede "Quo vadis Deutschland?" von Angela Merkel zu nennen. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nutzte seine Regierungserklärung vom 6. November 2003 für eine "paradigmatische" sozialstaatliche Richtungswende. Und schließlich trumpfte die Westerwelle-FDP auf ihrem Parteitag vom 5. und 6. Juni 2004 programmatisch auf und erteilte dem "Wohlfahrtsstaat an sich" eine marktradikale Absage.

Legitimationsschwäche und Akzeptanzkrise der Politik

Idealiter meint Policymaking den Transfer von Bevölkerungswünschen in politische Entscheidungen. Dieses Ideal ist parteiendemokratisch mit der Prinzipal-Agent-Theorie vergleichbar. Die Wählerschaft als Prinzipal entwickelt Interessen und Präferenzen, und Parteien als Agenten versuchen, diese Anliegen aufzugreifen, zu bündeln und sie in den parlamentarischen und exekutiven Entscheidungsprozess einzuspeisen und umzusetzen. Die wahre strategische Herausforderung der Parteien besteht nun allerdings darin, die Spannung zu überbrücken, die sich aus dem Zusammenstoß von regierungslogischen Sachzwängen der Sozialstaatsreform mit den Sozialstaatspräferenzen der betroffenen Bürger ergeben. Hier offenbart sich eine eklatante Schwachstelle des Politikwechsels. Denn die sozialen Reformschritte stehen im krassen Widerspruch zum Gerechtigkeitsempfinden breitester Bevölkerungsschichten.

Der Grund hierfür besteht in der hohen Werthaftigkeit, den der Sozialstaat mit seinen sozialen Sicherungseinrichtungen in Deutschland findet. 71 Prozent der Bundesbürger wollen in einem Land leben, in dem soziale Sicherheit zählt und nicht in einem Land, in dem die persönliche Risikovorsorge belohnt wird. Für 67 Prozent der Bevölkerung bedeutet soziale Gerechtigkeit, dass "alle Menschen die gleichen Lebensbedingungen haben". Weitergehend zählt die soziale Gerechtigkeit zum Kernbestandteil der sozialen Frage. Dies ist der nach wie vor virulente klassenpolitische Erfahrungshintergrund, warum die Menschen in Deutschland soziale Gerechtigkeit auf das Engste mit dem aktiven Einsatz des Staates für mehr soziale Gleichheit durch Einkommensumverteilung und den Schutz sozialer Errungenschaften verbinden. Deshalb verlangt der Sozialstaatskonsens in Deutschland nach dem staatlichen Schutz der Bürger vor individuellen Alters-, Gesundheits- und Beschäftigungslosigkeitsrisiken. Der sozialstaatliche Gewährleistungsanspruch geht dabei so weit, dass er als vom Staat zu garantierendes soziales Grundrecht begriffen wird.

Reformen werden keineswegs grundsätzlich abgelehnt, zumal ein großer Teil der Deutschen den baldigen Kollaps des Gesundheits-, Alters- und Arbeitslosigkeitssystems erwartet. Befürchtet wird allerdings, dass die Reformagenda keine Besserung der sozialen Lage erzeugt, sondern nur neue Ungerechtigkeiten und soziale Ungleichheiten. Bereits jetzt halten über 80 Prozent der Bundesbürger die Reformen für "sozial unausgewogen". Der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Christoph Böhr, hat in diesem Zusammenhang eine simple und zugleich aufschlussreiche Erklärung für die Ängste und Widerstände der Menschen geliefert. Für sie bedeute nämlich jeder Reformschritt, "dass es am Ende (einige wenige) Gewinner und (sehr viele) Verlierer gibt". Und: "Die sozialstaatlichen Leistungen sinken, während die finanziellen Belastungen steigen ... und schon fühlt sich eine große Mehrheit als geschröpfte Verlierer der Einsparrunde."

Die Kluft zwischen Sozialstaatsreform und Sozialstaatspräferenzen der Bürger wäre leichter überbrückbar, wenn genügend Vertrauen in die Parteien und politischen Entscheidungsträger beim Umbau des Sozialstaats gelegt würde. Hierfür bedürfte es aber größerer Anstrengungen der politischen Klasse, ihre Politik der Zumutungen überzeugend zu begründen und Verständigungsbrücken zur verängstigten und enttäuschten Wählerschaft zu bauen. Doch noch nie wurde ein einschneidender politischer Richtungswechsel der Nachkriegszeit dermaßen wortkarg, begründungsschwach und inspirationslos vermittelt. Keine Partei oder kein führender Politiker verfügt gegenwärtig über ein irgendwie kreditwürdiges Konzept, um den tief verankerten Sozialstaatskonsens in der Bevölkerung aufbrechen zu können.

Auffallend ist zudem der Mangel an emotionaler Intelligenz, mit dem sich die politische Klasse der Aufgabe entzieht, zu einfühlsamen Wortführern der Ängste und Besorgnisse einer zutiefst verunsicherten deutschen Bevölkerung zu werden. Mittlerweile hat sich dies zu einer kommunikativen Vertrauenskrise zwischen Spitzenpolitikern und Wählern ausgewachsen.

Erstere benutzen einen regierungslogisch-technokratischen Code, durch den Politik sprachlich zu einem Reparaturbetrieb von zu lösenden wirtschaftlichen und sozialen Sachzwängen verkümmert. So begründete Olaf Scholz, der ehemalige Generalsekretär der SPD, den SPD-Mitgliedern die Reformen damit, dass sie notwendig seien, "wenn wir den Wohlfahrtsstaat als Ganzes erhalten und modernisieren wollen. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann sorgen wir dafür, dass die sozialen Sicherungssysteme kollabieren oder von den Kräften des Marktes weggefegt werden." Ähnlich verknüpft der damalige SPD-Frakionsvorsitzende Franz Müntefering mit den Reformgesetzen die Erwartung, dass sie "den Sozialstaat in Deutschland in seiner Substanz dauerhaft sichern und Wohlstand in unserem Land heute, morgen und übermorgen ermöglichen". Dagegen wollen die Wähler, dass über ihre gefährdeten Interessen geredet und Rücksicht auf ihre Verlustängste genommen wird. Sie wünschen sich Parteien und Politiker als Sprachrohre und Schutzmächte ihrer Interessen an ihrer Seite. Dieses elementare Repräsentationsverständnis ist aber durch die parteipolitisch instinktlos vermittelte Politikwende schwer beschädigt worden, und für die SPD ist viel historisch gewachsenes Vertrauenskapital zu Bruch gegangen. Sozialdemokratische Wähler und selbst Mitglieder werden nämlich den Verdacht nicht los, das die Bundesregierung nach der Melodie der Wirtschaft tanzt und dadurch treulos gegenüber der eigenen Anhängerschaft wurde.

Die Loyalitäts- oder Vertrauensreserven in der Wählerschaft für die Sozialstaatsreformen sind auch deshalb verbraucht, weil die Parteien und die aus ihnen hervorgegangenen Spitzenakteure mittlerweile von einem Umfeld des Misstrauens und emotionaler Entfremdung umgeben sind. Nach dem goldenen Zeitalter intakter Verbindung und hoher emotionaler Übereinstimmung zwischen Gesellschaft und Parteiensystem in den siebziger Jahren haben sich in den achtziger Jahren die Verhältnisse umgekehrt. Gegenwärtig erreichen die Vertrauenswerte für Parteien und Politiker einen kaum noch zu unterbietenden Tiefststand. 89 Prozent der Bevölkerung glauben, dass Politiker sich nicht im Einklang mit den Problemen des Landes befinden.

Die gegenwärtige Repräsentationslücke des Parteiensystems geht so weit, dass eine Wählermehrheit auch der CDU/CSU die Bewältigung der Sozialstaatskrise nicht zutraut. Die Wählerinnen und Wähler lassen jedoch ihre Unzufriedenheit und Frustration allein an der SPD als Regierungspartei aus. Dieses elektorale Abstrafen der SPD hat den paradoxen Effekt, dass gerade die Union im Zustimmungshoch überwältigende Wahlsiege einfährt, obgleich ihre Reformvorstellungen im Zumutungscharakter weit über das hinausgehen, was mit der Agenda 2010 umgesetzt wird. Für das bestehende Parteiensystem hat die elektorale Kanalisation des Unmuts und Protests auf die Mühlen der CDU/CSU immerhin einen stabilisierenden Effekt. Mit der Union an der Regierung könnte sich dies allerdings ändern. Denn die von der SPD abgestoßenen und gegenwärtig bei der Union angedockten Fliehkräfte in der Wählerschaft müssen nicht zu einer oppositionellen SPD zurückkehren. Dafür halten die schon seit der ersten Schröder-Regierung entstandenen Bruchstellen im Beziehungsverhältnis der SPD zu ihrer alten Stammwählerklientel bereits zu lange an und sind für zahlreiche Abtrünnige mittlerweile irrreparabel. Vieles spricht dafür, dass sich größere Teile des sozialdemokratischen Wählerlagers wegen des Repräsentationsversagens der SPD in einem politisch heimatlosen Protestlager sammeln.

Parteiorganisationen als Hindernisse des Politikwechsels

Die Wendepolitik ist ein Elitenprodukt und nicht aus einem innerparteilichen Willensbildungsprozess von unten nach oben hervorgegangen. Gerade bei Veränderungen bleibt die Rolle von Change Agents und Reformpromotoren Parteieliten und Spitzenpolitikern in öffentlichen Ämtern vorbehalten. Parteipolitiker können allerdings die reformungünstigen Einflüsse der Parteiideologie und den möglichen Widerstand der Parteiaktiven nicht außer Acht lassen. Potentielle Konflikte sind schon deshalb angezeigt, weil sich die Weltsicht der Parteispitzen und die der Ehrenamtlichen und Aktiven an der Basis deutlich voneinander unterscheiden. Der sachzwanglogische Entscheidungsdruck, der auf den Parteivertretern in Parlament und Regierung lastet, differiert stark mit den Wünschen der Parteimitglieder, die originäre Politikvorstellungen entwickeln und zur Parteilinie machen wollen. So wünschen sich 64 Prozent der SPD-Mitglieder, dass die Partei zu ihren Prinzipien steht und nicht zu einem bloßen Instrument des Regierungserhalts verkommt. Parteiaktive im Denken und Fühlen auf einen neuen Reformkurs einzuschwören, wird dadurch erschwert, dass diese größtenteils in den späten sechziger Jahren und dem goldenen Zeitalter des Sozialstaatsausbaus in den siebziger Jahren politisiert und für eine Parteimitgliedschaft rekrutiert wurden. Viele unter ihnen sind Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und Angehörige der Wohlfahrtsstaatsbürokratien mit einem Eigeninteresse am Erhalt des Sozialstaats.

Der abrupte Politikwechsel Schröders musste vor diesem Hintergrund Konflikte mit der SPD auslösen. Deshalb nahm der Streit um die Agenda 2010 auch die Form eines innerparteilichen Grundsatzkonflikts an, bei dem beide Seiten verständigungslos blieben. Der Regierungsflügel sprach über die unabweisbare Notwendigkeit von Sozialreformen, während die große Mehrheit der Parteibasis sich an den Parteiprinzipien festbiss. Dies erklärt, warum 2003 sechs von zehn SPD-Mitgliedern die Reformpolitik ihrer eigenen Regierung für sozial unausgewogen und für falsch hielten. Die Widerstände vorausahnend gaben die Reformer an der Parteispitze und in der Regierung nicht viel auf die obstruktive SPD und wollten sie anfangs als Mitbeteiligte am Reformprozess grundsätzlich ausschließen. Diese naive taktische Absicht scheiterte aber am unterschätzten Protest der Parteibasis. Gleichzeitig missglückte der Versuch von Generalsekretär Scholz, der Partei von oben eine Revision ihres altehrwürdigen Gerechtigkeitsbegriffs aufzudrücken. Die von Parteirebellen initiierte Initiative für eine Mitgliederabstimmung über die neue Parteilinie zwangen Kanzler und Parteispitze zu einer Kurskorrektur, so dass ein Sonderparteitag am 2. Juni 2003 abgehalten wurde. Die vier zuvor veranstalteten Regionalkonferenzen im Beisein von Schröder verliefen feindselig und konfrontativ, zumal von vornherein durch die herrische Rücktrittsdrohung des Kanzlers feststand, dass an der Agenda 2010 nichts mehr zu ändern war. Höchste Priorität genoss das Machterhaltungsargument, wobei Schröder die Agenda warnend zum "Testfall für die Regierungsfähigkeit der Partei mindestens für dieses Jahrzehnt" erhob.

Der rücksichtslose Umgang mit der Partei nach der "Vogel friss oder stirb"-Devise ist wohl singulär für die SPD-Nachkriegsgeschichte. Gleichwohl folgten die Delegierten auf dem Sonderparteitag im Juni und dem nachfolgenden regulären Parteitag am 18. und 19. November 2003 der Parteiräson und stellten sich mit überwältigender Mehrheit hinter die Agenda 2010 und den Kanzler als Parteichef. Der Scheinerfolg Schröders konnte aber die Demütigung und Demoralisierung der Partei nicht überdecken. So war die Übergabe des Parteivorsitzes an Franz Müntefering nur konsequent, um die Partei vom Leiden an Schröder zu erlösen und sich wieder aufrichten zu lassen. Auch Angela Merkel erzielte auf dem CDU-Parteitag vom 1. bis 2. Dezember 2003 für ihr einschneidendes sozialstaatliches Wendekonzept einen berauschenden Zustimmungserfolg, ohne sich des Rückhalts der Parteimitglieder wirklich sicher sein zu können. Denn die Mitgliedschafts- und Identitätslogik von Programmparteien erweist sich als tief verwurzelte Barriere gegen identitätsbelastende politische Kursänderungen durch die Parteispitze oder Regierungsvertreter.

Fazit

Eingeleitet mit der Agenda 2010 ist der Reformstau in Deutschland aufgebrochen worden. Dies glückte durch die personalisierte Entscheidungszentralisierung der Politikwende auf eine exklusive Handvoll von Spitzenpolitikern. Regierungsapparate und kleine Beraterstäbe bildeten hermetische Schaltzentralen des Kurswechsels. Die von oben initiierte Durchmarsch-Strategie wurde durch den autoritativen Führungsanspruch des Kanzlers und - ihm nacheifernd - der Oppositionsspitzen untermauert. Diese Linie konnte verhandlungs- und konsensdemokratische Entscheidungsblockaden durchkreuzen. Auch Parlamentsfraktionen und Parteitage wurden zur Akklamation gegenüber einer als alternativlos bezeichneten und nicht mehr disponiblen Wendepolitik verpflichtet.

Wenn sich auch die materiellen Folgen der Politik der Zumutungen in Grenzen halten, haben die Reformakteure darin versagt, die an Parteien gerichteten Erwartungen auszubalancieren. Entsprechend hoch sind die symbolischen Wunden, die aufgerissen wurden. So fehlt dem eingeleiteten Reformprozess ein klares demokratisches Mandat und die Zustimmung der Wähler. Die Veränderungen stehen quer zu den Sozialstaatspräferenzen der Bevölkerung. Zwischen Parteiensystem und Bevölkerung klafft eine Interessenrepräsentationslücke. Die Betreiber der Wende verhalten sich gegenüber den ökonomischen Reformimperativen servil, während sie die Sorgen und Verlustängste der Betroffenen vernachlässigen. Im politischen Entscheidungsbereich hat sich ein reformerischen Elitenkartell etabliert, das sich über das parteiendemokratische Prinzipal-Agent-Verhältnis hinwegsetzt. Parteien als Willensbildungsinstanzen haben gleichzeitig einen eklatanten Einflussverlust zu verzeichnen. Ob die neoliberal inspirierte Wende die erhofften Früchte trägt, ist noch ungewiss. Mit einer weiteren Entkopplung von Parteienstaat und Gesellschaft ist zu rechnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Arthur Benz, Reformpromotoren oder Reformblockierer? Die Rolle der Parteien im Bundesstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 29 - 30/2003, S. 32ff.

  2. Vgl. Stefano Bartolini/Peter Mair, Challenges to Contemporary Political Parties, in: L. Diamond/R. Gunther (Hrsg.), Political Parties and Democracy, Baltimore-London 2001, S. 330ff.

  3. Vgl. Wolfgang Schröder, Ursprünge und Unterschiede sozialdemokratischer Reformstrategien. Großbritannien, Frankreich und Deutschland im Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Neue Balance zwischen Markt und Staat?, Schwalbach 2001, S. 251.

  4. Vgl. Claus Offe, Perspektivloses Zappeln. Oder: Politik mit der Agenda 2010, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2003) 7, S. 807ff.

  5. Vgl. Reimut Zohlnhöfer, Rot-grüne Regierungspolitik in Deutschland 1998 - 2002. Versuch einer Zwischenbilanz, in: Christoph Egle/Tobias Ostheim/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998 - 2002, Wiesbaden 2003, S. 402f.

  6. Vgl. Helmut Wiesenthal, Beyond Incrementalism - Sozialpolitische Basisinnovationen im Lichte der politiktheoretischen Skepsis, in: Renate Mayntz/Wolfgang Streeck (Hrsg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovation und Blockaden, Frankfurt/M.-New York 2003, S. 38.

  7. Vgl. Rainer Hübner, Aufbruchsignal. Capital-Elite-Panel, in: Capital, (2003) 15, S. 19.

  8. Vgl. Viktoria Kaina, Elitenvertrauen und Demokratie, Wiesbaden 2002, S. 232ff.

  9. Süddeutsche Zeitung vom 18. 3. 2003.

  10. Hamburger Abendblatt vom 15. 4. 2003.

  11. Vgl. Peter Lösche, Bundeskanzler - Superman? Wie die Medien die politische Wirklichkeit auf den Kopf stellen, in: Universitas, 480 (2003), S. 160ff.

  12. Vgl. Elmar Rieger, Die sozialpolitische Gegenreformation. Eine kritische Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1998, in: APuZ, B 46 - 47/2002, S. 5.

  13. Vgl. Edgar Piel, Sicherung defekt, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15. 6. 2003, S. 29.

  14. Nikolaus Piper, Gleiche Chancen und Leistungsanreize, Süddeutsche Zeitung vom 16. 10. 2003, S. 22.

  15. Vgl. Hans-Jürgen Andreß/Thorsten Heien/Dirk Hofacker, Wozu brauchen wir noch den Sozialstaat? Der deutsche Sozialstaat im Urteil seiner Bürger, Wiesbaden 2001, S. 122f.

  16. Vgl. ebd., S. 152ff.

  17. Vgl. Edgar Piel, Sicher ist sicher, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. 9. 2003, S. 29.

  18. Emnid-Erhebung vom 17. 2. 2004, in: Umfrage & Analyse, (2004) 3/4, S. 16.

  19. Christoph Böhr, Verlierer und Gewinner, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20. 7. 2003, S. 2.

  20. Olaf Scholz, Editorial, in: Vorwärts, (2003) 5, S. 3.

  21. Franz Müntefering, Rede im Deutschen Bundestag, in: Das Parlament vom 20. 11. 2003, S. 17.

  22. Vgl. Elmar Wiesendahl, Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt/Barbara Vogel (Hrsg.), Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848 - 1989, Hamburg 2002, S. 138ff.

  23. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politische Partizipation in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage November 2003, Mannheim 2004, S. 57ff.

  24. Vgl. Klaus-Peter Schöppner, Mehrheit der Bürger will Reformen, in: Die Welt vom 30. 7. 2003, S. 2.

  25. Vgl. Richard Hilmer, Die SPD im Spannungsfeld von Reformpolitik und Wählerinteressen, in: Franz Müntefering/Matthias Machnig (Hrsg.), Sicherheit im Wandel, Berlin 2001, S. 108ff.

  26. Vgl. Joachim Raschke, "So kann man nicht regieren". Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/M.-New York 2001, S. 25.

  27. Vgl. Andreas Hoidn-Borchers/Lorenz Wolf-Doettinchem, So denkt die SPD wirklich, Herr Schröder, in: Stern, (2003) 47, S. 54.

  28. Vgl. ebd., S. 53.

  29. Gerhard Schröder, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel, (2003) 17, S. 50.

Dr. rer. pol., geb. 1945; Professor für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München.
Anschrift: Universität der Bundeswehr München, Fachbereich Betriebswirtschaft, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg.
E-Mail: E-Mail Link: Wiesendahl@unibw-muenchen.de