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Die Zukunft der deutschen Außenpolitik liegt in Europa | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Die Zukunft der deutschen Außenpolitik liegt in Europa

Gregor Schöllgen

/ 24 Minuten zu lesen

Die enge deutsch-französische Zusammenarbeit in sämtlichen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, die prinzipiell allen Mitgliedern der EU offen steht, ist Voraussetzung dafür, den aktuellen Herausforderungen der neuen Weltordnung zu begegnen.

Wahlen, Voten, Mandate

Im Spätsommer des Jahres 2002 wurden die Weichen für die deutsche Außenpolitik neu gestellt. Noch nie hat sie sich so eindeutig auf Europa, insbesondere auf den Partner Frankreich festgelegt wie seit Beginn der Irakkrise im Herbst 2002; noch nie ist sie so deutlich auf Distanz zu den Vereinigten Staaten von Amerika gegangen wie während des Winters 2002/2003. Dafür gibt es Gründe, allen voran die amerikanische "Brachialdiplomatie" gegenüber langjährigen Partnern und Weggefährten, aber auch die Neuorientierung der französischen Europapolitik, das gewachsene außenpolitische Selbstbewusstsein der Bundesregierung und nicht zuletzt die innenpolitischen Konstellationen in Deutschland während der aufziehenden Irakkrise.

Dabei spielten die Wahlkämpfe des Herbstes und Winters 2002/2003 eine, aber nicht die entscheidende Rolle. Gewiss entdeckte der Kanzler, weil er die schon fast verloren geglaubten Wahlen zum Deutschen Bundestag doch noch gewinnen wollte, im Spätsommer 2002 gewissermaßen in letzter Minute das Thema Irak, erhob es zu einer Frage von Krieg und Frieden für Deutschland und schaffte so, auf der Zielgeraden und zusätzlich begünstigt durch die Hochwasserkatastrophe an der Elbe, am 22. September einen hauchdünnen Wahlsieg. Und es war gleichfalls Schröder, der das Thema in den niedersächsischen und hessischen Landtagswahlkämpfen wieder aufgriff und zum Beispiel am 21. Januar 2003 in Goslar sagte: "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmt." Sollte der Kanzler gehofft haben, mit der Intonierung dieses Refrains den Stimmungsumschwung auf der Länderebene erfolgreich wiederholen zu können, wäre das Kalkül nicht aufgegangen.

Ausschlaggebend für Schröders Kurs waren jedoch weniger die bevorstehenden Wahlen in Niedersachsen oder Hessen als vielmehr die zurückliegende Erfahrung, die der Kanzler anlässlich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr hatte machen müssen. Immerhin hatten er und sein Außenminister, wie sich Fischer später ausdrückte, zum zweiten Mal nach dem Kosovo-Einsatz, also innerhalb von nur zweieinhalb Jahren, das "Land in den Krieg" führen müssen, und das war für eine rot-grüne Koalition alles andere als selbstverständlich: Die Solidarität mit den vom Terror des 11.September heimgesuchten Vereinigten Staaten war eine Sache; die Konsequenz, die daraus zu ziehen war, eine andere. Und so musste der Kanzler schließlich zum Mittel der Vertrauensfrage greifen, um den Afghanistan-Einsatz am 16. November 2001 über die parlamentarischen Hürden zu bringen. Der knappe Ausgang der Abstimmung hat Schröder überzeugt, dass er eine solche Machtprobe im Parlament nicht noch einmal suchen dürfe, jedenfalls nicht in einer Frage wie dem drohenden Irakkrieg.

Allerdings wäre auch eine Übernahme zusätzlicher militärischer Verpflichtungen kaum möglich gewesen. Immerhin stellte Deutschland 2002 nach den USA weltweit das größte Truppenkontingent bei Friedensmissionen im Ausland: Mehr als 8 500 Bundeswehrsoldaten waren am Jahresende in sieben unterschiedlichen Missionen für die Staatengemeinschaft im Einsatz, vor allem auf dem Balkan, aber eben auch in Afghanistan und im Rahmen internationaler Anti-Terror-Einsätze. Dieses erhebliche Engagement war ein starkes Argument für die angekündigte Abstinenz in Sachen Irak.

Dennoch wäre Schröder mit seinem Kurs kaum Erfolg beschieden gewesen, hätte er mit ihm nicht den Zeitgeist getroffen. Denn in Deutschland brach sich um die Jahreswende 2002/2003 ein lange schwelendes Unbehagen an der allgemeinen Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik Bahn. Auch wenn der amerikanische Präsident oder der Senat im Einzelfall gute Argumente für ihre Entscheidungen gehabt haben mögen, so war doch die Rigidität ihres Vorgehens gegenüber internationalen Organisationen und Vereinbarungen seit George W. Bushs Amtsantritt im Januar 2001 für die meisten Europäer nur schwer erträglich. Das galt nicht zuletzt für die Missachtung der Vereinten Nationen. Unmissverständlich ließen sich Vertreter der Washingtoner Administration seit dem Herbst 2002 dahin gehend vernehmen, den Krieg gegen den Irak zur Not auch im Alleingang mit einigen engen Verbündeten, das heißt ohne ein hinreichendes Mandat der Vereinten Nationen führen zu wollen.

Daher verwunderte es nicht, dass sich auch in den Reihen der Verbündeten zunehmend Vorbehalte artikulierten. Allerdings wurden diese auf der politischen bzw. Regierungsebene einstweilen nur hinter vorgehaltener Hand artikuliert - mit einer Ausnahme, dem wahlkämpfenden deutschen Bundeskanzler. Mit seiner zitierten Festlegung manövrierte Gerhard Schröder sich, seine Regierung und damit die gesamte Republik in der Irakfrage in eine Position, die sie vorerst vollständig isolierte. Besonders nachhaltig betroffen war das Verhältnis zu den USA. Abgesehen von einer kaum zu übersehenden Disharmonie zwischen den Führungspersönlichkeiten, war dafür auch die problematische öffentliche Festlegung Schröders verantwortlich, das Land selbst dann aus einer militärischen Intervention im Irak heraushalten zu wollen, wenn die Vereinten Nationen eine solche als Ultima Ratio beschließen sollten. Kritiker sahen darin eine Schwächung der militärischen Drohkulisse, durch die der Diktator von Bagdad vielleicht doch noch zum Einlenken bewegt werden konnte, sofern der Krieg nicht in Washington ohnehin längst beschlossene Sache war.

Ein neues Selbstbewusstsein

Dass Schröder schließlich reüssierte, dass er im Frühjahr nicht nur für die Mehrzahl der Deutschen, sondern auch der Europäer sprach, lag nicht zuletzt an dem ungewohnt selbstgewissen außenpolitischen Ton, den der Kanzler in diesem Zusammenhang anstimmte und bei dem er geblieben ist. Jetzt wurde vollends klar, dass Gerhard Schröder einer anderen Generation angehörte als sämtliche Kanzler vor ihm, die alle durch das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges geprägt waren und unter anderem deshalb in Deutschlands multilateraler und multinationaler Verflechtung eine, wenn nicht die wichtigste Konsequenz aus dieser Katastrophe gesehen hatten und daher im Zweifelsfall zu Konzessionen und Kompromissen auf Deutschlands Kosten bereit gewesen waren. Anders Schröder, der schon in seiner ersten Amtszeit auf eine angemessene Betonung der deutschen Interessen gerade in diesen Gemeinschaften Wert gelegt, wenn auch das Kind nicht immer beim Namen genannt hatte.

Jetzt tat er es, als er am 5. August 2002 zur Eröffnung der Endrunde des Bundestagswahlkampfes in Hannover ausdrücklich feststellte, dass "dieses Deutschland, unser Deutschland ... ein selbstbewusstes Land" sei, das für keine Abenteuer zur Verfügung stehe, und für eine "Scheckbuchdiplomatie", wie während des zweiten Golf-Krieges, auch nicht. "Wir reagieren nicht auf Druck", versicherte Schröder am 21. August auch Vertretern der Auslandspresse: "Das hat mit unserem Selbstbewusstsein zu tun." Erst aus dieser Perspektive erschließt sich die Tragweite seiner Äußerung vor dem Bundestag am 13. September, über "die existentiellen Fragen der deutschen Nation" werde "in Berlin entschieden und nirgendwo anders" - ein Refrain, den der Kanzler nach der Wahl, zum Beispiel am 10. Februar 2003 vor der Bundestagsfraktion seiner Partei, erneut intonierte. Dabei ist er geblieben, und wenn er auch nie den Hinweis auf ein "starkes und geeintes Europa" vergaß, so bestand er doch stets, wie am 14. März 2003 vor dem Bundestag, auf der "Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen" - und erteilte damit jedweden amerikanischen Vormundschaftsabsichten eine klare Absage.

Erstmals hatte ein Bundeskanzler öffentlich ausgesprochen, was seine Vorgänger, niemals gesagt hatten, jedenfalls solange sie im Amt waren. Es war dann auch nicht nur die Irakfrage, die Absage an eine militärische Beteiligung Deutschlands, sondern es war dieser selbstbewußte Ton, der auf beiden Seiten des Atlantik aufhorchen ließ. Ungeplant hatte Deutschland die Führungsrolle als Gegenmacht zu den USA übernommen. Für die Berliner Politik war sie zwangsläufig eine Nummer zu groß, und so bot sie zur Jahreswende 2003 ein Besorgnis erregendes Bild und ließ in handwerklicher Hinsicht zeitweilig jedwede Professionalität vermissen. Seit es eine Außenpolitik der Bundesrepublik gibt, waren sich die Beobachter in deren kritischer Bewertung noch nie so einig gewesen wie in diesen Februartagen.

Hilfe tat Not, und sie kam: vom französischen Staatspräsidenten. Konsequent nutzte Jacques Chirac die verfahrene internationale Situation als Chance, um das seit den Tagen Charles de Gaulles gespannte, distanzierte Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zum französischen Vorteil zu korrigieren. Wenn es nach de Gaulle einen französischen Präsidenten gegeben hat, der in fast jeder Hinsicht an dessen Außenpolitik anknüpfte, dann war es Chirac. Seit seinem furiosen Wahlerfolg vom Mai 2002 war er offenbar überzeugt, eine historische Mission erfüllen zu müssen und gewissermaßen das Werk de Gaulles zu vollenden. Wie diesem ging es auch Chirac dabei nicht um ein Kräftemessen mit den USA, das von Frankreich nicht gewonnen werden konnte, vielmehr um den Anspruch, als gleichberechtigter Partner wahrgenommen zu werden.

Nachdem Außenminister Dominique de Villepin am 20. Januar 2003 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eindeutig Position gegen den amerikanischen Kriegskurs am Persischen Golf bezogen hatte, schloss Chirac zwei Tage später, anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags, mit einem demonstrativen Schulterschluss in der Irakfrage zur deutschen Position auf und übernahm dann die Regie. Dazu gehörte auch die Einbeziehung des seit Jahresbeginn 2000 als Nachfolger Jelzins amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, so dass sich seit Mitte Februar 2003 die Bildung einer so genannten Achse Paris-Berlin-Moskau abzuzeichnen schien. Stellte die Bundesrepublik also, erstmals seit ihrer Aufnahme in die NATO vor beinahe fünf Jahrzehnten, ihr enges Verhältnis zu Amerika und damit zwangsläufig ihre Verankerung im westlichen Bündnis in Frage? Zumindest die Kritiker dieser Politik hatten da wenig Zweifel.

Vorderhand wurde dieser scheinbar radikale Bruch bundesrepublikanischer Außenpolitik mit ihrer eigenen Tradition von einer weltweiten Empörung über die riskante Irak- und anmaßende Weltpolitik der Vereinigten Staaten überlagert: Als am 15. Februar in Berlin, London, Rom, Brüssel, Paris, Washington und zahlreichen anderen Städten Millionen auf die Straße gingen, um gegen einen Krieg im Irak und damit, ausgesprochen oder nicht, gegen die Politik der Vereinigten Staaten und ihres Präsidenten zu demonstrieren, schien das auch eine überwältigende Bestätigung jenes Kurses zu sein, den Schröder schon im Herbst 2002, damals noch als einsamer Rufer, eingeschlagen hatte.

Aufwind bekam der weltweite Protest durch die stagnierenden Entscheidungsprozeduren in der EU, in der NATO und vor allem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der sich immer mehr als diplomatisches Schlachtfeld entpuppte, auf dem beide Seiten, also die USA und Frankreich sowie ihre jeweiligen Verbündeten, versuchten, Kombattanten aus den Reihen der noch unentschlossenen Ratsmitglieder anzuwerben. Nachdem auch der Letzte von drei Zwischenberichten der Waffeninspekteure keine eindeutige Klarheit schaffen konnte, ging die Initiative am 7. März endgültig an die Interventionisten über. An diesem Tag setzten die USA und ihre beiden wichtigsten Verbündeten, Großbritannien und Spanien, dem Irak eine letzte Frist bis zum 17. März für die "volle, bedingungslose, sofortige und aktive Zusammenarbeit".

Niemand konnte einen Zweifel haben, dass es sich dabei um die Ankündigung eines Ultimatums handelte, das dann auch tatsächlich zehn Tage später erging. In den Abendstunden des 20. März 2003, wenige Stunden nach dessen Ablauf, begann der Angriff einer "Koalition der Willigen", im Wesentlichen amerikanischer und britischer Streitkräfte, auf den Irak. Als amerikanische Panzerverbände am 9. April ins Zentrum Bagdads einrückten, war das Regime faktisch zusammengebrochen. Am 1. Mai erklärte Präsident Bush die "Hauptkampfhandlungen" im Irak für abgeschlossen.

Deutschland war an den Kampfhandlungen nicht beteiligt. Allerdings blieb der Luftraum über Deutschland für die amerikanischen Streitkräfte geöffnet, und die deutschen Soldaten verblieben an Bord der in der Türkei zu deren Schutz stationierten AWACS-Flugzeuge der NATO. Das wiederum führte zu einer bemerkenswerten Situation im deutschen Parlament: Am 20. März 2003 lehnten die Koalitionsfraktionen einen von der Unionsfraktion unterstützten Antrag der FDP ab, den AWACS-Einsatz durch den Bundestag bestätigen zu lassen. Dem schloss sich fünf Tage später das Bundesverfassungsgericht mit dem Urteil an, dass sich das für eine einstweilige Anordnung erforderliche deutliche Überwiegen der Rechte des Bundestags in der gegebenen Situation nicht feststellen lasse: "Die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ... hat auch im gesamtstaatlichen Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht." Das war eine bemerkenswerte Argumentation, mit der die höchsten Verfassungsrichter, ganz auf der Linie ihrer Urteile aus den neunziger Jahren, den hohen Stellenwert der Außen- und Sicherheitspolitik für das vereinigte Deutschland dokumentierten.

Partner Frankreich

Die Bundesregierung hatte in der Irakkrise eine bislang in der deutschen Außenpolitik nicht bekannte selbstbewusste Haltung an den Tag gelegt. Wie aber sollte es weitergehen? Welche Konsequenzen waren aus der Krise zu ziehen? Gewiss, Berlin stand zu seinem "Engagement im transatlantischen Bündnis", wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 3. April 2003 betonte, und insofern auch zur Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten - allerdings unter der Voraussetzung, dass die Allianz "wieder zu einem Ort intensiver gegenseitiger Konsultation" werde. Vor allem aber, so Schröder weiter, müsse die Einigung Europas entschlossen vorangetrieben werden, insbesondere auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik.

Was die jüngste Vergangenheit anging, hielt der Kanzler den in der Krise eingeschlagenen Weg, "auf Grundlage gemeinsamer Prinzipien ... eine enge Zusammenarbeit mit Russland zu suchen", für "richtig und auch erfolgreich"; den engen Schulterschluss mit Frankreich rechnete er zu den "wenigen wirklich erfreulichen Entwicklungen der augenblicklichen Situation". Tatsächlich hatte die amerikanische Pressionspolitik zu einer lange nicht gekannten, wenn überhaupt je beobachteten außenpolitischen Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin geführt - unter gelegentlicher Einbeziehung Moskaus und nicht zuletzt Pekings. Aus deutscher Sicht war das konsequent. Das gilt für das gute Verhältnis des Bundeskanzlers zum russischen Staatspräsidenten, mit dem Schröder und Putin die zuletzt durch Kohl und Jelzin gepflegte Tradition fortsetzen; und es gilt für die Abstimmung mit China. Es ist kein Zufall, dass der Kanzler Anfang Dezember 2003 - zum fünften Mal in seiner Amtszeit und erneut in Begleitung hochrangiger Vertreter der deutschen Wirtschaft - zu einem Besuch der Volksrepublik aufbrach.

Die eigentliche Überraschung aber war die offensichtliche Stabilität der neuen deutsch-französischen Partnerschaft. War es zunächst Chirac gewesen, der Schröder zu Jahresbeginn 2003 geholfen hatte, aus der fast vollständigen internationalen Isolierung herauszukommen, so ließ nunmehr der Bundeskanzler keinen Zweifel daran, dass er den Kurs des Staatspräsidenten in der Irakkrise in jeder Hinsicht mit trug - sei es, dass er ausdrücklich Chiracs Vorstoß zu einem Gipfeltreffen der Mitglieder des Sicherheitsrats unterstützte, das dann aber nicht zustande kam; sei es, dass er die Festlegung des Präsidenten auf das französische Veto guthieß.

Frankreich hatte die Führung der antiamerikanischen Koalition übernommen. Das entsprach seinem historischen und politischen Selbstverständnis, aber auch seinem Status als Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Keine Frage aber auch, dass Chirac ohne einen starken Partner, ohne das auf die Bühne der Weltpolitik zurückgekehrte Deutschland, diese Rolle kaum hätte annehmen und ausfüllen können. An dieser engen Kooperation änderte auch der Kriegsausbruch nichts. Bereits am 4. April kamen die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Russlands erneut in Paris zusammen. Dieses Mal ging es Villepin, Fischer und Iwanow um die Zukunft des Irak nach dem Krieg. Die drei ließen keinen Zweifel aufkommen, dass sie auf einer Mitwirkung der Vereinten Nationen beim Wiederaufbau des Landes wie bei der Gewährleistung seiner künftigen Sicherheit bestanden. "Einzelne Länder", so Villepin, "können einen Krieg gewinnen, aber sie können nicht den Frieden sichern" - eine Einschätzung, die Putin, Schröder und Chirac teilten und die durch die Entwicklung im Irak nach Einstellung der Hauptkampfhandlungen nachdrücklich bestätigt wurde. Als sich die drei Staats- und Regierungschefs eine Woche später, am 11. und 12. April, erstmals in dieser Konstellation in St. Petersburg trafen, sprachen auch sie von einer "zentralen Rolle" der UNO beim Wiederaufbau des Irak. An diese Linie haben sich namentlich Deutschland und Frankreich gehalten und auf diese Weise einiges dazu beigetragen, dass der Sicherheitsrat am 22. Mai beziehungsweise 16. Oktober 2003 die Resolutionen 1483 und 1511 akzeptierte, Letztere einstimmig. Damit erhielt die UNO zwar nicht die ursprünglich geforderte "zentrale Rolle", aber sie kam wieder ins Spiel und wurde vor allem nicht erneut zum Schauplatz unvereinbarer Positionen.

Zu Beginn der Irakkrise hätten nur wenige Beobachter eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Das gilt für die Konsequenz, mit der die Regierung Schröder die Rolle einnahm, die Deutschland mit den weltpolitischen Umbrüchen der ausgehenden achtziger und beginnenden neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zugefallen war. Es gilt aber auch und vor allem für die erstaunliche Tragfähigkeit des deutsch-französischen Verhältnisses, an der sich, vielen Unkenrufen zum Trotz, auch nach Überwindung der akuten Irakkrise nichts änderte.

Wie so häufig in der Geschichte des integrierten Europa, zuletzt bei der Einführung der neuen Währung, erwies sich die deutsch-französische Zusammenarbeit auch jetzt als seine treibende Kraft. Außenminister Fischer brachte das im Januar 2003 auf den Punkt: "Frankreich und Deutschland verfügen über das Gewicht und die europäische Überzeugung, deren es für ein Vorantreiben der europäischen Integration bedarf. Es gibt viele, die verfügen über die europäische Überzeugung, aber nicht über das Gewicht. Andere verfügen über das Gewicht, aber nicht über diese europäische Überzeugung."

Nach der Installierung eines geschlossenen Marktes, einer einheitlichen Währung und auch eines in weiten Bereichen schon vereinheitlichten Rechtssystems stand - und steht - seit den Krisen und Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und im Irak, dringlicher noch als zuvor, die Umsetzung einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik auf der Tagesordnung. Das setzte wie alle Großtaten in Europa einen langen Atem voraus, war aber schon angesichts des unverändert imperialen Stils der amerikanischen Europapolitik nicht aussichtslos. Wäre es je zu einer gemeinsamen europäischen Währung gekommen, wenn die USA nicht drei Jahrzehnte vor der Einführung des Euro in einer Nacht- und Nebelaktion das bestehende Währungssystem von Bretton Woods außer Kraft gesetzt hätten?

Konsequent zu Ende gedacht, auf die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bezogen und ein Weiterbestehen der NATO unterstellt, konnte und kann das nur auf einen von Grund auf neu konstruierten Pfeiler der alten Allianz hinauslaufen. Eine in dieser Hinsicht reformierte europäische Gemeinschaft, so die auch in Berlin wachsende Überzeugung, muss in der Lage sein, gegebenenfalls aus eigener militärischer Kraft und in eigener politischer Verantwortung zu handeln und insbesondere innereuropäische Krisen und Konflikte aller Art, wie während der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Kriege im vormaligen Jugoslawien, innereuropäisch zu lösen. Das Potential hatte sie schon während der neunziger Jahre. Es fehlte der Wille. Auf diesem Gebiet "wirklich handlungsfähig zu werden", forderte daher nach dem Ende der Irakkrise nicht nur Bundespräsident Johannes Rau.

Initiativen gab es, so den Vorstoß des französischen Staatspräsidenten und des britischen Premierministers von Saint-Malo, mit dem sich Chirac und Blair Anfang Dezember 1998 für eine autonome militärische Handlungsfähigkeit Europas einsetzten und der selbst von amerikanischen Europa-Spöttern als "historisch beispiellos" eingestuft wurde. Oder auch die Initiative des belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt vom Sommer 2002: Ursprünglich als Wiederbelebungsversuch von Saint-Malo gedacht, mündete sie am 29. April 2003 in ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs. Gewiss waren Konstellation und Zeitpunkt der Begegnung vor dem Hintergrund der Irakkrise nicht glücklich gewählt. Immerhin nutzten die Teilnehmer die Gelegenheit, um den übrigen Partnern konkrete Maßnahmen und Schritte auf dem Weg zu einer "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion" (ESVU) vorzuschlagen, deren Grundidee im Sommer 1999 von der deutschen Außenpolitik ins Gespräch gebracht worden war.

Die andauernde, unverhältnismäßig heftige amerikanische Kritik an dem Vorhaben, insbesondere am Vorschlag eines militärischen Hauptquartiers der EU, durfte in diesem Falle als Indiz gelten, dass man den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Das zeigte nicht zuletzt der schrittweise Sinneswandel der britischen Regierung, die zu den engsten Weggefährten der USA zählte, aber eben deshalb mit der amerikanischen Politik und Kriegführung, zuletzt im Irak, auch eigene Erfahrung gesammelt hatte. Beginnend mit einem geheim gehaltenen Treffen der drei Außenminister im Frühjahr, fortgesetzt mit einer informellen Begegnung Blairs, Chiracs und Schröders, das am 20. September 2003 bezeichnenderweise in Berlin stattfand, setzte sich auch in London die Überzeugung durch, "dass die EU über eine gemeinsame Fähigkeit zur Planung und Führung von Operationen ohne Rückgriff auf Nato-Mittel und -Fähigkeiten verfügen" müsse. So hieß es jedenfalls in einem informellen, ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedachten Papier der drei, mit dem Blair gewissermaßen zur Position von Saint-Malo zurückkehrte. Dabei ist es geblieben, wenn auch stets betont wurde, dass die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik die NATO nicht ersetzen, sondern ergänzen solle.

Mit ihrem Formelkompromiss machten die drei Führungsmächte der EU bis Jahresende 2003 den Weg für eine "strukturierte Zusammenarbeit" im Rahmen der ESVP frei. Das war nicht selbstverständlich, zeigt aber, dass für Fortschritte bei der Integration Europas ein Zusammengehen der drei Regierungen wichtig und die deutsch-französische Zusammenarbeit unverzichtbar ist. Tatsächlich hatten sich Paris und Berlin auf praktisch allen Ebenen, die Außen- und Sicherheitspolitik eingeschlossen, selten so eng abgesprochen wie seit dem Herbst 2002: Dass sich Schröder am 17. Oktober 2003, dem zweiten Tag eines Brüsseler EU-Gipfeltreffens, von Chirac vertreten ließ, um an Abstimmungen im Bundestag teilnehmen zu können, dass der deutsche Bundeskanzler also gewissermaßen seine Stimme an den französischen Staatspräsidenten delegierte, ist nicht nur in der Geschichte der EU-Gipfel ohne Beispiel.

Und es war symptomatisch - vor allem für die stabile, nicht zuletzt durch Persönlichkeiten geprägte Tradition der deutsch-französischen Beziehungen: Schröder und Chirac setzten fort, was Adenauer und de Gaulle begonnen, Schmidt und Giscard d'Estaing oder Kohl und Mitterrand ausgebaut hatten. Dass dieser enge Schulterschluss immer auch Gegenreaktionen provoziert hat und provozieren kann, überrascht nicht. Das gilt für den transatlantischen Verbündeten, und es gilt für die europäischen Partner: So machten sich Schröder und Chirac nicht nur Freunde, als ihre Finanzminister die EU-Kommission in der Nacht zum 25.November zwangen, das Defizitverfahren gegen Berlin und Paris auszusetzen, obgleich beide zum dritten Mal in Folge gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen und damit einen womöglich folgenreichen Präzedenzfall geschaffen hatten. Allerdings lag es dann nicht an Deutschland und Frankreich, sondern namentlich an Polen und Spanien, dass der so genannte Reformgipfel Mitte Dezember 2003 scheiterte - wenn auch Schröder und Chirac einmal mehr an einem Strang zogen.

Noch deutlicher wurde die neue Qualität der deutsch-französischen Zusammenarbeit mit Blick auf den amerikanischen Verbündeten. Wenn auch beide, Berlin stärker als Paris, während der Irakkrise sorgsam darauf bedacht waren, auch nur den Anschein eines gegen die USA gerichteten Zusammengehens zu vermeiden und ihm gegebenenfalls entgegenzutreten, ließ sich dieser Eindruck schon deshalb nicht vermeiden, weil die amerikanische Politik und Publizistik ihn mit zunehmender Intensität erweckte und kultivierte.

Das Ende der transatlantischen Epoche

Und auch das war kein Zufall. Denn mit wachsender Distanz zu den turbulenten Ereignissen der Irakkrise zeichnete sich immer deutlicher ab, was diese vor allem offenbarte: das Ende der transatlantischen Epoche, jenes Zeitalters also, das durch den Ost-West-Gegensatz, durch die Blockkonfrontation und durch die bipolare Weltordnung charakterisiert gewesen war und das daher mit dem Untergang der Sowjetunion und ihres Imperiums sein natürliches Ende hatte finden müssen. Damit war für die Amerikaner jener Brückenkopf in Europa entbehrlich geworden, den sie benötigten, um im Interesse ihrer nationalen Sicherheit die Sowjetunion politisch, wirtschaftlich und natürlich militärisch in Schach zu halten und in diesem Zusammenhang die Sicherheit und die Freiheit auch eines großen Teils von Europa zu garantieren. Mit dem Ende der Sowjetunion war diese erste und, wie viele meinten, auch einzige Aufgabe der NATO erfüllt, entfiel die Notwendigkeit der massiven militärischen Präsenz der USA auf dem alten Kontinent.

Gleichwohl hatten die Europäer in den folgenden Jahren gute Gründe, darauf zu drängen, dass die Amerikaner da blieben, wo sie waren, vor allem auch in Deutschland, dass sich die USA also nicht etwa auf die andere Seite des Atlantik zurückzogen, wie sie das nach dem Ersten Weltkrieg getan hatten. Denn zum einen war 1991 nicht abzusehen, welche Konsequenzen das Verschwinden der Sowjetunion und ihres Imperiums haben würden. Auch führte die Auflösung Jugoslawiens den Europäern drastisch deren politische und militärische Ohnmacht bei der Beilegung heimischer Krisen und Kriege vor Augen. Nicht zuletzt aber galt die amerikanische Präsenz vielen als Garantie, dass die Vereinigung Deutschlands mit der Sicherheit des Kontinents kompatibel sein würde. Zehn Jahre später, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, waren diese Themen vom Tisch. So gesehen, wurden die USA in Europa nicht mehr gebraucht, jedenfalls nicht für die klassischen Aufgaben, wie die NATO sie für sich definiert hatte.

Folgen hatte das für alle Beteiligten, in besonderem Maße aber für das vier Jahrzehnte lang geteilte Deutschland, dessen Schicksal wie das keines zweiten Landes die transatlantische Epoche und eben auch deren Ende reflektierte: Ohne diesen Schlussakt, ohne den Untergang der Sowjetunion, wäre die Überwindung der deutschen Teilung schwerlich vorstellbar gewesen. Damit aber entfiel zugleich, wenn nicht der einzige, so doch der eigentliche Grund für die bedingungslose Anlehnung an die Vor- und Garantiemacht des westlichen Bündnisses; und damit eröffnete sich, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik, zugleich die Möglichkeit, grundsätzlich souverän optieren, sich also für ein enges Zusammengehen mit den europäischen Partnern, allen voran mit Frankreich, entscheiden zu können, ohne sich zwischen allen Stühlen wiederzufinden.

Keine Frage, die deutsche Außenpolitik hatte endgültig zu den Gegebenheiten der neuen Weltordnung aufgeschlossen. Dass Teheran auf der deutschen Teilnahme bestand, als es um eine europäische Vermittlung im gefährlichen Streit Irans mit der Völkergemeinschaft und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) um sein Atomprogramm ging, ist bezeichnend. Niemand fand es ungewöhnlich, dass Außenminister Fischer Seite an Seite mit seinen französischen und britischen Amtskollegen de Villepin und Straw am 21. Oktober 2003 in der iranischen Hauptstadt die Führung des Landes zu Konzessionen, insbesondere zu umfassenden Kontrollen seines Atomprogramms, zu bewegen suchte. Ganz selbstverständlich nahm Deutschland inzwischen im Kreis der übrigen europäischen Großmächte die Rolle ein, die ihm als Folge der weltpolitischen Umbrüche seit 1991 zugefallen war.

Das setzte und setzt ein entsprechendes, dem politischen Gewicht angemessenes Selbstbewusstsein der politischen Akteure in Berlin voraus, und es gehört zu den bemerkenswerten Befunden der jüngsten Vergangenheit, dass niemand ernsthaft zu dem Schluss kam, Deutschland knüpfe damit an alte, verhängnisvolle, 1945 zu den Akten gelegte Traditionen an. Dass ihm anfänglich, während des Herbstes 2002, schwerwiegende handwerkliche Fehler unterliefen, ändert nichts daran, dass man in Berlin grundsätzlich nichts anderes tat, als vom Recht eines politisch souveränen, unter Partnern gleichrangigen Staates Gebrauch zu machen. Zudem konnte der Kanzler das Kapital der hohen Reputation einsetzten, die sich Deutschland in den voraufgegangenen Jahren mit seinen Auslandseinsätzen erworben hatte. Vor allem das Argument, dass sich Deutschland seit dem Kosovo-Krieg der internationalen, auch militärischen Verantwortung gestellt habe, mit Tausenden von Soldaten vor allem auf dem Balkan und in Afghanistan engagiert sei und sich dort oder am Horn von Afrika auch am Anti-Terror-Feldzug beteilige, wog schwer. Und es wurde selbstbewusst ins Feld geführt, vor allem gegen amerikanische Forderungen in der Irakfrage.

Dieser Logik konnte sich schließlich auch die dort immer stärker unter Druck geratende Bush-Administration nicht mehr entziehen, wie Außenminister Colin Powell Mitte September 2003 in der ARD zu Protokoll gab. So setzte sich jenseits des Atlantiks nicht nur die Einsicht in die Grenzen und Möglichkeiten des weltweiten deutschen Engagements, sondern auch die Erkenntnis durch, dass Gerhard Schröder und mit ihm die deutsche Außenpolitik nicht mehr hinter die eigentlich entscheidende Festlegung im Irakkonflikt zurückkonnten, wonach die deutsche Außenpolitik in Berlin gemacht werde und nicht etwa in Washington. Hinter dieses Faktum wird auch keine künftige Bundesregierung mehr zurückgehen können, ganz gleich, wer sie führt und auf welche Parteienkonstellation sie sich stützt.

Das festzustellen heißt nicht, den transatlantischen Beziehungen eine Absage zu erteilen. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten gibt es ohnehin keine vernünftige Alternative. Auch spricht einiges dafür, dass für die Vereinigten Staaten ein selbstbewusster, grundsätzlich zu eigenständigem Handeln fähiger europäischer Partner die zukunftsweisendere Option ist. Und in dem Maße, in dem das weltweite Krisen- und Konfliktpotential eher noch zunimmt, sollten beide Seiten ein beträchtliches Interesse daran haben, ihre außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit fortzusetzen, wenn nicht noch zu intensivieren - allerdings auf einer erneuerten Basis. Auf ihr müssen Europäer und Amerikaner, wenn auch derzeit nicht als militärisch gleichrangige, so doch als politisch, wirtschaftlich oder auch kulturell gleichwertige Partner verkehren - "auf gleicher Augenhöhe", wie Kanzler Schröder klarstellte. So gesehen gibt es im transatlantischen Verhältnis in der Tat "nicht zu viel Amerika", sondern "zu wenig Europa", kann der "Emanzipationsprozess" nur "mehr Europa" zum Ziel haben.

Europas Interessen

Für die deutsche Außenpolitik heißt das nichts anderes, als den dramatisch gewandelten weltpolitischen Konstellationen Rechnung zu tragen und sich, stärker noch als zuvor, in jene Tradition zu stellen, die dann doch die vertrautere ist: die europäische. Die Irakkrise und der Afghanistan-Einsatz haben den Klärungsbedarf dramatisch erhöht. Immerhin hat der Bundestag, jeweils mit sehr breiter Mehrheit, am 24. Oktober bzw. 14. November 2003 die Mandate für die Afghanistan-Schutztruppe Isaf und "Enduring Freedom" verlängert. Soweit diese Entscheidungen ohne enge Absprache mit den europäischen Partnern getroffen worden sind, überzeugen sie nicht. Wenn nämlich an den Hängen des Hindukusch oder in anderen Gegenden der Welt Deutschlands Sicherheit auf dem Prüfstand steht, dann zwangsläufig mit ihr auch diejenige Europas. Das verlangt schon die geopolitische Logik. Wenn man folglich zu der Ansicht kommt, dass das dortige Engagement im europäischen Interesse liegt, spricht alles dafür, es koordiniert, gegebenenfalls arbeitsteilig anzugehen. Der zeitlich und vom Umfang her begrenzte ESVP-Einsatz im Kongo während des Sommers 2003 - die "allererste europäische Operation außerhalb Europas" überhaupt, wie der französische Staatspräsident in Berlin erläuterte - hat angedeutet, wie es gehen kann. Was auch hier vermisst wurde, war eine klare Definition der Interessen, die Europa mit dieser Aktion verfolgte.

Das immer wieder strapazierte so genannte humanitäre Motiv überzeugt weder im Kongo, in Afghanistan noch im Irak. Humanitäre Hilfe wird gewiss auch in Zukunft gefordert sein - bei Erdbeben, Flutkatastrophen oder Hungersnöten. Das gilt auch für die deutschen Streitkräfte, die hier immer wieder im Rahmen internationaler Aktionen tätig geworden sind. Die laufenden Einsätze der Bundeswehr wie der übrigen europäischen Armeen haben indessen mit derartigen Hilfsaktionen nichts oder doch nur wenig zu tun. Hier geht es um massive militärische Interventionen und das heißt auch um Stellungnahme in Kriegen, Bürgerkriegen, ethnischen Konflikten oder anderen Auseinandersetzungen - ob man das will oder nicht.

Um so dringlicher sind überzeugende Antworten auf die eigentlich entscheidende Frage: Wann, mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen, gegebenenfalls auch mit welchen Verbündeten will Europa in welchen Regionen einschreiten, um für seine eigene Hemisphäre Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern? Es war ja richtig und konsequent, dass sich Deutschland, Frankreich und andere unter den gegebenen Bedingungen im Irak militärisch bedeckt hielten. Aber reicht das? Welche Alternativen zu einer fragwürdigen Politik der USA in der Dritten Welt im Allgemeinen, im Irak im Besonderen haben die Europäer anzubieten, um diesen Ländern Perspektiven zu eröffnen, die sie zu verlässlichen Partnern beispielsweise bei der für Europa lebenswichtigen Energiepolitik werden lassen?

Bei der Formulierung der Antworten auf solche Fragen ist Deutschland wie kein anderes Mitglied der Europäischen Union gefordert - schon wegen seines offenkundigen politischen Gewichts, aber auch wegen seines militärischen Engagements: Nach wie vor stellt die Bundesrepublik weltweit eines der größten Truppenkontingente bei Friedensmissionen im Ausland. Und was die im Aufbau befindliche Europäische Eingreiftruppe betrifft, so sollen im Falle ihres Einsatzes bis zur Hälfte der Soldaten, immerhin 30 000 Mann, durch die Bundeswehr gestellt werden. Weiteres kommt hinzu, vor allem die historisch begründete enorme Reputation Deutschlands in der Dritten Welt, in der auch in Zukunft die meisten Kräfte gebunden sein werden.

Nicht zuletzt aber hat die Bundesrepublik in der Zeit des Ost-West-Konflikts jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Souveränitätsverzicht gesammelt. Im Falle der Europäischen Gemeinschaften war die eingeschränkte Souveränität ein stets einkalkuliertes Element des Integrationsprozesses; im Übrigen gab es keine Wahl: Mehr als vier Jahrzehnte lang stand die deutsche Außenpolitik unter alliierten Vorbehalten. Es gibt keinen vergleichbaren Fall. Was damals Ausdruck mangelnder Gleichrangigkeit war, verschafft heute Unabhängigkeit und sorgt so für politisches Gewicht. Es mag ein Versäumnis gewesen sein, dass die Bundesregierungen seit der Vereinigung auf die Formulierung nationaler Interessen verzichtet haben. Im Lichte der jüngsten Entwicklungen waren sie damit, wohl ungewollt, ihrer Zeit voraus, und so ist Deutschland zu Beginn des neuen Jahrhunderts, da die alte Weltordnung nach einem Jahrzehnt des Übergangs endgültig liquidiert ist, da es um die Definition transnationaler eigenständiger europäischer Sicherheitsinteressen geht, in der Lage und in der Pflicht, daran aktiv mitzuwirken. Seit der Vereinigung hat Deutschland das politische Gewicht für diese Rolle, seit der Irakkrise auch das Selbstbewusstsein, sie mit Augenmaß auszufüllen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dazu im Einzelnen: Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003.

  2. Günther Nonnenmacher, Schadensfälle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 3. 3. 2003.

  3. Der Spiegel, Nr. 13 vom 24. 3. 2003: "Du mußt das hochziehen."

  4. Joschka Fischer im Interview, in: FAZ vom 17. 3. 2003.

  5. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2002.

  6. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Wahlkampfauftakt am 5. 8. 2002 in Hannover (http://www.spd.de).

  7. Zit. in: Der Spiegel (Anm. 3).

  8. Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages (im folgenden: Sten. Ber.), 53. Sitzung, 13. 9. 2003.

  9. Sten. Ber., 32. Sitzung, 14. 3. 2003.

  10. Vgl. Jacques Chirac im Interview, in: The New York Times vom 22. 9. 2003.

  11. Vereinte Nationen, Sicherheitsrat: S/2003/15 vom 7. 3. 2003.

  12. Bundesverfassungsgericht, 2 BvQ 18/03 vom 25. 3. 2003.

  13. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 30 - 1 vom 3. 4. 2003.

  14. Ministère des Affaires Etrangères, Point de presse conjoint de MM. de Villepin, Ivanov et Fischer vom 4. April 2003.

  15. Den Motor wieder anlassen, in: FAZ vom 21. 1. 2003.

  16. Johannes Rau, Gemeinsam handeln. Deutschlands Verantwortung in der Welt ("Berliner Rede"), in: Bulletin, Nr. 41 - 1 vom 19. 5. 2003.

  17. Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003, S. 62.

  18. Vgl. Washington besorgt über EU-Verteidigung, in: FAZ vom 21. 10. 2003.

  19. Schröder: Keine weiteren Angebote, in: FAZ vom 22. 9. 2003.

  20. Vgl. dazu Gregor Schöllgen, Das Ende der transatlantischen Epoche, in: FAZ vom 27. 8. 2003.

  21. Vgl. Treffen Schröders mit Bush gilt als sicher, in: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. 9. 2003.

  22. Gerhard Schröder im Interview, in: Der Spiegel, Nr. 17 vom 19. 4. 2003.

  23. Ders. im Interview, in: Die Zeit vom 27. 3. 2003.

  24. Vgl. dazu auch Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003.

  25. Vgl. Chirac dankt Berlin für "bescheidenen" Kongo-Beitrag, in: FAZ vom 11. 6. 2003.

  26. Vgl. dazu Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 20043.

Dr. phil., geb. 1952; seit 1985 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen; Gastprofessuren in New York, Oxford und London.
Anschrift: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Geschichte, Kochstraße 4/12, 91054 Erlangen.
E-Mail: E-Mail Link: grschoel@phil.uni-erlangen.de

Veröffentlichungen u.a.: Willy Brandt. Die Biographie, München 20036; Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003; Ulrich von Hassell 1881 - 1944. Ein Konservativer in der Opposition, München 20042; Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 20043.