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New Labour und die britische Außenpolitik | Großbritannien | bpb.de

Großbritannien Editorial Maggies Zehn Gebote - Essay New Labour und die britische Außenpolitik Großbritannien nach der Unterhauswahl Deutsche und Briten seit 1990 Großbritannien nach der Devolution "Ende der Geschichte" in Nordirland?

New Labour und die britische Außenpolitik

Adrian Hyde-Price

/ 19 Minuten zu lesen

Mit geschicktem Agieren beim Gipfeltreffen der G-8-Staaten, in der Krise der EU und angesichts der Terrorangriffe vom 7. Juli 2005 ist es Blair gelungen, sein politisches Ansehen wieder zu stärken.

Einleitung

Der frühere konservative Premierminister und Tory-Grandseigneur Harold Macmillan hat - in der typischen Manier eines Patriziers - einmal gesagt, dass ein Politiker nur eines zu fürchten habe: "Ereignisse, mein Guter, Ereignisse". Und "Ereignisse" haben den Kurs der britischen Außenpolitik unter der Regierung von Premierminister Tony Blair in den zurückliegenden Jahren mit Sicherheit hin und her geworfen. Im Mai 1997 mit dem größten Erdrutschsieg seit 1945 ins Amt gewählt, hatte sich seine New Labour-Regierung einer "ethischen" Außenpolitik verschrieben. Außerdem sollte das Vereinigte Königreich ins "Herz Europas" rücken. "Ereignisse" aber haben sich dagegen verschworen und durchkreuzten diesen lobenswerten Ehrgeiz.

Angesichts der Kompromisse und moralischen Grauzonen, die zum Alltag der Wirklichkeit eines anarchischen internationalen Systems gehören, sollte sich der hohe moralische Anspruch einer "ethischen Außenpolitik" nur schwer aufrechterhalten lassen. Kritiker haben auf die umfangreichen Waffenverkäufe Großbritanniens und sein eifriges Handelswerben um Regime mit einem zweifelhaften Ruf in Sachen Menschenrechte verwiesen - insbesondere Saudi-Arabien, China und Indonesien. Für eine Partei, die traditionell eine Heimstatt für die pazifistische und dem appeasement verhaftete Linke ist, ist es vielleicht noch bemerkenswerter, dass die Regierung sich bald in eine Reihe von Kriegen und Militärinterventionen verwickelt fand: Luftschläge gegen den Irak 1998, die Operation "Allied Force" im Kosovo 1999, die Intervention in Sierra Leone im Jahr 2000, der Regimewechsel Afghanistan 2001 und am Ende - und am umstrittensten - die Invasion im Irak 2003. In sechs Jahren setzte Tony Blair fünf Mal britische Truppen in Marsch, ein Rekord, mit dem sich kein anderer britischer Premierminister messen kann.

Als letzte Ironie stellte sich Blair, der pro-europäischste Premier seit dem jüngst verstorbenen Edward Heath, an die Seite eines höchst unpopulären US-Präsidenten, um einen Krieg im Irak zu führen, der weder im House of Commons noch in der Öffentlichkeit auf große Begeisterung stieß. Damit trug Blair zu einem tiefen Bruch in der europäischen Politik bei - einem Bruch zwischen denjenigen, die US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mit bezeichnender Stumpfheit als "altes" bzw. "neues" Europa bezeichnete. In der Folge fand Blair sich entfremdet von Frankreich und Deutschland, dem traditionellen (wenn auch selbst ernannten) Motor des europäischen Integrationsprozesses. Als es darauf ankam, entschied sich Blair, so schien es, für Amerika statt für Europa, für den Krieg anstatt für geduldige, multilaterale Diplomatie.

Die Wahl vom Mai 2005, bei der New Labour mit deutlich reduzierter Mehrheit wiedergewählt wurde, schien Blair in Autorität und Statur erheblich geschwächt zu haben. Dies gab Erwartungen Auftrieb, dass er gezwungen sein werde, das Amt schon bald an seinen bereits ausgerufenen Nachfolger, Schatzkanzler Gordon Brown, abzugeben. "Ereignisse" jedoch haben sich - wieder einmal - verschworen, um die Experten ins Unrecht zu setzen. Drei Geschehnisse vor allem haben das politische Schicksal Blairs positiv beeinflusst: der G-8-Gipfel und die Kampagne gegen die Armut in Afrika, die Referenden zur Verfassung der Europäischen Union (EU) in Frankreich und den Niederlanden und schließlich die Terrorangriffe von "7/07" (7. Juli 2005) in London.

Übersetzung aus dem Englischen: Susanne Laux, Königswinter.

Das G-8-Treffen und die EU-Verfassung

Die britische Präsidentschaft in der Gruppe der wichtigsten Industriestaaten (G 8) fand ihren Höhepunkt im Juni 2005 im Gipfeltreffen in Gleneagles bei Edinburgh. Die Führer der G-8-Staaten, die im luxuriösen Gleneagles Golf Club zusammentrafen, berieten unter anderem über das Klima-Abkommen von Kyoto, über Umweltfragen und den globalen Klimawandel. Im Mittelpunkt stand jedoch die Frage eines Schuldenerlasses für Afrika, den ärmsten Kontinent der Welt; dort befinden sich 18 der 20 ärmsten Staaten der Erde. Armut und Unterentwicklung dort waren seit langem Themen, mit denen Blair sich auseinander setzte. In einer Reihe von Reden war er bestrebt, die Aufmerksamkeit auf die trostlose Lage zu lenken, und rief die "Commission for Africa" ins Leben.

Dass er sich den vielfältigen und tief greifenden Armutsproblemen in Afrika zuwandte, spiegelt zweifellos Blairs tiefe christlich-religiöse Überzeugungen wider, diente nichtsdestotrotz aber auch pragmatischen Zielen. Das Thema Schuldenerlass ist wie für Blair maßgeschneidert: Er kann sich moralisch im Recht fühlen, und es kommt gut an bei der Basis von Labour, die links von der Mitte steht. Es gestattet ihm auch, sich der von der Kirche angeführten Kampagne "Make Poverty History" und weltbekannten Aktivisten wie Bob Geldof und dem U-2-Sänger Bono anzuschließen, und gleichzeitig dient das Thema den nationalen britischen Interessen in Afrika, besonders wirtschaftlicher und politischer Art, ein Erbe des Empire und des Commonwealth. Vor allem aber war der Schuldenerlass für Blair ein Thema, das ihm eine positive PR verschaffte; eines, das genutzt werden konnte, um die negative Publicity auszugleichen, die der Irak und der "War on Terror" bewirkt hatten. Zusammen mit den Debatten über den Klimawandel war es auch ein Politikfeld, mit dem sich Großbritannien ein wenig von den USA und der Bush-Regierung absetzen konnte.

Zwei weitere Ereignisse, die Blairs politisches Schicksal unerwartet begünstigten, waren die Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs in zwei Signatarstaaten der Römischen Verträge von 1957 löste eine heftige Krise in der EU aus und ließ Zweifel an der Zukunft des europäischen Integrationsprozesses aufkommen. Blair jedoch boten sich damit die Lösung eines kniffligen innenpolitischen Rätsels und neue Chancen zur Einflussnahme auf europäischer Ebene. Innenpolitisch gesehen hatten die Wähler in Frankreich und den Niederlanden Blair mit ihrem negativen Votum eine riskante Volksabstimmung über die Verfassung erspart. Angesichts des tiefen Euroskeptizismus der britischen Wähler hätte Blair ein Referendum über die EU-Verfassung nur schwer gewinnen können.

Positiver ausgedrückt eröffneten die Probleme bei der Ratifizierung der EU-Verfassung und die daraus folgende Krise dem Vereinigten Königreich die Gelegenheit, eine alternative Vision von der Zukunft des europäischen Integrationsprozesses vorzustellen. Politisch höchst geschickt entwickelte Blair rasch eine unverwechselbar britische Vision der EU. In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 23. Juni 2005 ritt er eine frontale Attacke gegen das französisch-deutsche "alte Denken" über Europa. Einer überregulierten und von Subventionen heimgesuchten EU, deren Inbegriff die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) darstellt und die eine hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Wachstum aufweist, stellte Blair die Vision eines dynamischen und flexiblen Europas entgegen, das in einer globalisierten Wirtschaft wettbewerbsfähig sein könne. Implizit gehörte dazu auch die Annahme, dass eine erweiterte Union mit 25 Mitgliedern nicht genügend Unterstützung für eine weitere supranationale Bündelung von Souveränität mobilisieren werde. Eine wichtige Folge der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden war mithin das Ende eines Kapitels in der Geschichte der EU, das von grandiosen und ehrgeizigen Plänen einer "immer engeren Union" gekennzeichnet war. Die fruchtlose Debatte, die der deutsche Außenminister Joschka Fischer im Jahr 2000 in seiner Rede vor der Humboldt-Universität in Berlin angestoßen hatte, war damit ebenfalls beendet.

Der politische Streit mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über die künftige Richtung des Integrationsprozesses, den Blair mit seiner Offensive ausgelöst hatte, schadete ihm politisch keineswegs; vielmehr stärkte er seinen Ruf als Premierminister, der bereit ist, für die nationalen Interessen Großbritanniens einzustehen. Sich Chirac als "Sparringspartner" auszusuchen, erwies sich zudem als gute Wahl. Frankreich ist seit langem das Land, das die Briten am liebsten hassen (im Allgemeinen auf humorvolle, neidische Art und Weise), und in einem Jahr, in dem Gedenkfeiern zum 190. Jahrestag der Schlacht von Waterloo und zum 200. Jahrestag der Schlacht von Trafalgar abgehalten wurden, konnte eine weithin beachtete politische Auseinandersetzung mit dem politischen Führer Frankreichs Blairs innenpolitisches Ansehen nur stärken. Auch im Wettstreit um die Austragung der Olympischen Spiele im Jahr 2012 war die anglo-französische Rivalität deutlich spürbar, und als am 6. Juli 2005 London den Sieg über Paris davontrug, schmeckte dieser doppelt süß - eine siegreiche Schlacht mehr im Wettkampf zweier alter Rivalen.

Die Regierung Blair und der Terror

Am folgenden Tag änderte sich die Stimmung jedoch dramatisch. Szenen ekstatischer Freude und der Jubel der Londoner, die den olympischen Erfolg feierten, wurden abgelöst von Entsetzen, Horror und Schock, als - ohne Vorwarnung - drei U-Bahnen und ein roter Londoner Doppeldecker-Bus im morgendlichen Berufsverkehr von Bomben zerfetzt wurden. Nach jahrzehntelanger Gewalt durch die IRA ist Terrorismus den Londonern nicht fremd. Auf die Angriffe wurde mit einem wohl organisierten Einsatz der Notfalldienste reagiert, die sich lange auf einen solchen Fall vorbereitet hatten. Auch hob die Berichterstattung in den Medien die für die Bewohner Londons charakteristische "Bulldoggen-Haltung" hervor; viele erinnerten sich selbstbewusst an den "Blitz" der frühen vierziger Jahre. Doch die Berichterstattung konnte die Furcht, den Schock und die Beklommenheit vieler Briten in und außerhalb der Hauptstadt nicht verbergen. Schock und Empörung verstärkten sich noch, als sich herausstellte, dass die Terrorangriffe das Werk von in Großbritannien geborenen, Cricket liebenden Muslimen aus Leeds waren.

Wieder einmal lag Blair mit seinen politischen Instinkten goldrichtig. Er verließ das Gipfeltreffen, um nach London zu fliegen, und konnte bei seiner Rückkehr die uneingeschränkte internationale Sympathie und Solidarität der G 8 entgegennehmen. Anders als in Spanien, wo noch schlimmere terroristische Anschläge in Madrid im März 2004 zum Regierungswechsel und zum Rückzug der spanischen Soldaten aus dem Irak geführt hatten (sehr zur Freude von Al-Qaida), waren die Auswirkungen der Terrorangriffe auf die britische Außenpolitik minimal.

Natürlich gab es Versuche, die Angriffe vom 7. Juli mit dem Irak in Verbindung zu bringen; Saddam Husseins früherer politischer Verbündeter, der Parlamentsabgeordnete George Galloway beispielsweise, hielt eine besonders geschmacklose Rede, in der er den Irak-Krieg unmittelbar für die Selbstmordattentate verantwortlich machte. Alles in allem aber erkannten die meisten Menschen, dass der islamistische Terror vor den Irak-Krieg und selbst vor die Terrorangriffe vom 11. September 2001 zurückreicht und dass die "Gotteskrieger" keine rationalen, politisch verhandelbaren Ziele verfolgen. Ihr Ziel lautet nicht nur "Briten raus aus dem Irak" (in Abwandlung des alten IRA-Slogans), sondern sie verfolgen vielmehr die Transformation des gesamten Nahen Ostens, den globalen Jihad und die Restauration des Kalifats. Die Wurzeln des islamistischen Terrors liegen nicht in der britischen Entscheidung, die US-Regierung beim Sturz des Saddam-Regimes zu unterstützen, sondern in einem weit verbreiteten und lähmenden Gefühl, eine "Opferrolle" einzunehmen. Dieses ist von islamischen Führern und arabischen Medien eifrig gefördert worden und führte zu bizarren Gleichsetzungen des "Leidens des palästinensischen Volkes" mit dem Holocaust.

In der Konfrontation mit dem im eigenen Land herangereiften Terrorismus sieht sich die britische Regierung vor einem schwierigen Balanceakt. Einerseits muss sie versuchen, die geheimdienstlichen und polizeilichen Operationen gegen mögliche Terroristen und deren Unterstützer auszuweiten und fundamentalistische Gotteskrieger mit ihren Predigten voller Hass und Intoleranz zu zügeln - von denen viele im liberal-demokratischen Großbritannien Asyl vor ihren eigenen autokratischen Regierungen in Nordafrika und dem Nahen Osten gesucht haben. Andererseits muss sie versuchen, die Beziehungen zu den indigenen islamischen Gemeinden aufrechtzuerhalten und zu verbessern sowie den Einfluss moderater Muslimführer und Gemeindevorsteher zu stärken. Oft sind diese beiden Ziele schwer in Einklang zu bringen, da eine vorbeugende Überwachung von der islamischen Gemeinde als aufdringlich empfunden werden kann. Unglücklicherweise ist das öffentliche Vertrauen in die Fähigkeit der Polizei und der Geheimdienste, eine strenge Überwachung mit der nötigen Sensibilität für die Bürgerrechte und für die Beziehungen zu den Gemeinden zu verbinden, durch die tragische Tötung eines jungen brasilianischen Elektrikers in einem stümperhaft ausgeführten Anti-Terror-Einsatz Ende Juli erheblich erschüttert worden.

Im Hinblick auf die Außenpolitik dienten die Terrorangriffe als Argument dafür, zentrale, langfristige Ziele noch energischer zu verfolgen: die fortgesetzte Unterstützung des War on Terror; den Einsatz für einen gerechten und stabilen Frieden im israelisch-palästinensischen Konflikt, der auf einer Zwei-Staaten-Lösung beruht, wie sie in der vom Nahost-Quartett ausgearbeiteten "Road Map" aufgezeigt wurde; sowie auf lange Sicht die Ermutigung zur Liberalisierung der Politik und der Wirtschaft im "Greater Middle East". Nur indem die Lösung grundlegender Probleme wie Autokratie, wirtschaftliche Stagnation, mangelnde Bildung, Diskriminierung von Frauen und fehlende politische Teilhabe angegangen wird, so wird argumentiert, können jene Bedingungen ausgerottet werden, die einen fruchtbaren Nährboden schaffen, auf dem der Jihadismus wachsen und gedeihen kann.

Über den Einfluss von Zwängen und Zufälligkeiten

"Ereignisse", schrieb der französische Historiker Fernand Braudel in seiner meisterhaften Arbeit über das Mittelmeer, "sind die Eintagsfliegen der Geschichte; sie flattern über deren Bühne wie Leuchtkäfer, bevor sie, kaum gesehen, wieder in der Dunkelheit verschwinden und oft genug auch in der Vergessenheit." Trotz der Zufälligkeit von Ereignissen und trotz der sich wandelnden politischen Zusammensetzung der Regierung hat die britische Außen- und Sicherheitspolitik in den zurückliegenden Jahren eine bemerkenswerte Kontinuität gezeigt. Ideologien der Parteien und Manifestationen der Wähler haben sich als schlechte Ratgeber für außenpolitisches Verhalten erwiesen. Die Realistische Schule in der internationalen politischen Theorie erklärt dies damit, dass die Antriebskräfte der britischen Außenpolitik nicht in innenpolitischen Manövern oder im Reich der Ideen liegen, sondern in den wesentlichen Zwängen, die von der Struktur des internationalen Systems ausgehen. Diese Systemzwänge "formen und forcieren" das Verhalten aller Staaten, obwohl diese - abhängig von Qualität und Geschick ihrer politischen Führung - unterschiedlich auf sie reagieren.

Im Falle Großbritanniens sind die fundamentalen nationalen Interessen durch die Tatsache vorgegeben, dass das Land eine europäische Großmacht ist, die als Insel jedoch physisch vom Kontinent getrennt ist. Folglich ist Großbritannien ein Teil Europas, aber es liegt nicht "mittendrin". Seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Vereinigte Königreich drei Hauptziele verfolgt. Als Inselnation mit einer entwickelten industriellen Wirtschaft hat es erstens ein Interesse an einem offenen Welthandelssystem. Als europäisches Land (oder wenigstens als Land, das dem europäischen Kontinent geographisch nahe liegt) hat es zweitens ein Interesse daran, ein Machtgleichgewicht auf dem Kontinent sicherzustellen und daran, dass kein Staat oder keine Staatengruppe in der Lage ist, europäische Angelegenheiten ohne Berücksichtigung der britischen Interessen zu regeln. Drittens schließlich ist das Vereinigte Königreich der Überzeugung, dass seiner Macht und seinem Einfluss in der internationalen Politik am besten mit einer engen strategischen Partnerschaft - einer special relationship - mit den USA gedient ist.

Während des Kalten Krieges waren die außenpolitischen Optionen Großbritanniens eng begrenzt durch die bipolare Struktur des internationalen Systems. Großbritannien arbeitete eng mit den amerikanischen und den westdeutschen Regierungen zusammen, um ein offenes Welthandelssystem aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig war man bestrebt, ein dauerhaftes Engagement der USA in Europa zu sichern (institutionalisiert in der NATO), um das Machtgleichgewicht auf dem Kontinent zu erhalten. Angesichts der Teilung Europas bemühte sich Großbritannien, sich im Zentrum der transatlantischen Allianz zu positionieren und fast buchstäblich als "Brücke" zwischen Europa und Amerika zu fungieren. Daneben versuchte das Vereinigte Königreich mit verschiedenen Mitteln, den Einfluss in Westeuropa zu stärken - eine Strategie, die 1973 im Beitritt zurEuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gipfelte. Fortan jedoch sollte sich Großbritannien als "schwieriger Partner" erweisen, was seine ambivalente Haltung gegenüber den Angelegenheiten Kontinentaleuropas und sein Bestreben widerspiegelt, die special relationship zu den USA zu pflegen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges lösten sich viele der komfortablen Sicherheiten der britischen Außen- und Sicherheitspolitik in Luft auf. Die Zwänge der Bipolarität waren abgeschüttelt worden, und Großbritannien fand sich in einem internationalen Umfeld wieder, das sehr viel fließender, dynamischer und unsicherer war. Der Ost-West-Konflikt ist verschwunden, und mit ihm die Furcht vor einem atomaren Armageddon. Die internationale Politik aber bleibt auch weiterhin ein anarchisches Reich der Rivalitäten und weit verbreiteter Unsicherheit. Großbritannien sieht sich heute zwei unterschiedlichen Arten von Systemzwängen gegenüber: auf globaler Ebene einem unipolaren internationalen System, das durch die Vorrangstellung der USA gekennzeichnet ist, auf regionaler Ebene dem Entstehen eines Systems ausgewogener Multipolarität in Europa, das durch das Handeln fünf großer Mächte geprägt ist - Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Russlands und der USA.

Ohne potenziellen Hegemon und ohne größere revisionistische Mächte erinnert diese ausgewogene Multipolarität an das frühe 19. Jahrhundert, als im Anschluss an die Napoleonischen Kriege ein "Konzert" europäischer Mächte entstand. Das Risiko eines größeren zwischenstaatlichen Krieges im zeitgenössischen Europa ist mit Sicherheit sehr gering. Folglich wird die Agenda der europäischen Sicherheit derzeit einerseits von Angelegenheiten beherrscht, die sich out of area befinden (atomare Weiterverbreitung, internationaler Terrorismus, zerfallende Staaten und regionale Konflikte), andererseits von einer Reihe vornehmlich nicht-militärischer Sicherheitsrisiken und Herausforderungen (grenzüberschreitende Kriminalität, Migration, Umweltverschmutzung). Der Wettlauf um mehr Sicherheit geht weiter (wie etwa in den Konflikten zwischen Russland und den Westmächten, die im Herbst 2004 die Präsidentschaftswahl in der Ukraine begleiteten), doch sind - vor dem Hintergrund der ausgewogenen Multipolarität - die Aussichten für eine Zusammenarbeit zwischen den europäischen Großmächten zur Lösung gemeinsamer Sicherheitsprobleme gut.

In diesem neuen, beweglicheren Rahmen einer ausgewogenen Multipolarität hat sich die britische Außenpolitik bemüht, gute Arbeitsbeziehungen zu den europäischen Mächten herzustellen. So hat Blair den russischen Präsidenten Wladimir Putin umworben, um stabile strategische und kommerzielle Beziehungen mit Russland aufzubauen - trotz der Gräueltaten im Tschetschenien-Krieg oder spürbarer Tendenzen in Richtung Autokratie (insbesondere nach der "September-Revolution" 2004, als Putin auf das von Terroristen verübte Massaker in der Schule von Beslan reagierte und mehr Macht in der Hand des Kreml konzentrierte). Bei der Osterweiterung der EU hat die britische Regierung eng mit Deutschland und anderen EU-Staaten zusammengearbeitet und auf gemeinsame Sicherheitsbedürfnisse reagiert, indem Stabilität auf die postkommunistischen Länder in Mittel- und Osteuropa ausgeweitet wurde. Mit Frankreich hat Großbritannien engere militärische Beziehungen aufgebaut; ein Prozess, der durch die Zusammenarbeit bei friedensunterstützenden Maßnahmen in den frühen neunziger Jahren in Bosnien erleichtert wurde und der im Dezember 1998 in der Vereinbarung von St. Malo gipfelte. Schließlich und endlich kooperiert Großbritannien als Teil der "Europäischen Drei" eng mit Frankreich und Deutschland bei den Verhandlungen mit dem Iran über dessen vermutetes Nuklearwaffenprogramm.

Und doch gibt es für dieses kooperative Engagement Großbritanniens mit seinen kontinentalen Nachbarn Grenzen. Große Mächte sorgen sich darum, wer den größten Nutzen aus gemeinsamen Unternehmungen zieht, und sind in der Regel nicht gewillt, die Kosten zur Bereitstellung internationaler "öffentlicher Güter" offen zu legen, von denen alle profitieren. Solche egoistischen Impulse wurden während der Haushaltskrise der EU im Sommer 2005 deutlich, in der bitterer Streit über den so genannten "Briten-Rabatt", den Strukturfonds und die Gemeinsame Agrarpolitik ausgefochten wurde. Argwöhnisch hegt die britische Regierung auch weiterhin den Verdacht eines deutsch-französischen Kondominiums in der EU, und sie würde - egal, was sie öffentlich äußern mag - ein beweglicheres Muster wechselnder Koalitionen innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses der EU bevorzugen. Gleichzeitig ist das britische Engagement in Europa - und sein Einsatz für einen "immer engeren Zusammenschluss" - begrenzt. Das Vereinigte Königreich steht außerhalb der Eurozone und wird dieser in absehbarer Zukunft wohl auch nicht beitreten; es hat sich weiterhin der special relationship mit den USA verschrieben, was unausweichlich seinen europäischen Ruf schwächt. Zudem kann Großbritannien nicht hoffen, als Antriebskraft des europäischen Integrationsprozesses jemals mit Frankreich und Deutschland konkurrieren zu können. Selbst wenn es sich aus ganzem Herzen hinter das "europäische Projekt" stellen würde, fände es sich wohl als Juniorpartner in einer wie auch immer gestalteten Dreiecksbeziehung wieder (mit Ausnahme der Zusammenarbeit im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich, wo es eine führende Rolle spielen könnte).

Dies bringt die Dilemmata der Außen- und Sicherheitspolitik, vor denen die Labour-Regierung in ihrer dritten Amtszeit steht, auf den Punkt: Wie kann eine Balance zwischen dem Engagement für Europa und der strategischen Partnerschaft mit den USA gefunden werden? Wie alle großen europäischen Mächte muss sich Großbritannien mit zwei gegensätzlichen Arten von Systemzwängen herumschlagen: mit der Vorrangstellung der USA in einer unipolaren Weltordnung auf der einen und mit der ausgewogenen Multipolarität in Europa auf der anderen Seite. Systemzwänge haben die zentrale politische Kluft in Europa bewirkt: die Teilung in Länder, die auf den "fahrenden Zug" der USA aufspringen wollen, und in Länder, die nach einer Balance in einer stärker multipolar ausgerichteten Weltordnung streben. Diese Spaltung in ein "altes" und in ein "neues" Europa trat in der politischen und diplomatischen Krise im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg offen zu Tage. Die Regierung Blair ist weiterhin der Auffassung, dass den nationalen Interessen Großbritanniens am besten mit einer engen strategischen Partnerschaft mit den USA gedient sei. Blairs Entscheidung, die Invasion des Irak zu unterstützen, war ebenso sehr - wenn nicht stärker - von dem Streben bestimmt, Solidarität gegenüber seinem Seniorpartner zu zeigen, wie von der Beunruhigung über Massenvernichtungswaffen oder Saddam Husseins Menschenrechtsverletzungen.

Während ein britisches Engagement zur Unterstützung des französisch-deutschen Projekts eines "immer engeren Zusammenschlusses" in Europa nicht auf der Tagesordnung steht, hat die britische Regierung feststellen müssen, dass die enge strategische Partnerschaft mit den USA nicht unproblematisch ist. Die Regierung Blair reagiert auf die Gefahren einer unipolaren Stellung der USA immer sensibler. Als einzige verbliebene Supermacht bewegen sich die USA in der Welt wie ein Koloss. Ihre gewaltige Wirtschaftskraft und ihre pulsierende Zivilgesellschaft legen das Fundament für ihre beeindruckenden militärischen Fähigkeiten; mit der größten und mächtigsten Marine der Welt, einem Netzwerk von Militärbasen rund um den Globus, ihrer Führungsrolle in der Militärtechnologie und ihren beträchtlichen Streitkräften bestimmen die USA die "Global Commons". Aber für Großbritannien wie für andere große Mächte lautet die Schlüsselfrage: Wie weise übt Amerika seine Macht aus? Ohne sich um eine rivalisierende Supermacht sorgen zu müssen, steht es den USA frei, nach Belieben zu intervenieren. "Ein harter Wettbewerb ordnet die Ideologie den Interessen unter", so Kenneth Waltz; "Staaten, die einen Vorsprung vor ihren engsten Wettbewerbern haben, werden dazu verleitet, geringeren Gefahren unangemessen viel Aufmerksamkeit zu schenken und nach außen Phantasievorstellungen zu hegen, die über die Erfüllung eng definierter Sicherheitsinteressen hinausreichen." Dies bewirkt eine gewisse Sprunghaftigkeit und Unwägbarkeit, die Amerikas Freunde und Verbündete tief beunruhigt.

Diese Sprunghaftigkeit legten die USA zum ersten Mal in den frühen neunziger Jahren an den Tag. Die europäischen Staaten waren höchst beunruhigt über das von Gewalt begleitete Auseinanderbrechen Jugoslawiens, doch ging die Aufmerksamkeit Washingtons in eine andere Richtung. Als die USA der sich abzeichnenden Tragödie auf dem Balkan ihre Aufmerksamkeit schenkten, stieß die lift-and-strike-Strategie (die Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien und die Durchführung von Luftschlägen gegen Serbien) auf erbitterten Widerstand der Briten und Franzosen, die dies als Risiko für ihre Friedenstruppen am Boden erachteten. Amerikas Entscheidung, die Kampfkraft der NATO in der Luft zu nutzen, um "ethnische Säuberungen" der Serben im Kosovo zu unterbinden, wurde begrüßt, doch gab es beträchtliches Unbehagen über seine als unzureichend empfundenen Beratungen mit den Verbündeten und die militärische Durchführung der Operation "Allied Force". Die Lehre, welche die Amerikaner offenbar aus dem Kosovo-Krieg zogen, lautete, dass sie nie wieder einen Krieg führen wollten, über den "in Ausschüssen" entschieden wird. Den Europäern wurde die Lehre erteilt, dass sie sich bei der Lösung ihrer regionalen Sicherheitskrisen nicht immer auf die USA verlassen konnten und sie folglich diplomatische Zwangsmittel und ein eigenständiges militärisches Krisenmanagement entwickeln müssten. Es war dieser Konsens in der EU, welcher der Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) den Weg bereitete, der innerhalb des so genannten zweiten Pfeilers der Union, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), angesiedelt wurde.

Mithin war die ESVP das Ergebnis des Zusammenflusses zweier Systemzwänge: der amerikanischen Vorrangstellung und der ausgewogenen Multipolarität in Europa. Die Sprunghaftigkeit Amerikas auf der Höhe seiner unipolaren Macht war für die EU-Mitgliedstaaten der Anstoß zur Entwicklung eines eigenständigen militärischen Krisenmanagements. Die ausgewogene Multipolarität stellte den Rahmen dar, der die Zusammenarbeit der europäischen Großmächte förderte - eine Zusammenarbeit zur Entwicklung eines Instruments, mit dem sich das regionale Umfeld formen und gemeinsame Sicherheitsinteressen angehen lassen. Die Schwierigkeiten der EU-Mitgliedstaaten, das Projekt der ESVP auf den Weg zu bringen, zeigen, wie tief die Kluft zwischen den Balance suchenden und den "auf den Zug" der USA aufspringenden Staaten in Europa weiterhin ist. Während die französische und die deutsche Regierung die ESVP als Instrument zur Stärkung der politischen Union innerhalb der EU verstehen und als Beitrag zu einer stärker multipolar ausgerichteten Welt, verfolgt die Regierung des Vereinigten Königreichs ein sehr viel moderateres und pragmatischeres Ziel: Sie ist bestrebt, der EU ein Instrument an die Hand zu geben, gemeinsam mit den USA handeln zu können (wo dies möglich ist) oder eigenständig von ihnen (wo dies nötig ist). Vor allem aber ist sie bemüht, die ESVP nicht zu einem Konkurrenzkonzept zur NATO werden zu lassen.

Die ESVP ist somit der Inbegriff der Spannungen und Mehrdeutigkeiten, die durch die gegensätzlichen Systemzwänge ausgelöst werden, welche die europäische Politik heute prägen. Sie war ursprünglich gedacht als europäische Antwort auf die mit ihrer unipolaren Stellung verbundene Sprunghaftigkeit der USA; sie wurde ermöglicht im günstigen Umfeld der ausgewogenen Multipolarität; aber sie sieht sich aufgrund der miteinander konkurrierenden Visionen der großen europäischen Mächte (in der Frage des Ausbalancierens oder des Aufspringens) großen Schwierigkeiten gegenüber, wenn es gilt, ein klares Ziel und eine logische Grundlage zu definieren.

In der dritten Amtszeit von Blair wird es auch weiterhin das zentrale Problem sein, eine Balance zwischen den europäischen und den transatlantischen Interessen des Vereinigten Königreichs zu finden. Letztlich gibt es keine Lösung für dieses Rätsel im Zentrum der britischen Außenpolitik. Das Vereinigte Königreich wird sich niemals vollständig und unzweideutig nur einer Seite verschreiben, weder Europa noch den USA. Deshalb kann das Dilemma "Europa versus USA" nicht gelöst oder überwunden werden, man kann es nur verwalten. Es bleibt Blair und seinen Beratern lediglich, zu versuchen, das Wesen der Systemzwänge zu verstehen, welche die britische Außenpolitik vorantreiben, und so kreativ und geschickt wie möglich auf das zufällige Eintreten glücklicher Umstände zu reagieren.

Auf unvorhersehbare und unerwartete "Ereignisse" zu reagieren, die Harold Macmillan so fürchtete, wird auch weiterhin die Energie und Aufmerksamkeit von Tony Blair und der Labour-Regierung beanspruchen. Wie Hamlet muss Blair darauf vorbereitet sein, "die Fallen und Pfeile maßlosen Glücks zu ertragen". Dabei könnte er Trost und Entschlossenheit in einem Ausspruch Winston Churchills finden, der sich als Premierminister in den vierziger Jahren mannigfaltigen Schwierigkeiten gegenübersah. "KBO" kritzelte Churchill seinen Mitarbeitern an den Rand seiner Memos - für "keep buggering on", zu deutsch: "weiter dran rumfummeln".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. John Kampfner, Blair's Wars, London 2003, sowie Peter Stothard, 30 Days. A Month at the Heart of Blair's Wars, London 2003.

  2. Vgl. Julie Smith, A Missed Opportunity? New Labour's European Policy 1997 - 2005, in: International Affairs, 81 (2005) 4, S. 703 - 721.

  3. Vgl. Anthony Seldon, Blair, London 2004, S. 515.

  4. Vgl. Judy Dempsey, Blair Frames a Debate that the EU has avoided, in: International Herald Tribune (IHT) vom 25.6. 2005.

  5. Vgl. London under Attack, in: The Economist vom 9.7. 2005.

  6. Fernand Braudel, The Mediterranean, Bd. 2, London 1973, S. 10.

  7. Der 1939 erstmals veröffentlichte Klassiker von E.H. Carr, The Twenty Year's Crisis, bleibt einer der einflussreichsten Texte im Kanon der Realisten.

  8. Vgl. Kenneth Waltz, Theory of International Politics, New York 1979, S. 73 - 74.

  9. Vgl. John Dumbrell, A Special Relationship: Anglo-American Relations in the Cold War and After, London 2001.

  10. Vgl. John Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001, S. 29 - 36.

  11. Vgl. Benjamin Miller, When Opponents Cooperate. Great Power Conflict and Collaboration in World Politics, Ann Arbor 2002, S. 89 - 93.

  12. Vgl. Joseph Grieco, Realist International Theory and the Study of World Politics, in: Michael Doyle/John Ikenberry (Hrsg.), New Thinking in International Relations Theory, Boulder 1997, S. 163 - 202.

  13. Vgl. Kerry Longhurst/Marcin Zaborowski (Hrsg.), Old Europe, New Europe and the Transatlantic Security Agenda, London 2005.

  14. Vgl. John Dumbrell, The US-UK "Special relationship" in World Twice Transformed, in: Cambridge Review of International Affairs, 17 (2004) 3, S. 437 - 450.

  15. Barry Posen, Command of the Commons: The Military Foundation of U.S. Hegemony, in: International Security, 28 (2003) 1, S. 5 - 46.

  16. Vgl. Benjamin Miller, The Logic of US Military Interventions in the Post-Cold War Era, in: Contemporary Security Policy, 19 (1998) 3, S. 72 - 109.

  17. K. Waltz (Anm. 8), S. 205. Der Irak-Krieg des Jahres 2003 scheint ein perfektes Beispiel für solche "Phantasievorstellungen" zu sein.

Ph.D., geb. 1957; Professor of Politics and International Relations (Head of Department), University of Leicester, Leicester LE1 7RH, England/UK.
E-Mail: E-Mail Link: agvhp1@le.ac.uk