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Populismus -ein Hindernis für politische Sozialisation? | Sozialisation von Kindern | bpb.de

Sozialisation von Kindern Editorial Kinder und Politik - Essay Politik bei Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg Politische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen Partizipation in Familie und Schule - Übungsfeld der Demokratie Populismus -ein Hindernis für politische Sozialisation?

Populismus -ein Hindernis für politische Sozialisation?

Florian Hartleb

/ 17 Minuten zu lesen

Inwieweit beeinflusst Populismus die Politische Sozialisation? Es wird gezeigt, dass dessen zwei zentrale Charakteristika - der soziale Ausschluss und die vereinfachenden Parolen einer charismatischen Führungsfigur - sich insbesondere auf Jugendliche negativ auswirken.

Einleitung

In den Augen vieler deutscher Jugendlicher setzen sich Politikerinnen und Politiker nicht mehr für die unmittelbaren Belange ihrer Wählerinnen und Wähler ein. Sie werden eher als Funktionäre abgehobener Partei- und Regierungsapparate betrachtet. Auch die Funktionalität der Parteien ist für sie unglaubwürdig geworden. Parteien und Politiker sind offenbar immer weniger dazu in der Lage, der jungen Generation positive Zukunftsvisionen anzubieten, die helfen könnten, Orientierungsschwierigkeiten oder Sinnkrisen zu überwinden. Dies erklärt, weshalb Untersuchungen über die Politische Sozialisation Konjunktur haben. Drei Phänomene treten dabei in den Vordergrund: nachlassende politische Beteiligungsbereitschaft ("Politikverdrossenheit"), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sowie die fortbestehenden Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern. Bislang unberücksichtigt in der Forschung blieb gleichwohl die Frage, wie sehr Populismus die politische Sozialisation beeinflusst.


Auf den ersten Blick mag die Unterscheidung von Populismus und Extremismus als Haarspalterei erscheinen. Populismus stellt jedoch keinen Ersatzbegriff für Extremismus dar. Es kann, muss jedoch keineswegs Überschneidungen zwischen beiden geben. Die populistische Dimension ist per se weder demokratisch noch antidemokratisch, sondern ein Aspekt der Mannigfaltigkeit und Diversifizierung politischer Kulturen und Strukturen. Populismus kann mit Demokratie kompatibel sein, auch wenn dies oftmals bestritten und angezweifelt wird. Ist Populismus nun ein Hindernis oder ein wichtiger, vielleicht sogar notwendiger Bestandteil politischer Sozialisation? Diese Frage drängt sich vor dem Hintergrund, dass in der Tagespolitik eine hohe Dichte populistischer Elemente augenfällig ist, geradezu auf und verstärkt sich durch das Aufkommen neuartiger genuin populistischer Parteien in Westeuropa.

Politische Sozialisation und Populismus

Politische Sozialisation vollzieht sich nach gängiger Auffassung auf drei Ebenen:

  • einer kognitiven Ebene (darunter wird das Wissen über politische Institutionen, Personen und Vorgänge verstanden; es geht um das Begreifen von Zusammenhängen);

  • einer affektiv-motivationalen Ebene (damit sind emotionale Bindungen an politische Personen, Parteien usw. sowie allgemeine Bewertungen politischer Inhalte und Positionen gemeint) und

  • einer Verhaltensebene (damit sind die Ausübung politikrelevanter Handlungen und die Wahrnehmung politisch-partizipatorischer Möglichkeiten angesprochen).

    Abgegrenzt werden kann der Begriff "Politische Sozialisation" von Formen oberflächlicher und kurzfristiger politischer Meinungsbildung. Im Gegensatz zu diesen bezieht er sich auf diejenigen politischen Attitüden und Orientierungen, die längerfristig und tiefer gehend verinnerlichte Bestandteile der Persönlichkeit werden. Politische Sozialisation im Jugendalter meint die Aneignung von Wissen und die Entwicklung von Einstellungen und Handlungsbereitschaften. Ziel ist die Übernahme der Rolle des politisch mündigen Bürgers - und somit die Integration in die demokratische politische Gemeinschaft.

    Der Populismus neigt demgegenüber zu Polarisierungen und Simplifizierungen. Er bietet vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme. Wer als "Populist" bezeichnet wird, gleich von welcher Partei, gilt im positiven Sinne als jemand, der die Probleme der "kleinen Leute" versteht, sie artikuliert und direkt mit dem Volk kommuniziert. Meist wird einem "Populisten" jedoch vorgehalten, er rede dem Volk nach dem Mund. Der Populismusbegriff ist in den Medien, ebenso in der Wissenschaft, negativ vorbelastet und zudem ein Schlagwort der politischen Alltagspolemik. Oftmals dient Populismus im politischen Diskurs als Schimpfwort für den politischen Gegner: Er betreibe keine sachliche Politik, sondern mediale Schaumschlägerei mit billigen, nicht einzulösenden Versprechungen.

    Paul Taggart kommt zu folgendem Befund:
    Populismus

    • mangelt es an Werten. Populismus wirkt wie ein Chamäleon, das je nach Bedarf die Farben seiner Umgebung annimmt.

    • stellt den Bezug auf das "Volk" plakativ her und ist ablehnend gegenüber dem Establishment eingestellt.

    • spiegelt eine Art Krise wider, scheint eine Folge von rapiden Veränderungen in der Gesellschaft zu sein.

      Dem lässt sich freilich entgegenhalten: Was der eine mit Demokratie assoziiert, kann der andere in gleicher Weise dem Populismus zuschreiben. Solange sich Populismus innerhalb des demokratischen Spektrums bewegt, liegt ihm ein wenigstens potenziell emanzipatorischer Impuls zugrunde. Zudem setzt das Entfachen des populistischen Feuers dem politischen Gleichklang der etablierten Parteien und der Tabuisierung gravierender Probleme ein Ende: Populisten mögen nicht selten über das Ziel hinausschießen, sie mögen auch in vielen Punkten fragwürdige Positionen vertreten, dennoch kann ihnen eine kritische und aufklärende Funktion für das politische System zukommen. Sie zwingen es zur inhaltlichen Reaktion und Auseinandersetzung, nicht selten auch zur Selbstkorrektur.

      Taggarts Grundannahme des "populistischen Wertedefizits" steht jedoch im Widerspruch zur empirisch belegten Einschätzung, dass Wertevermittlung, -erwartung und -konsens wesentliche Stützpfeiler politischer Sozialisation bilden. Zur Messung, ob und wie sich Populismus konkret auf die politische Sozialisation auswirkt, bieten sich zwei Kategorien an: die Betonung einer rigide abgegrenzten Wir-Gruppe und das Vorhandensein einer charismatischen Führungsfigur. Diese sind zentral für den Populismus und ermöglichen jeweils den direkten Bezug zwischen Populismus und politischer Sozialisation.

      Populismus und Sozialisation



      Betonung einer rigide abgegrenzten Wir-Gruppe

      Das "Volk" gilt im populistischen Diskurs als homogener Faktor. Mit der ihm immanenten Gegenüberstellung von einfachem Volk und abgehobener Elite ist bereits ein symbolischer Integrationsfaktor angelegt. Der Populismus negiert bestehende Partikularinteressen, er spricht mit einer einzigen Stimme. Der Populist setzt - wie der italienische Literatur- und Kulturwissenschaftler Umberto Eco meint - die eigenen Projekte mit dem Willen des Volkes gleich, und dann, wenn er Erfolg hat, verwandelt er in dieses von ihm selbst erfundene Volk einen (großen) Teil der Bürgerinnen und Bürger, die von dem virtuellen Bild fasziniert sind und sich damit identifizieren.

      Der Populismus betont die Bedeutung des "Alltagsverstandes". Abgelehnte Wertvorstellungen sind dem "gesunden Menschenverstand" nicht auf abstrakter Ebene zu vermitteln, vielmehr sind konkrete Feindbilder notwendig, um Korruption, Kriminalität oder kulturelle Differenzen zu veranschaulichen. Der "ehrliche und anständige Mann aus dem Volk" erhält eine greifbare Entsprechung. Auf diese Weise hat der Missstand ein Gesicht und eine Erklärung, nämlich den subjektiven Willen der Akteure. Gesellschaftliche Phänomene werden an einzelnen Punkten und Auffälligkeiten festgemacht, strukturelle Erklärungen ausgeblendet. In Bereichen wie der Rechts- oder Sozialpolitik hat der Populismus repressive, aktionistische Maßnahmen parat.

      Als populistische Grundposition dient die Beschwörung einer Wir-Identität, die allen anderen Identitäten übergeordnet sein soll. Diese Identitätsfindung erfolgt durch Abgrenzung von nicht zur Eigen-Gruppe gehörenden Menschen. Eine künstlich aufgebaute Einheit wird erzeugt und durch symbolische Parolen gesteigert. Eine Reihe von manischen, paranoiden Vorstellungen kann auftauchen, wenn es darum geht, die "Wir-Gruppe" von anderen Gruppen abzugrenzen. Der Populismus entwirft ein soziales Panoramabild, in dem eine In-Gruppe ("wir") im Gegensatz zu einer entfernt stehenden Out-Gruppe (die "anderen") steht. Er arbeitet wie eine Fassade der Kohärenz, welche die unterschiedlichen Erfahrungen des Alltags mit Deutungen umgibt. Dazu etabliert er eine spannungsgeladene Beziehung zu einem "Anderen": dem politischen Feind. Er "artikuliert die demokratischen Diskurselemente ..., die Teile der Bevölkerung zu klassenübergreifenden Konsenspolen zusammenschließen (z.B. gegen hohe Steuern ... ) ; ... er artikuliert die verschiedenen Elemente so, dass sie insgesamt gegen den Staat bzw. gegen den Block-an-der-Macht gerichtet sind".

      Der Populismus lehnt sich dabei an real existierende diffuse Einstellungen an, vorhandene Klischees werden bestärkt. Werner W. Ernst spricht von "Ressentiments", die ein tief sitzendes Unbehagen mit der herrschenden Politik beschreiben. Verursacht wird dieses Gefühl dadurch, dass sich der Bürger von der Macht ausgeschlossen fühlt. Er betrachtet sich selbst im politischen System lediglich als Spielball der Interessen, welche die herrschenden Eliten verfolgen. Der Populismus gibt vor, dieses Defizit unter anderem mit der Fiktion konkreter Feindbilder zu beseitigen und dadurch das Gemeinwohl des "Volkes" zu vertreten. Er mobilisiert Gegen-Gefühle, die unter bestimmten Voraussetzungen auch zu Intoleranz, Fremdenhass oder Verfassungsbrüchen führen können.

      Die populistischen Inhalte können sich für den Fall, dass sich die Identitätsfindung rein negativ vollzieht, radikalisieren, "das Bemühen um einen Wertekonsens in Intoleranz, die Furcht vor Überfremdung in Rassismus, [der Antifaschismus in eine gewaltbereite Ablehnung oder eine gewalttätige Bekämpfung des demokratischen Verfassungsstaates], die Forderung nach einer selbstbewussten Außenpolitik in Nationalismus umschlagen". Wer die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft suggeriert, stachelt emotionale Bedürfnisse an. In ihren Wir-Bildern gehen populistische Bewegungen auf die Ebene spezifischer Kollektivitätseigenschaften wie regionale und nationale Zugehörigkeit oder ethnische Herkunft. Der Populismus verwebt den Stoff des Imaginären (Projektionen, Identifikationen, Relationen), um das gesamte soziale Feld mit eigener Identitätsposition zu überziehen: Der Schlüssel dazu ist die Collage des "kleinen Mannes".

      Verzerrungen erfolgen zu Ungunsten der Fremdgruppe. Vorurteile werden häufig durch Vergleiche zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen ausgebildet; das eigene positive Selbstbild wird dabei zum Maßstab der Bewertung. Merkmale werden also anderen Personen oder Gruppen nicht absolut zugeschrieben, sondern im Verhältnis zu anderen. Soziale Vorurteile mit negativen Vorzeichen sind weit verbreitet, und zwar in allen Schichtungen und Gruppierungen. Sie sind so stabil, dass sie im Allgemeinen auch dann nicht korrigiert werden, wenn davon abweichende Erfahrungen gemacht werden. In der Regel wird die Wirklichkeit durch die Brille der bereits vorhandenen Vorurteile wahrgenommen. In manchen Vorurteilen - nicht in allen - steckt auch ein "Körnchen Wahrheit". Halbwahrheiten richten in der Regel mehr Schaden an als Unwahrheiten.

      Während die idealisierte Wir-Gruppe quasi per se die Anständigen und Ehrlichen verkörpert, firmieren "die da draußen" - etwa Immigranten, Muslime, Sozialschmarotzer, Faschisten, Kapitalisten - als Feinbilder. Der Populismus trägt zur Bildung und Förderung von Vorurteilen bei. Eine möglichst homogene Gruppe von "natürlichen" Mitgliedern soll sich von klar definierten "Nicht-Wir-Gruppen" abheben. Sozialer Ausschluss (Exklusion) und Einschluss (Inklusion) gehen Hand in Hand. Entscheidend ist: Mit Schärfe und Entschiedenheit wird die Grenze gezogen. Trotz des vorgeschobenen Impetus, eine "Politik des Herzens" zu verkörpern, ist der Populismus nicht dadurch charakterisierbar, welche Gruppen er gesellschaftlich integriert, sondern ganz im Gegenteil dadurch, welche Gruppen er exkludiert. Der Populismus neigt zu einem Verschwörungsmythos, einem Muster von abwehrenden Verhaltensweisen und Anti-Haltungen, welche auf die politische Sozialisation negativ wirken. Gerade die affektiv-motivationale Ebene wird angesprochen: Gefühle der subjektiv empfundenen Benachteiligung vermengen sich mit Bedrohungsängsten oder einfach der Skepsis gegenüber unbekannten Lebensstilen, Werten und kulturellen Erscheinungsformen (z.B. westliche Industriegesellschaft versus islamischer Fundamentalismus).

      Charismatische Führungsfigur

      Die populistische Realitätskonstruktion kommt einem auf die charismatische Führungsfigur konzentrierten, fragmentarisierten Geschehen gleich. Der Populist gibt sich als homo novus, als "neuer Mann" in der Politik, der aus Uneigennützigkeit und von edlen Motiven getrieben zum "Politiker wider Willen" wurde. Im Wahlkampf versucht er, das Element des neuen, "anderen" Politikers weiter auszubauen, wobei ein mythologischer Fundus grundlegend ist. Der Populist bietet an, die - angeblichen - Verkrustungen des politischen Tagesgeschäfts aufzubrechen, die Alltagsthemen, Sorgen und Nöte der "schweigenden Mehrheit" zu artikulieren und die Koordinationssysteme des politischen Diskurses wieder zurechtzurücken, die aus Sicht des selbst ernannten Erneuerers aus den Fugen geraten sind. Dem populistischen Parteiführer kommt die Tendenz zugute, dass sich die europäischen Regierungssysteme zunehmend "präsidentialisieren", dass Spitzenkandidaten in Wahlkämpfen den direkten Kontakt mit dem Wähler suchen, selbst an Parteien und Parlamenten vorbei. Der entscheidende Unterschied zum neuen Populismus ist aber, dass Letztgenannter eine Methode der politischen Kommunikation zu einer Art "Demokratieersatz" stilisiert. Populisten beanspruchen ein so genanntes "Interpretationsmonopol" des Volkswillens.

      Fraglich ist, ob die charismatische Führungsfigur die für die politische Sozialisation eminent wichtige Identifikationsfunktion wahrnehmen kann. Das Ergebnis scheint auf den ersten Blick positiv: Im Gegensatz zum herkömmlichen Politikertypus, der seit den siebziger Jahren negative Assoziationen in der Bevölkerung hervorruft, verkörpert der Populist ein antielitäres Image, mimt den Paradiesvogel. Dank seiner Ausstrahlung kann der populistische "Underdog" sein Anliegen als glaubwürdiges Engagement für den Bürger verkaufen. Die vor allem von Seiten der Bürgerinnen und Bürger wahrgenommene Kluft zwischen ihnen und den politischen Repräsentanten versucht er zu überspringen. Insbesondere der Tabubruch und die affektive Sprache unterscheiden ihn von seinen politischen Kontrahenten. Er firmiert als "bad guy" der Politik bzw. kokettiert damit. Mit dem Stilmittel der "Schwarz-Weiß-Malerei", also der Vereinfachung politischer Sachverhalte und deren Eingruppierung in dichotome Denkmuster, gaukelt er eine Verbundenheit mit dem Publikum vor.

      Ein Blick auf den bislang erfolgreichsten Versuch einer genuin rechtspopulistischen Partei, in der bundesdeutschen Parteienlandschaft zu reüssieren, bringt weiteren Aufschluss: Der Hamburger Bevölkerung dürfte mit Ronald Barnabas Schill eine politische Figur noch gut in Erinnerung sein, die es - ohne den Boden des Grundgesetzes zu verlassen - verstand, das diffuse Gefühl nach innerer Sicherheit anzusprechen, und damit im September 2001 fast ein Fünftel der Hamburger Wählerinnen und Wähler (19,4 Prozent) mobilisierte. Schill, die alleinige Führungsfigur seiner "Schill-Partei", entfachte im Hamburger Wahlkampf ein Angstszenario und erklärte, an das subjektive Sicherheitsgefühl appellierend, Hamburg zur Hauptstadt des Verbrechens. Er heizte das Betroffenheitsthema emotional auf, gebrauchte griffige Äußerungen, die er permanent repetierte. Seine Wahlkampfveranstaltungen beendete er stets mit dem Satz: "Kommen Sie gut nach Hause und lassen Sie sich nicht überfallen!"

      Ronald B. Schill kam dem Idealbild einer populistischen, charismatischen Führungsfigur nahe. Von wohlkalkulierter Angstmache (Beschwörung Hamburgs als "Hauptstadt des Verbrechens") über gezielte Provokationen (Forderung nach Kastration von Sexualstraftätern) bis hin zur Aufstellung von Verschwörungstheorien hat es der Politiker im Hamburger Wahlkampf verstanden, auf der rechtspopulistischen Klaviatur zu spielen und die Nähe zum umworbenen Volk herzustellen. Dem ehemaligen Amtsrichter traute ein beachtlicher Anteil der Hamburger Wahlberechtigten am ehesten zu, die objektiv und subjektiv vorhandenen Probleme der Inneren Sicherheit in Hamburg zu lösen. Nach einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen bezeichneten im September 2001 rund 51 Prozent der Wahlberechtigten in Hamburg das Thema Kriminalität als das wichtigste Problem, noch deutlich vor der Arbeitslosigkeit (17 Prozent) und der Verkehrspolitik (14 Prozent) sowie der Bildung (10 Prozent).

      Gleichwohl enttäuschte der "Richter Gnadenlos" seine Wähler binnen kürzester Zeit und ist heute in der Versenkung verschwunden. Sein vollmundiges Wahlversprechen, innerhalb von 100 Tagen die Verbrechensrate um die Hälfte zu senken, korrigierte Schill mit der Aussage, er habe ja nicht gesagt, in welchen 100 Tagen. Im vorgezogenen Bürgerschaftswahlkampf 2005 spielte dann auch - im krassen Gegensatz zur Vorgängerwahl - das Thema der Kriminalitätsbekämpfung eine eher marginale Rolle. Wie sehen die Hamburgerinnen und Hamburger den Rechtspopulisten und die Frage nach der politischen Vorbildfunktion heute? Eine aktuelle Repräsentativerhebung der Hamburger Bevölkerung gibt Aufschluss: 76 Prozent der Hamburger wünschen nicht, dass es mehr Figuren à la Schill in der Politik gebe. Ein solches Angebot fänden aber 16 Prozent nicht schlecht. Die übrigen 8 Prozent haben keine Meinung hierzu. Unter den 16- bis 24-Jährigen ist die Zahl von potenziellen Anhängern eines mit Schill vergleichbaren Politikers mit 25 Prozent deutlich größer. Generell können sich 12 Prozent der 16- bis 24-jährigen Hamburgerinnen und Hamburger (im Unterschied zu 6 Prozent unter der gesamten Hamburger Bevölkerung ab 16 Jahren) die Wahl einer Partei nach dem Modell Schill vorstellen. Das Ergebnis zeigt trotz des grandiosen Scheiterns der Schill-Partei die partiell vorhandene Anziehungskraft, insbesondere bei den der 16- bis 24-Jährigen.

      Die charismatische Versuchung ergibt sich aktuell durch einen tiefen Vertrauensverlust in die Akteure der Politik, verstärkt durch technokratische Funktionseliten in Partei und Gesellschaft, die Inspirations- und Ideenlosigkeit europäischer und deutscher Politik, wie die Debatte um den europäischen Verfassungsvertrag schmerzlich offen legte: "Wenn die inspirationslosen Generalsekretäre des Klein-Klein ratlos auf der Stelle treten, wenn Bürokraten hilflos verwalten, dann wird der Raum frei für die bilderreichen Visionäre und wortmächtigen Tribune der Politik. Sie brechen dann nicht selten durch ihre farbenfrohe Zukunftsporträts die depressive Stimmung und bleierne Apathie auf." Doch gilt bei all der kurzfristigen Wirkung auch: "Weit kommt man mit dem charismatischem Auftritt auf dem Terrain komplexer Verhandlungsdemokratien in der Regel nicht ... Die Aura des Charismatikers schwindet, seine Ausstrahlung verblasst, sein Nimbus zerfällt schließlich ... In den Details der praktischen Politik richten sie häufig Unordnung an. Auf den kurzen Frühling der Charismatiker folgt daher ein langer Herbst der disziplinierten Organisatoren. Und das muss wohl so sein."

      Der Gewinn einer charismatischen Politsternschnuppe ist daher für die Bildung politischen Bewusstseins wenn überhaupt, dann von kurzfristiger Natur und steht damit im negativen Gegensatz zu einer politischen Sozialisation, die sich gerade nicht aus Parolen und Schnelllebigkeit speist. Problematisch ist daher eine Stilisierung der Führungsfigur als "gewöhnliche Person mit außergewöhnlichen Attributen", die zunächst hohe Erwartungen weckt und doch zu Enttäuschung führt. Der populistische Agitator handelt zudem gemäß einer so genannten "umgekehrten Psychoanalyse": Er nähert sich seinem Publikum mit genau der gegenteiligen Intention, mit welcher der Analytiker auf die zu therapierende Person zugeht. Der Populist greift die individuellen Verunsicherungen, die neurotischen Ängste auf und verstärkt sie gezielt mit dem Zweck, den Patienten nicht mündig werden zu lassen, um eine feste Bindung zu erzeugen. Politische Sozialisation wird dadurch geradezu konterkariert, wobei die grundsätzliche Frage nach Politikern, die insbesondere für Jugendliche eine Vorbildfunktion ausüben, nur schwer zu beantworten ist.

      Schlussfolgerungen



      Der zeitgenössische Populismus wittert Verrat, Täuschung oder Lüge. Er stellt als "Kult des kleinen Mannes" keine Beweise, sondern Behauptungen in den Raum und verkauft diese als Wahrheit. Es kommt häufig zum Phänomen, dass politische Sachverhalte auf ein leicht nachvollziehbares Erlebnis übertragen werden. Dieser Mechanismus bringt den Betrachter in die Privatsphäre des Alltags, wo das Aussprechen einer Phrase eine Diskussion beendet oder ein komplexes Problem löst. Übertragen auf die Politik bedeutet ein solches "Argumentationsmuster" die starke Vereinfachung komplexer Situationen. Der gordische Knoten moderner Politik wird mit dem Schwert holzschnittartiger Lösungsvorschläge und besserwisserischer Patentrezepte zerschlagen.

      Die von Populisten verbreiteten Binsenweisheiten erlauben ohne weiteres eine Entscheidung und eine Ablehnung des "Bestehenden". Alles ist "natürlich", und so sollte das öffentliche wie private Leben ausgerichtet sein. Der Populismus knüpft am "Alltagsverstand", an den Volkstraditionen an und mobilisiert dadurch versteckte Wünsche und verdrängte Widersprüche. Gesellschaftliche Konflikte stellt er undifferenziert dar, unterlegt mit dem Charme, schlichte und schnelle Lösungsansätze bei der Hand zu haben. Die moralischen Kategorien des Populismus eignen sich nicht für Nuancen - es gibt nur schwarz oder weiß. Für die politische Sozialisation verheißt das im Ergebnis nichts Gutes. Sie verlangt nach keinem Strohfeuer, sondern nach nachhaltigen Auseinandersetzungen. Die Kategorien des Populismus - die "Wir-Gruppe" und die "charismatische Führungspersönlichkeit" - verhindern eine gesunde politische Sozialisation. Gerade die soziale Exklusion und die Parolen einer sich unorthodox gebenden charismatischen Führungsfigur haben negative Effekte. Es stellt sich die Frage nach den pädagogischen Möglichkeiten der Prävention und Intervention, wie das Ergebnis der Umfrage bezüglich der Schill-Partei belegt.

      Erfolge vermitteln

      In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, der Strukturkrise des Sozialstaats, gesellschaftlicher Lähmung und des Fehlens politischer Visionen kommt es wesentlich darauf an, Hoffnung und Zuversicht zu wecken. Wenn die Einsicht unter Schülerinnen und Schülern vorherrscht, sie würden keinen Arbeitsplatz und keine Rente mehr bekommen, ist der Weg zur Akzeptanz einfacher Parolen und vollmundiger Versprechungen nicht weit. Pädagogische Maßnahmen, die Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Kreativität stärken, lösen sich zumeist von der Tristesse der Alltagssituation, die politische Sozialisationsinstanzen gerade bei den derzeitigen Problemen vermitteln. Diese Distanz vom Alltag scheint notwendig, um den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, neue Handlungen zu erproben und zu trainieren. Der anschließende Lernprozess wird durch die Verarbeitung des Erlebten vollzogen.

      Lösungsorientierte Gespräche

      Die vom Populismus ausgesprochenen und geschürten Ängste (vor dem Islam, einer Überfremdung, der Weltmacht USA, der Globalisierung, dem Wiederaufkommen des Faschismus, der Arbeitslosigkeit oder sozialer Deklassierung) sind - so paradox es klingen mag - nachhaltig und müssen ernst genommen werden. Das atavistische Moment des Verschließens der Augen vor der unbequemen Realität wird dadurch für demokratische Verantwortungsträger unmöglich, ohne in Hysterie und Panikmache zu verfallen. Für "Nicht-Populisten" bedeutet das eine immense Herausforderung: Sie müssen - wie Ralf Dahrendorf feststellt - die große Simplifizierung vermeiden und doch die Komplexität der Dinge verständlich machen. Dazu gehört, populistische Parolen im politischen Diskurs anzusprechen und zu entlarven, ohne in dumpfe Generalanklagen zu verfallen.

      Das Suchen nach Sündenböcken für die schlechte Wirtschaftslage verleitet im Jahr 2005 nicht nur die Linkspartei um Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, sondern auch Politiker etablierter Parteien zum Populismus, wie Edmund Stoibers Schuldzuweisung ("Gerhard Schröder ist schuld am Wahlerfolg der NPD in Sachsen") oder Franz Münteferings Kapitalismuskritik ("Heuschrecken") belegen. Die Realität wird zunehmend unübersichtlicher. Lösungsorientierte Gespräche sollen gerade dazu dienen, die Vielschichtigkeit von Ursachen und Wirkung aufzuzeigen, wobei der Hinweis, dass Politik von Vereinfachung und Zuspitzung gerade in Wahlkampfzeiten lebt und schon immer gelebt hat, nicht fehlen darf. Vielleicht wachsen diejenigen Kräfte politischer Entscheidungsträger, die Wahrhaftigkeit vor das nichteinlösbare Versprechen sozialer Wohltaten stellen und damit etwas riskieren. Der politischen Sozialisation würde das zugute kommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Klaus Hurrelmann u.a., Eine Generation von Egotaktikern? Ergebnisse der bisherigen Jugendforschung, in: Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus, Frankfurt/M. 2002, S. 43f.

  2. Vgl. u.a. Kai Arzheimer, Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs, Opladen 2002.

  3. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Untersuchungsergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, Weinheim-München 19955.

  4. Vgl. Dietmar Sturzbecher (Hrsg.), Jugend in Ostdeutschland: Lebenssituationen und Delinquenz, Opladen 2001.

  5. Vgl. Frank Decker, Der neue Rechtspopulismus, Opladen 2004.

  6. Vgl. u.a. Michaela Ingrisch, Politisches Wissen, politisches Interesse und politische Handlungsbereitschaft bei Jugendlichen aus den alten und neuen Bundesländern. Eine Studie zum Einfluss von Medien und anderen Sozialisationsbedingungen, Regensburg 1997, S. 12; Christine Schmid, Politisches Interesse von Jugendlichen. Eine Längsschnittuntersuchung zum Einfluss von Eltern, Gleichaltrigen, Massenmedien und Schulunterricht, Wiesbaden 2004.

  7. Vgl. Hans-Peter Kuhn, Mediennutzung und politische Sozialisation. Eine empirische Studie zum Zusammenhang zwischen Mediennutzung und politischer Identitätsbildung im Jugendalter, Opladen 2000, S. 37.

  8. Vgl. Paul Taggart, Populism and representative politics in contemporary Europe, in: Journal of Political Ideologies, 9 (2004) 3, S. 269 - 288.

  9. Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie: Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2002, S. 89.

  10. Vgl. Hans Jörg Hennecke, Das Salz in den Wunden der Konkordanz: Christoph Blocher und die Schweizer Politik, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 161f.

  11. Vgl. Arnim Regenbogen, Sozialisation in den 90er Jahren. Lebensziele, Wertmaßstäbe und politische Ideale bei Jugendlichen, Opladen 1998.

  12. Vgl. Florian Hartleb, Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden 2004.

  13. Vgl. Umberto Eco, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Juli 2003, S. 33.

  14. Vgl. Walter Ötsch, Demagogische Vorstellungswelten. Das Beispiel der Freiheitlichen Partei Österreichs, in: Gabriella Hauch/Thomas Hellmuth/Paul Pasteur (Hrsg.), Populismus. Ideologie und Praxis in Frankreich und Österreich, Innsbruck u.a. 2002, S. 95f.

  15. Sebastian Reinfeldt, Nicht-wir und Die-da. Studien zum rechten Populismus, Wien 2000, S. 56f.

  16. Vgl. Werner W. Ernst, Zu einer Theorie des Populismus, in: Anton Pelinka (Hrsg.), Populismus in Österreich, Wien 1987, S. 10 - 25.

  17. Frank Decker, Rechtspopulismus. Ein neuer Parteientyp in den westlichen Demokratien, in: Gegenwartskunde, 50 (2001), S. 297.

  18. Vgl. Cornelia Weins, Fremdenfeindliche Vorurteile in den Staaten der EU, Wiesbaden 2004.

  19. Vgl. Paul Taggart, New Populist Parties in Western Europe, in: West European Politics, 18 (1995) 1, S. 34 - 51.

  20. Vgl. Roland Sturm, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2000, S. 11.

  21. Vgl. Frank Decker, Perspektiven des Rechtspopulismus in Deutschland am Beispiel der "Schill-Partei", in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 52 (2002) 21, S. 28.

  22. 28 Prozent aller Wahlberechtigten in Hamburg gaben dies bei Umfragen an; vgl. Matthias Krupa, Stimmen der Angst. Das Beispiel der Schill-Partei: Nicht nur Verlierer wählen rechts, in: Die Zeit vom 22. August 2002, S. 6.

  23. Vgl. Harald Bergsdorf, Gegner oder Partner? Schill als Problem der Volksparteien, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 49 (2002), S. 160 - 164.

  24. Vgl. dazu Thomas Holl, Aufstieg und Fall eines Richters. Wie Ronald Schill in Hamburg zum Erfolg kam, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Dezember 2003, S. 5.

  25. PSEPHOS-Institut im Auftrag von Hamburger Abendblatt und Hamburger Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts e.V., 60 Jahre nach der Befreiung Hamburgs. Demokratieverständnis und Geschichtsbewusstsein in der Hamburger Bevölkerung, Hamburg/Berlin, April/Mai 2005. Für die Untersuchung wurden vom 26. April bis 1. Mai insgesamt 1 146 nach dem Zufallsverfahren ausgewählte HamburgerInnen ab 16 Jahren per computergestützte Telefoninterviews mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Die Stichprobe ist repräsentativ, sie stellt ein verkleinertes Abbild der Bevölkerung Hamburgs in wichtigen demographischen und regionalen Dimensionen dar. Die Ergebnisse können trotz der bei Stichproben dieser Größenordnung üblichen statistischen Schwankungsbreiten (durchschnittlich ± 2,4 Prozentpunkte, maximal ± 3,0 Prozentpunkte) verallgemeinernd auf die Gesamtheit übertragen werden.

  26. Franz Walter, Die Stunde des Trüffelschweins, in: Internationale Politik, 60 (2005) 6, S. 56f.

  27. Der Literatursoziologe Leo Löwenthal prägte diesen Begriff, der sich aus seinen psychoanalytischen Untersuchungen der faschistischen Agitatoren in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte.

  28. Vgl. Helmut Dubiel, Das Gespenst des Populismus, in: ders. (Hrsg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt/M. 1986, S. 42.

  29. Vgl. Ralf Dahrendorf, Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit. Europäische Revue, (2003) 25, S. 160.

Dr. phil., geb. 1979; Politikwissenschaftler; Lehrbeauftragter an der TU Chemnitz, Reichenhainer Str. 41, 09111 Chemnitz.
E-Mail: E-Mail Link: florian_hartleb@web.de