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Deutschlands Eliten zwischen Kontinuität und Wandel | Eliten in Deutschland | bpb.de

Eliten in Deutschland Editorial Elite Deutschlands Eliten zwischen Kontinuität und Wandel Eliten in Deutschland Rekrutierung von weiblichen Eliten Hochbegabtenförderung und Elitenbildung

Deutschlands Eliten zwischen Kontinuität und Wandel Empirische Befunde zu Rekrutierungswegen, Karrierepfaden und Kommunikationsmustern

Viktoria Kaina

/ 16 Minuten zu lesen

Trotz sozialer Öffnungsmechanismen bestehen weiterhin privilegierte Zugangschancen zu Elitepositionen. Neu ist, dass Eliten aus intermediären Organisationen an Einfluss verloren und Bürokratieeliten an Einfluss gewonnen haben.

Begriffsverwirrungen

Unter dem Eindruck gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse scheint das Interesse an den Eliten der Bundesrepublik neu entfacht. Das belegt nicht nur eine Vielzahl fachwissenschaftlicher Publikationen. Auch die öffentliche Aufmerksamkeit zeigt sich angesichts von "Pisa-Schock", anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und permanenten Haushaltsproblemen sowie wachsender politischer Unzufriedenheit bei gleichzeitigem Reformdruck für das Elitenthema sensibilisiert. Dennoch halten vor allem in Deutschland Unbehagen, Irritationen und Missverständnisse um den Elitenbegriff aufgrund seiner historischen Vorbelastung bis heute an. Darüber hinaus konkurrieren unterschiedliche Vorstellungen von Eliten -je nach zu Grunde gelegter Begriffsdefinition - miteinander und gegen zahlreiche Alternativbegriffe.

Die allgemeinste Vorstellung von Eliten zielt auf Minderheiten von Personen, die sich in einem Prozess der Auslese und Konkurrenz herausgebildet haben, der ihre herausgehobene Stellung in der Gesellschaft zugleich rechtfertigt und begründet. Doch obwohl sich die frühesten Zeugnisse eines derart einfachen Elitenbegriffs anhand der Bibel auf die Zeit vor 3000 Jahren datieren lassen, ist noch immer kein Konsens darüber gefunden, wer zu den Eliten einer Gesellschaft zählt und warum jemand zum Mitglied dieses Kreises wird. Dabei ist insbesondere umstritten, was eine Person zum Angehörigen einer Elite qualifiziert. Sind Leistung oder Erfolg maßgeblich, Reputation oder Selbstzuschreibung, Bildung oder Expertenwissen? Bestimmen Eigentum und Besitz, Herkunft und Stand darüber, wer zu den Eliten gehört? Möglicherweise ist auch ein bestimmtes Wertebewusstsein das zentrale Merkmal, auf dem der Elitestatus beruht. Oder sind es die Mächtigen einer Gesellschaft, die jenen Personenkreis definieren, der als Elite bezeichnet wird?

Das Kriterium der Macht ist in erster Linie für politikwissenschaftliche Fragestellungen zentral, die sich mit dem Elitenproblem im Kontext von Herrschaft, Konflikt und Konsens beschäftigen und an der Rolle von Eliten in politischen Willensbildungsprozessen interessiert sind. Dabei wird den Mächtigen einer demokratischen Gesellschaft die Funktion zugeschrieben, politische Führungs- und Steuerungsleistungen wahrzunehmen.

Die vor diesem Hintergrund auch als Funktionseliten etikettierten Mitglieder einer Führungsschicht sind in Demokratien in der Regel diejenigen Personen, die in allen relevanten Gesellschaftssektoren Führungspositionen innehaben, von wo aus sie regelmäßig und maßgeblich an zentralen Entscheidungsprozessen mitwirken. Die daher auch als Positionseliten bezeichneten Führungskräfte besitzen entweder politische Macht, indem sie allgemein verbindliche Entscheidungen treffen. Dieses Recht steht in freiheitlichen Ordnungssystemen nur den über demokratische Wahlen legitimierten politischen Eliten zu. Oder sie üben Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse aus, indem sie mit Hilfe bestimmter Ressourcen wie ökonomisches Kapital, Informationen oder Organisationskraft gesellschaftliche Macht erzeugen.

Der friedliche und freie Wettbewerb unterschiedlicher Führungsgruppen - etwa aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Interessenorganisationen und Massenmedien - um Macht und Einfluss bildet somit die zentrale Annahme des pluralistischen Paradigmas der modernen, empirisch orientierten Elitenforschung. Vor allem politikwissenschaftliche Forschungsbeiträge über die Führungsschicht der Bundesrepublik basieren auf diesem theoretischen Zugang, der wesentlich von modernisierungstheoretischen Einsichten inspiriert wurde und auch den Ausgangspunkt des folgenden Beitrages bildet.

Forschungsfragen

Die Perspektive des Elitenpluralismus lag sowohl den Mannheimer Elitestudien von 1968, 1972 und 1981 als auch der Potsdamer Elitestudie von 1995 als forschungsleitendes Programm zu Grunde. Zugleich orientierte sich das Erkenntnisinteresse dieser groß angelegten Befragungen der deutschen Positionseliten an drei zentralen Fragestellungen der klassischen und modernen Elitenforschung:

1. Welche Rekrutierungsmerkmale und Karrierewege kennzeichnen die Mitglieder der deutschen Führungsschicht?

2. Wie lassen sich die Kontakt- und Kommunikationsmuster zwischen den Eliten charakterisieren?

3. In welchem Ausmaß teilen die deutschen Eliten demokratische Einstellungen und Wertorientierungen?

Während sich hinter der ersten Frage insbesondere das demokratietheoretische Postulat eines allgemein offenen Zugangs zu Elitepositionen verbirgt, versprechen Erkenntnisse über das Kommunikationsverhalten und die Kontaktnetzwerke der Führungskräfte zum einen Aufschluss über die Macht- und Einflussstruktur einer Gesellschaft. Zum anderen geben sie Hinweise auf das Kooperationspotenzial der Funktionseliten, das als eine Voraussetzung für erfolgreiche Koordinations- und Aushandlungsprozesse auf Eliteebene betrachtet wird. Antworten auf die dritte Frage sollen somit vor allem Schlussfolgerungen über das Ausmaß an einstellungszentrierter, horizontaler Elitenintegration erlauben. Gemeint ist damit das jeweilige Kooperationspotenzial der Positionseliten auf der Basis eines demokratischen Grundkonsenses und gemeinsam geteilter Werthaltungen. Zusätzliche Brisanz erhielten diese Erkenntnisperspektiven in der Potsdamer Elitestudie 1995. Mit der ersten umfassenden Untersuchung der nationalen Führungsschicht nach der deutschen Wiedervereinigung wurden auch Führungskräfte interviewt, die in der früheren DDR sozialisiert worden und zum Befragungszeitpunkt in Elitepositionen des vereinten Deutschlands aufgerückt waren.

Darüber hinaus dürfte in repräsentativen Demokratien, die sich über die freiwillige Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger legitimieren, das Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung von zusätzlichem Interesse sein. Dem wurde mit den Elitestudien von 1981 und 1995 Rechnung getragen, indem parallel zur jeweiligen Elitenbefragung eine repräsentative Bevölkerungsumfrage durchgeführt wurde, die einen Einstellungsvergleich zwischen den interviewten Eliten und dem deutschen Bevölkerungsquerschnitt erlaubt.

Im Folgenden sollen auf der Basis der Mannheimer und Potsdamer Elitestudien ausgewählte zentrale Befunde zu den Rekrutierungs- und Karrierewegen sowie dem Kommunikationsverhalten der deutschen Positionseliten präsentiert werden. Aufgrund eines je unterschiedlichen Studiendesigns ist allerdings kein systematischer Zeitvergleich möglich. Dennoch können einige Aussagen über Kontinuitäten und Veränderungen in der Zusammensetzung der deutschen Führungsschicht und ihrer Kommunikationsnetzwerke getroffen werden.

Zur Herkunft bundesdeutscher Eliten: Geschlossene Gesellschaft der sozial Privilegierten?

Erkenntnisse über die sozialen Merkmale von Führungskräften erlauben in erster Linie Antworten auf die Frage, wer sich hinter den Mitgliedern der deutschen Positionselite verbirgt. Demokratische Eliten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Rekrutierungsprozess zu den Machtpositionen der Gesellschaft offen ist und Chancengleichheit beim Zugang zu Elitepositionen besteht, was von normativer Bedeutung für die Legitimität von Elitenhandeln ist. Insofern reichen Befunde über die soziale Struktur der deutschen Führungsschicht über rein deskriptive Feststellungen hinaus. Dies gilt umso mehr, wennangenommen wird, dass sich die soziodemographische Homogenität der Eliten auch positiv auf die Effektivität der Elitenkommunikation auswirkt und damit ebenso die Voraussetzungen für die Kooperation der Elitemitglieder verbessert.

Obwohl die Zugangschancen zu Elitepositionen in der Bundesrepublik formal gesichert sind, stellt die Forschung relativ übereinstimmend nach wie vor vorhandene faktische Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher sozialer Herkunft fest. Danach haben Kinder aus den oberen Sozialschichten der Bundesrepublik - aus dem gehobenen Bürger- und Großbürgertum oder der unteren und oberen Dienstklasse - vergleichsweise bessere Chancen, eine Eliteposition zu erreichen als der Nachwuchs aus den breiten Mittelschichten.

Allerdings gelten diese Startvorteile nicht in allen Elitesektoren gleichermaßen. Während eine statushöhere soziale Herkunft vor allem die Aufstiegschancen in die Führungsetagen der deutschen Wirtschaft beeinflusst und sich auch positiv auf eine Karriere in Verwaltung und Bundeswehr auswirkt, weisen andere Elitesektoren wie Wissenschaft, Justiz, vor allem aber Gewerkschaften und Politik eine größere Rekrutierungsoffenheit auf. Letzteres ist ein aus demokratietheoretischer Sicht bemerkenswertes Ergebnis, wenn politischen Eliten per Wahlentscheid das Recht allgemein verbindlicher Entscheidungsfindung zugewiesen wird, die jedem Herrschaftsverhältnis konstitutiv zu Grunde liegt. Dennoch wäre es naiv, den enormen Einfluss von Wirtschaft und Verwaltung in komplexen demokratischen Systemen zu unterschätzen. Und es sind gerade diese Bereiche, in denen Karrierewege noch immer von sozialen Herkunftsmerkmalen der Führungskräfte beeinflusst werden.

Während dieser Befund relativ unstrittig ist, besteht jedoch erheblicher Dissens in der Frage, ob herkunftsbedingte Vorteile von Kindern der oberen Sozialschichten im Zeitverlauf abgenommen und stattdessen so genannte meritokratische, das heißt leistungsbezogene Auswahlkriterien an Bedeutung gewonnen haben. So stellt Michael Hartmann in seinen Untersuchungen in direkter Auseinandersetzung mit den Befunden der Potsdamer Elitestudie von 1995 fest, dass die soziale Herkunft nach wie vor die beruflichen Karriereaussichten der heutigen Eliten direkt beeinflusst und vor allem bei Führungspositionen in der Wirtschaft statt Öffnungs- sogar weitere Schließungstendenzen zu beobachten sind. Ein klassenspezifischer Habitus der "besseren Kreise" - so Hartmann - sei entscheidend dafür, dass Kinder aus dem gehobenen und dem Großbürgertum trotz gleicher Bildungsqualifikation schneller und erfolgreicher in der Wirtschaft Karriere machen als ihre Konkurrenten aus den breiten Mittelschichten.

Dem widersprechen die Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie. Zwar wird auch hier konstatiert, dass höhere soziale Statusgruppen in der deutschen Positionselite von 1995 mit Ausnahme der Gewerkschaften überproportional vertreten sind. Allerdings hätten sich im Vergleich zur Mannheimer Elitestudie von 1981 die Aufstiegschancen für Kinder aus der Nichtdienstklasse verbessert, sei die Rekrutierungsbasis für Elitepositionen in Deutschland insgesamt breiter und offener geworden. Dies sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass ein hoher formaler Bildungsabschluss die herkunftsbedingten Startnachteile von Kindern aus statusniederen Sozialgruppen teilweise kompensieren könne.

Diese widersprüchlichen Befunde, die wenigstens teilweise auch auf unterschiedliche Methoden der Datenerhebung zurückzuführen sind, dürften weitere Forschungsbemühungen anregen. Dies gilt umso mehr, als zwar nach Befunden der Potsdamer Elitestudie neben der sozialen Herkunft ein Hochschulabschluss den Elitenaufstieg begünstigt. Problematisch - und inzwischen auch von den Ergebnissen der Pisa-Studie bestätigt - sind jedoch schon weit vor dem Karrierebeginn ansetzende Selektionsprozesse, wonach in Deutschland die Bildungschancen einer Person stark von ihrer sozialen Herkunft beeinflusst werden und eingeschränkte Chancengleichheit kein Spezifikum der Elitenrekrutierung ist. Damit sind höhere Sozialschichten doppelt privilegiert, wenn es um den Zugang zu Elitepositionen geht: zum einen durch einen eigenständigen sozialen Herkunftseffekt auf ihre Aufstiegschancen, zum anderen aufgrund sozialer Schließungstendenzen im Bildungssystem, so dass Personen aus niederen Sozialschichten gar nicht erst die berufliche Ausgangsposition für einen späteren Sprung in die Führungsschicht erreichen.

Sieht man einmal von der statusorientierten sozialen Herkunft der Elitemitglieder ab, lassen sich anhand der Zahlen in Tabelle 1 (s. PDF-Version) weitere interessante soziodemographische Details berichten. Dazu gehört zum Ersten, dass sich das Durchschnittsalter der Elitemitglieder seit Ende der sechziger Jahre kaum verändert hat und im Schnitt bei 53 Jahren liegt. Allerdings variiert der Altersdurchschnitt erheblich in den unterschiedlichen Führungsgruppen. Nach den Daten aller vier Elitestudien sind Politik und Massenmedien die Elitesektoren mit dem jeweils geringsten Durchschnittsalter, Verwaltung, Wirtschaft und Wirtschaftsverbände diejenigen mit dem höchsten.

Darüber hinaus ist die Führungsschicht der Republik trotz Frauenbewegung und Chancengleichheitsgebot im Grundgesetz noch immer eine Männerdomäne. Zwar sind in der Gruppe der westdeutschen Eliten Mitte der neunziger Jahre immerhin fünf Mal so viele Frauen in Elitepositionen gelangt wie 27 Jahre zuvor. Doch noch immer sind Frauen extrem unterrepräsentiert und jene Zuwächse auf die jeweiligen Sektoren stark ungleich verteilt. Während weibliche Führungskräfte inzwischen überproportional häufig in der Politik zu finden sind (36 Prozent), weniger oft aber in der Verwaltung (12 Prozent), den Gewerkschaften (9 Prozent) und Massenmedien (8 Prozent) sowie im Kulturbereich (10 Prozent), bilden sie in Wirtschaft (1 Prozent) und Wirtschaftsverbänden (2 Prozent), in Wissenschaft (3 Prozent) und Militär (1 Prozent) noch immer absolute Ausnahmen. Insgesamt hat sich in Deutschland, abgesehen von der Politik, bezüglich der geringenAufstiegschancen für Frauen in die deutsche Positionselite seit nahezu 30 Jahren wenig bewegt.

Überwiegend Kontinuität zeigt sich auch bei der formalen Bildungsqualifikation der Positionseliten, wonach jeweils eine deutliche Mehrheit von ihnen über einen Hochschulabschluss verfügt, wobei es zwischen 1981 und 1995 noch einmal einen deutlichen Zuwachs gegeben hat. Dabei lässt sich jedoch zu keinem Zeitpunkt die Existenz milieubildender, fachspezifischer Eliteuniversitäten oder ein spezifischer Fächerkanon in den Werdegängen der deutschen Eliten nachweisen. Stetig zurückgegangen ist außerdem die konfessionelle Bindung der deutschen Führungskräfte, wenngleich noch immer drei Viertel von ihnen angeben, einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft anzugehören.

Letzteres ist der stärkste Kontrast zu den Eliten ostdeutscher Herkunft, von denen 1995 knapp 59 Prozent im Sektor Politik und 12 Prozent in den Massenmedien vertreten waren (vgl. Tabelle2: PDF-Version). Gemessen am ostdeutschen Bevölkerungsanteil sind Ostdeutsche mit einem Anteil von knapp 12 Prozent in der Führungsschicht des vereinten Deutschlands freilich unterrepräsentiert. Die Mehrheit von ihnen gibt an, keiner Religion anzugehören. Darüber hinaus sind die aus Ostdeutschland stammenden Führungskräfte im Durchschnitt sieben Jahre jünger als ihre westdeutschen Kollegen, und drei Mal so oft handelt essich um Frauen. Damit hat die deutsche Vereinigung, ohne die in der soziodemographischenZusammensetzung der deutschen Führungsschicht auch nach beinahe drei Jahrzehnten fast alles beim Alten geblieben wäre, deutliche Spuren hinterlassen.

Karrierepfade: lang, mühsam und abgeschottet

Ähnlich einschneidend wirkte sich die deutsche Einheit auf den Karriereverlauf ostdeutscher Führungskräfte aus. Im Vergleich zu den Elitemitgliedern westdeutscher Herkunft erreichten Ostdeutsche ihre Eliteposition nicht nur schneller, sondern waren zu diesem Zeitpunkt auch deutlich jünger, wenngleich sie 1995 in einigen Sektoren gar nicht (Justiz, Militär), in anderen kaum vertreten waren (Wirtschaft und Wirtschaftsverbände, Verwaltung und Wissenschaft) (vgl. Tabelle 2: PDF-Version).

Westdeutsche Führungskräfte waren in der Befragung von 1995 im Schnitt 49 Jahre alt, als sie in eine Eliteposition aufrückten, zwei Jahre älter als noch 1981. Im Vergleich dazu waren ostdeutsche Eliten durchschnittlich 44 Jahre alt und rund neun Jahre in ihrer jeweiligen Organisation tätig (Westdeutsche: 19 Jahre), bevor sie Mitglied der Führungsschicht wurden. Insgesamt gehörten fast drei Viertel der Westdeutschen ihrer Organisation bereits mehr als zehn Jahre (Ostdeutsche: 24 Prozent) und 48 Prozent mehr als 20 Jahre an, bevor sie eine Eliteposition einnahmen (Ostdeutsche: 16 Prozent). Darüber hinaus waren 70 Prozent der westdeutschen Eliten bereits länger als 15 Jahre in ihrem Sektor tätig (Ostdeutsche: 25 Prozent), 43 Prozent sogar länger als 25 Jahre, bevor sie in eine Eliteposition aufsteigen konnten. Im Vergleich dazu gehörten 1995 deutlich mehr als die Hälfte der ostdeutschen Führungskräfte (56 Prozent) erst seit maximal fünf Jahren zur deutschen Führungsschicht. Überdurchschnittlich lang sind die Karrierewege westdeutscher Führungskräfte vor allem in den Bereichen Militär, wo 91 Prozent der Eliten über eine mehr als 25-jährige Sektorerfahrung verfügten, sowie in der Wirtschaft (59 Prozent) und Wissenschaft (54 Prozent). Allerdings hat die deutsche Einheit offenbar auch für Westdeutsche einen Karriereschub ausgelöst. Denn 72 Prozent der 1995 befragten Eliten westdeutscher Herkunft besetzten ihre Eliteposition erst seit maximal fünf Jahren, Ostdeutsche gar zu 96 Prozent.

Davon abgesehen eint westdeutsche Führungskräfte jedoch die gemeinsame Erfahrung eines langsamen Aufstiegs, der aufgrund einer langwierigen sektor- und betriebsspezifischen Sozialisation und fortwährender Bewährungspflichten nicht nur eine ausgeprägte Spezialisierung innerhalb der Führungsschicht fördert; daran hat sich auch in den vergangenen 15 Jahren nicht viel geändert. Die relativ abgeschotteten Karrierewege der deutschen Eliten und die hohe Rekrutierungsautonomie der jeweiligen Elitesektoren fördern auch spezifische Sektorloyalitäten. Diese Konsequenzen der typischen Karrieremuster deutscher Führungskräfte erhöhen die Gefahr von Kommunikationsbarrieren zwischen den Führungsgruppen und könnten auf Dauer ihre Kooperationsfähigkeit untergraben, wenn Sektorloyalität und Spezialisierung die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen anderer gesellschaftlicher Bereiche verkümmern lassen.

Elitenkommunikation: Interessenorganisationen verlieren an Einfluss

Eine Annahme der Elitenforschung geht davon aus, dass eine möglichst große soziodemographische Homogenität der Mitglieder einer Führungsschicht sowie eine ähnliche Berufssozialisation die Voraussetzungen für die horizontale Integration der Eliten unter den Bedingungen einer wachsenden, auf Arbeitsteilung basierenden Komplexität moderner Gesellschaften verbessern. Die empirischen Elitestudien von 1981 und 1995 konnten jedoch nachweisen, dass zum einen die Karrieremuster bundesdeutscher Positionseliten und zum anderen eine nur geringe soziale Homogenität innerhalb der Führungsschicht eher dysfunktionale Wirkungen auf die Kooperationsfähigkeit der Eliten haben bzw. haben können.

Die institutionellen Strukturen der Bundesrepublik sind aber vergleichsweise umfassend auf konsens- und kooperationsorientiertes Verhalten der beteiligten Akteure angelegt, die sich in einem breiten Netz von Verhandlungssystemen gegenüberstehen. Dabei übernehmen Eliten sowohl interne, das heißt auf den jeweiligen Sektor und die eigene Organisation gerichtete Leitungs-, Entscheidungs- und Integrationsaufgaben als auch die Außenvertretung von Eigeninteressen gegenüber den Eliten anderer gesellschaftlicher Bereiche. Die Effektivität derartiger Arenen der Entscheidungsfindung stützt sich daher auf komplizierte Koordinations- und Interaktionsprozesse zwischen den Mitgliedern der Führungsschicht und ist eher mehr als weniger auf die Kooperationsbereitschaft zwischen den Führungsgruppen angewiesen. Es wurde bereits auf die Annahme hingewiesen, dass ausgebaute und funktionsfähige Kommunikationsnetzwerke zwischen den gesellschaftlichen Eliten dafür eine wichtige Voraussetzung bilden.

Ungeachtet ihrer geringen sozialen Kohäsion konnte für die bundesdeutsche Führungsschicht sowohl 1981 als auch 1995 ein dichtes Kommunikationsnetzwerk nachgewiesen werden, in dem Politikeliten die zentrale Position einnehmen. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Funktionsfähigkeit von Verhandlungssystemen wird in Deutschland damit als erfüllt angesehen.

Darüber hinaus zeigen die Daten der Potsdamer Elitestudie, dass Wirtschaft und Medien neben der Politik zusätzliche Säulen im Kommunikationszentrum bilden. Außerdem konnte festgestellt werden, dass politische Eliten auf Bundes- und Landesebene 1995 intensiver vernetzt waren als noch 14 Jahre zuvor. Allerdings haben in der zunehmenden Verflechtung von Bundes- und Landesebene die politischen Parteien zugunsten von Parlamentsfraktionen und Exekutive(n) an Bedeutung verloren. Eine im Vergleich zu 1981 geringere Rolle im Kommunikationsnetzwerk spielen auch Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände. Führungskräfte aus der Wirtschaft suchten hingegen stärker direkten, außerhalb von Verbandsmitgliedschaften initiierten Kontakt zur Ministerialbürokratie und zum Bundeskanzleramt.

Die abnehmende Einbindung intermediärer Organisationen in Kommunikationsprozesse auf Eliteebene entspricht anscheinend einem generellen gesellschaftlichen Trend. Danach wird gesellschaftliche Interessenvertretung durch Lobbyismus außerhalb traditioneller Verbandsstrukturen, die Professionalisierung des Lobbying und die Gründung von Nichtregierungsorganisationen (NGO) zunehmend spezialisiert, individualisiert und pluralisiert. Diese Entwicklung hält nicht nur zusätzliche Anforderungen an das Kooperationspotenzial der Führungsschicht bereit. Sie eröffnet auch neue Chancen für Nicht-Eliten, ihre direkten Einflussmöglichkeiten auf die politische Entscheidungsfindung zu erhöhen. Eine gehörige Portion Skepsis scheint hier dennoch angebracht.

Diese Skepsis beruht zum einen auf den nach wie vor aktuellen Befunden der politischen Partizipationsforschung, wonach politische Partizipationsbereitschaft eng an die sozioökonomische Ressourcenausstattung von Individuen geknüpft ist. Die Chancen politischer Einflussnahme sind daher zum einen auf Eliteebene in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Machtressourcen, die über Organisations- und Konfliktfähigkeit gesellschaftlicher Interessen maßgeblich entscheiden, ungleich verteilt. Zum anderen stützt sich jene Skepsis auf eine weitere Beobachtung bei der Analyse der Kommunikationsstrukturen im Rahmen der Potsdamer Elitestudie: Vom Bedeutungsverlust der traditionellen intermediären Großorganisationen, der Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, aber auch der politischen Parteien, haben weniger Organisationseliten der neuen sozialen Bewegungen profitiert. Vielmehr wird immer häufiger und direkter Kontakt zu Bürokratieeliten gesucht, so dass sich die Arena der Konsensfindung offenbar immer mehr von Parteiorganisationen und Verbänden weg in den administrativen Bereich der Gesetzesvorbereitung verlagert. Mit dieser Entwicklung könnte jedoch der Einfluss partikularer Interessen auf die politische Entscheidungsfindung weiter wachsen. Das ist demokratietheoretisch auch deshalb problematisch, weil die administrativen Zentren der Entscheidungsvorbereitung, die keiner direkten Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger unterliegen und somit auch funktional nicht auf gesellschaftliche Interessenvermittlung festgelegt sind, vor allem an Effizienzkriterien und Eigenrationalitäten orientiert sind.

Vor dem Hintergrund dieser Befunde lässt sich fragen, wie sich der Wandel im Bereich der Interessenvermittlung auf das Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung auswirkt. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung, die 1995 im Rahmen der Potsdamer Elitestudie durchgeführt wurde, deuten jedenfalls auf spezifische Benachteiligungsgefühle in der Struktur der Interessenvertretung im vereinten Deutschland hin. Ungefähr jeder Zweite in Ost- und etwa jeder Dritte in Westdeutschland ist der Meinung, dass Banken und Großunternehmen zu viel politischen Einfluss besitzen, während gleichzeitig ein zu geringer politischer Einfluss für die Wählerinnen und Wähler sowie für Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen beklagt wird. Solchen Repräsentationslücken sollte auch künftig besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil sie sich auf Dauer zu Legitimitätsdefiziten verdichten können und politischer Unzufriedenheit Nahrung geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z.B. die Übersicht bei Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 13; außerdem Klaus M. Kodalle (Hrsg.), Der Ruf nach Eliten, Würzburg 2000; Beate Krais (Hrsg.), An der Spitze, Konstanz 2001; Viktoria Kaina, Elitenvertrauen und Demokratie, Wiesbaden 2002; Stefan Hradil/Peter Imbusch (Hrsg.), Oberschichten - Eliten - Herrschende Klassen, Opladen 2003.

  2. Vgl. Wolfgang Schluchter, Der Elitebegriff als soziologische Kategorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 15 (1963), S. 233 - 256; Günter Endruweit, Elitebegriffe in den Sozialwissenschaften, in: Zeitschrift für Politik, 26 (1979), S. 30 - 46; Peter Imbusch, Konjunkturen, Probleme und Desiderata sozialwissenschaftlicher Elitenforschung, in: Stefan Hradil/ders. (Anm. 1).

  3. Vgl. Heinz Bude, Auf der Suche nach Elite, in: Kursbuch, (2000) 139, S. 9 - 16, hier S. 10.

  4. Vgl. G. Endruweit (Anm. 2), S. 32.

  5. Vgl. u.a. Otto Stammer, Das Eliteproblem in der Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, 71 (1951), S. 513 - 540; Suzanne Keller, Beyond the Ruling Class. Strategic Elites in Modern Society, New York 1963; Ursula Hoffmann-Lange, Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik, Opladen 1992; Wilhelm Bürklin/Hilke Rebenstorf u.a. (Hrsg.), Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration, Opladen 1997.

  6. Vgl. O. Stammer, ebd., S. 15; Dietrich Herzog, Brauchen wir eine politische Klasse?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1991, S. 3 - 13; Hans-Dieter Klingemann/ Richard Stöss/Bernhard Wessels, Politische Klasse und politische Institutionen, in: dies. (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991, hier S. 24.

  7. Vgl. z.B. U. Hoffmann-Lange (Anm. 5), S. 19; Wilhelm Bürklin, Die Potsdamer Elitestudie von 1995: Problemstellungen und wissenschaftliches Programm, in: ders./H. Rebenstorf (Anm. 5), S. 16; M. Hartmann (Anm. 1), S. 25. Aktuelle Eliten werden danach mit Hilfe eines mehrstufigen Verfahrens über zuvor bestimmte, zentrale Führungspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen ermittelt. Ausführlicher zu dieser Identifizierungsmethode von Elitemitgliedern U. Hoffmann-Lange (Anm. 5), S. 86 - 90.

  8. Vgl. dies., Das pluralistische Paradigma der Elitenforschung, in: S. Hradil/P. Imbusch (Anm. 1); dies., Eliten, in: Ludger Helms/Uwe Jun (Hrsg.), Politische Theorie und Regierungslehre, Frankfurt/M.-New York 2004 (i.E.).

  9. Vgl. dies., Das pluralistische Paradigma, ebd., S. 111ff.

  10. Für einen Überblick über die Elitenforschung in Deutschland vgl. Ursula Hoffmann-Lange, Elite Research in Germany, in: International Review of Sociology, 11 (2001) 2, S. 201 - 216.

  11. Vgl. Martina Sauer, Gesellschaftliche Steuerungschancen durch Elitenintegration?, Opladen 2000.

  12. Vgl. Christian Welzel, Demokratischer Elitenwandel, Opladen 1997; Viktoria Kaina/Martina Sauer, Ostdeutsche Eliten und gesamtdeutsche Führungsschicht im gesellschaftlichen Integrationsprozess, in: Peter Hübner (Hrsg.), Eliten im Sozialismus, Köln u.a. 1999.

  13. Vgl. U. Hoffmann-Lange (Anm. 5); V. Kaina (Anm. 1).

  14. Vgl. Kai-Uwe Schnapp, Soziodemographische Merkmale der bundesdeutschen Eliten, in: W. Bürklin/H. Rebenstorf (Anm. 5), hier S. 101f.

  15. Vgl. ebd.; ders., Soziale Zusammensetzung von Elite und Bevölkerung - Verteilung von Aufstiegschancen in die Elite im Zeitvergleich, in: ebd., S.76 ff.; U. Hoffmann-Lange (Anm. 5), S. 118 ff.; M. Hartmann (Anm. 1). Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Michael Hartmann in dieser Ausgabe.

  16. Vgl. K.-U. Schnapp (Anm. 15), S. 76 ff.; M. Hartmann (Anm. 1).

  17. Vgl. M. Hartmann (Anm. 1), S. 77, 80.

  18. Vgl. ebd., S. 70, 131, 151.

  19. Vgl. K.-U. Schnapp (Anm. 15), S. 80, 90ff.

  20. Vgl. ebd., S. 76 f., 98; Hilke Rebenstorf, Integration und Segmentation der Führungsschicht - Stratifikationstheoretische Determinanten, in: W. Bürklin/dies. (Anm. 5), S. 144.

  21. Vgl. K.-U. Schnapp (Anm. 15), S. 98.

  22. Vgl. ebd., S. 88, 92.

  23. Vgl. ebd., S. 87.

  24. Vgl. ebd., S. 94.

  25. Vgl. auch Ursula Hoffmann-Lange/Wilhelm Bürklin, Generationswandel in der (west)deutschen Elite, in: Wolfgang Glatzer/Ilona Ostner (Hrsg.), Deutschland im Wandel, Opladen 1999.

  26. Vgl. K.-U. Schnapp (Anm.15), S. 113.

  27. Vgl. Jörg Machatzke, Die Potsdamer Elitestudie - Positionsauswahl und Ausschöpfung, in: W. Bürklin/H. Rebenstorf (Anm. 5), S. 67.

  28. Vgl. ebd.

  29. Vgl. U. Hoffmann-Lange (Anm. 5), S. 145.

  30. Vgl. H. Rebenstorf (Anm. 20), S. 186, 195.

  31. Vgl. ebd., S. 195.

  32. Vgl. z.B. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.

  33. Vgl. M. Sauer (Anm. 11), S. 44.

  34. Vgl. ebd.

  35. Vgl. ebd., S. 125; U. Hoffmann-Lange (Anm. 5), S. 403.

  36. Vgl. M. Sauer (Anm. 11), S. 160.

  37. Vgl. ebd., S. 201, 209.

  38. Vgl. ebd., S. 147, 200, 209.

  39. Vgl. ebd., S. 205.

  40. Vgl. Thomas von Winter, Vom Korporatismus zum Lobbyismus. Forschungsstand und politische Realität, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 16 (2003) 3, S. 37 - 44.

  41. Vgl. Samuel H. Barnes/Max Kaase u.a., Political Action, Beverly Hills-London 1979; Sidney Verba/Kay Lehman Schlozman/Henry E. Brady, Voice and Equality, Cambridge 1995.

  42. Vgl. Ulrich von Alemann, Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, Opladen 19892, S. 45.

  43. Vgl. M. Sauer (Anm. 11), S. 287.

  44. Vgl. Viktoria Kaina, Machtpotenziale im vereinten Deutschland - Prinzip der Volkssouveränität in Gefahr?, Potsdamer Analysen - Politik in Theorie und Empirie, Universität Potsdam 2001.

Dr. rer. pol., geb. 1969; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Professur Regierungssystem der BRD/Innenpolitik.
Anschrift: Universität Potsdam, August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam.
E-Mail: E-Mail Link: kaina@rz.uni-potsdam.de

Veröffentlichungen u.a.: Elitenvertrauen und Demokratie. Zur Akzeptanz gesellschaftlicher Führungskräfte im vereinten Deutschland, Wiesbaden 2002; Direkte Demokratie als Ausweg? - Repräsentativverfassung und Reformforderungen im Meinungsbild von Politikeliten und Bevölkerung, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 12 (2002).