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Eine neue deutsche Europapolitik für eine andere EU? | Transatlantische Politik | bpb.de

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Eine neue deutsche Europapolitik für eine andere EU?

Wilhelm Knelangen

/ 17 Minuten zu lesen

Einleitung

Seit der transatlantischen Krise im Vorfeld des Irak-Krieges ist eine intensive Debatte über die internationale Rolle der Bundesrepublik Deutschland entbrannt. Die Diskussion läuft dabei zwar zuweilen Gefahr, die Außenpolitik der "alten" Bundesrepublik zu verklären, denn auch vor 1990 haben sich deutsche Regierungen in ihrem auswärtigen Handeln keineswegs allein auf die Kunst der Überzeugung verlassen, sondern sich selbstverständlich machtpolitischer Instrumente bedient. Dennoch ist unverkennbar, dass seit einigen Jahren die Tragfähigkeit ehedem stabiler Strukturmerkmale deutscher Außenpolitik in Frage steht. Das ist insofern bemerkenswert, als in mehreren großen Untersuchungen noch vor wenigen Jahren die weitgehende Kontinuität der außenpolitischen Handlungs- und Orientierungsmuster hervorgehoben worden war. Umstritten ist in der gegenwärtigen Debatte jedoch zum einen, wie weit der Wandel reicht, ob es sich also um ein pragmatisches Nachsteuern innerhalb eines Kontinuitätskorridors oder um einen grundlegenden und nachhaltigen Kurswechsel handelt. Zum anderen ist strittig, ob der Wandel der Außenpolitik lediglich dem gewachsenen politischen Gewicht Deutschlands einen angemessenen Ausdruck verleiht oder als eine Rückkehr zu traditioneller Großmachtpolitik zu beklagen ist.


Die Europapolitik steht in dieser Debatte nicht im Mittelpunkt, wohl nicht zuletzt, weil dieser Bereich noch am wenigsten durch Wandel gekennzeichnet zu sein scheint. Vielmehr wird überwiegend ein hohes Maß anKontinuität diagnostiziert. So ist hervorgehoben worden, das wieder vereinigte Deutschland betreibe "eine ebenso engagierte und ehrgeizige Europapolitik, wie die alte Bundesrepublik dies in den vier Jahrzehnten zuvor getan hatte". Die rot-grüne Bundesregierung mache hier keinen Unterschied, denn diese habe "am integrationsfreundlichen Kurs aller Vorgängerregierungen" festgehalten. Mehr noch: Häufig wird die Ansicht vertreten, die Ausrichtung der deutschen Politik am Koordinatensystem der EU werde im Zeichen eines abgekühlten Verhältnisses zu den USA sogar noch zunehmen.

All diese Einschätzungen sind nachvollziehbar, denn vom Entstehen einer prinzipiellen Europaskepsis kann - jedenfalls in der deutschen außenpolitischen Elite - überhaupt keine Rede sein. So zutreffend daher der Befund ist, dass Deutschland den Integrationsprozess weiterhin unterstützt, so sehr ist eine Differenzierung angezeigt. Denn auf den zweiten Blick können deutliche Anzeichen eines Wandels in der deutschen Europapolitik identifiziert werden. Die Grundlage dafür ist bereits in den neunziger Jahren gelegt worden, als das im Vergleich der Mitgliedsstaaten geradezu emphatische Engagement für die europäische Einigung einem nüchternen und pragmatisch-instrumentellen Verständnis gewichen ist. In der Amtszeit der Regierung Gerhard Schröder/Joschka Fischer scheint jedoch, daran anknüpfend, ein Perspektivenwechsel stattgefunden zu haben, der auch als eine Reaktion auf den Strukturwandel der Integration interpretiert werden kann und sich in einer politischen Neubewertung des europäischen Projekts niederschlägt. Das in den EU-Verträgen immer wieder formulierte Ziel eines "immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker" dient nicht mehr als Leitbild der deutschen Europapolitik, weil eine weitere Vertiefung der Integration als kaum noch erreichbar angesehen wird. Erste Konturen der Umorientierung zeichnen sich ab. Der EU wurde von der rot-grünen Regierung eine geostrategische Rolle beigemessen. Zum einen kommt der EU in der Konzeption der Regierung Schröder/Fischer die Funktion eines Ordnungsfaktors auf dem europäischen Kontinent zu, zum anderen soll sie zu einer "globalen Macht auf der Grundlage von Demokratie, Recht und Freiheit" fortentwickelt werden.

Abschied vom Musterknaben

Der deutschen Europapolitik bis zur Vereinigung ist in der politikwissenschaftlichen Literatur nicht zu Unrecht eine Sonderstellung zugeschrieben worden. Das Urteil, die Bundesrepublik sei ein europapolitischer "Musterknabe", bezog sich zuvörderst auf die hohe Bereitschaft der deutschen Politik, nationale Souveränität innerhalb der Gemeinschaften zu teilen. Seit den Anfängen hatten sich die Bundesregierungen für eine Fortentwicklung und Vertiefung des Integrationsprozesses eingesetzt. Kennzeichnend für den deutschen Ansatz war dabei, dass eigene kurzfristige Interessen im Zweifel zugunsten einer langfristigen Förderung der europäischen Einigung hintangestellt wurden. Dazu gehörte die Bereitschaft, Kompromisse in schwierigen Verhandlungen durch die Übernahme besonderer (auch finanzieller) Lasten zu erleichtern. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass deutschen Positionen auch von den kleineren Mitgliedsstaaten mit großem Vertrauen begegnet wurde. Nur scheinbar imWiderspruch dazu stand die besondere Bedeutung des deutsch-französischen Führungstandems, das sich seit den siebziger Jahren herausgebildet hatte. Denn eine gemeinsame Position Deutschlands und Frankreichs konnte das politische Spektrum innerhalb der EG weitgehend abdecken. Dass die europäische Einigung von den deutschen Bundeskanzlern als "Kern deutscher Staatsräson" erklärt werden konnte, spiegelte nicht zuletzt den weitgehenden europapolitischen Konsens zwischen den Parteien und die (im EG-Vergleich) weit überdurchschnittliche Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Integration wider.

Es wäre gleichwohl verfehlt, vor dem Hintergrund dieser Skizze anzunehmen, dass deutsche Regierungen in der europäischen Politik keine eigenen Präferenzen verfolgt hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Zum einen ist die Selbsteinbindung in die europäischen Strukturen von der deutschen Politik immer auch als eine Erfolg versprechende Methode zur Erreichung eigener Ziele verstanden worden. Zum anderen war vor allem seit den achtziger Jahren eine "interessenpolitische Zweiteilung der Bundesregierung" für die deutsche Positionierung kennzeichnend, ließ sich doch das Eintreten für Integrationsfortschritte durchaus mit einem Anspruch auf Durchsetzung spezifischer Interessen in den Fachministerräten verbinden. Dennoch kann zum einen festgestellt werden, dass seit den neunziger Jahren der Rekurs auf das eigene nationale Interesse und ein Kosten-Nutzen-Kalkül zur Legitimation der EU-Mitgliedschaft und einzelner Integrationsprojekte erheblich an Bedeutung gewonnen hat. So hob Bundeskanzler Schröder beispielsweise in seiner Regierungserklärung zum Krisengipfel des Europäischen Rates im Juni 2005 hervor, Deutschland habe "ökonomisch wie politisch" ein großes Interesse dran, dass Europa zusammengeführt werde. Deutschland habe "ökonomisch in ungeheurer Weise von einem gemeinsamen Markt profitiert", es bestehe aus "politischen Gründen das allergrößte Interesse" daran, "Europa durch Erweiterung und Integration zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen".

Es sind jedoch nicht nur rhetorische Figuren, die sich von ursprünglich historischen Begründungsmustern in Richtung pragmatisch-instrumenteller Erwägungen bewegt haben. Vielmehr hat sich in der Amtszeit der rot-grünen Regierung ein Trend zur Verfolgung auch kurzfristiger Interessen fortgesetzt. Diese Entwicklung ist vielfach als "Normalisierung" interpretiert worden, und in der Tat war es wohl vor allem die gelegentliche Abkehr der deutschen Regierungen von gewohnten Pfaden, die bei den Beobachtern Aufsehen erregt hat. Dennoch, der hartnäckige Kampf der Regierung Schröder gegen die Anwendung der Sanktionsregeln des Europäischen Stabilitätspaktes, der stetige Einsatz für eine Verringerung des deutschen Nettobeitrags zum EU-Haushalt oder auch die Durchsetzung von Übergangsfristen bei der Herstellung der Personenfreizügigkeit im Rahmen der Erweiterung - all das zeigt, dass die Unterstützung für die Integration nicht grundsätzlich abgenommen hat, aber konditionierter geworden ist.

Vor allem drei Faktoren haben zu dieser "Pragmatisierung" der deutschen Europapolitik beigetragen. Zum einen hat der Einfluss "innenpolitischer" Akteure auf die europapolitische Willensbildung deutlich zugenommen. Namentlich den Bundesländern ist es gelungen, ihre nach Maastricht gewonnenen Beteiligungsrechte in handfesten Einfluss auf die Festlegung deutscher Verhandlungspositionen umzumünzen. Die zunehmende Zurückhaltung gegenüber einer Ausweitung von europäischen Zuständigkeiten und die Forderung nach einer klaren Kompetenzabgrenzung ist von den Ländern erfolgreich auf die Agenda gesetzt worden. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang auch das Bundesverfassungsgericht, das in seiner Rechtsprechung zu den Grenzen der Integration den skeptischer gewordenen Ton der Debatte wesentlich mitgeprägt hat. Dass intensiver über Kosten und Nutzen von EU-Politiken diskutiert wird, hat zum Zweiten mit der ökonomischen Schwäche der Bundesrepublik zu tun. Denn offenkundig haben die anhaltenden finanzpolitischen Probleme das Interesse an einer Begrenzung ausgabenintensiver Programme ebenso genährt wie die Neigung, zur Verfolgung auch kurzfristiger ökonomischer Vorteile Konflikte mit den anderen Mitgliedstaaten oder mit der Kommission inKauf zu nehmen (z.B. Altautorichtlinie, Streit um Subventionen). Die EU wird offenbar immer stärker als eine Arena wahrgenommen, in der um wirtschaftliche Einflusspositionen hartnäckig gerungen wird.

Der seit den neunziger Jahren zunehmend pragmatische und das nationale Interesse betonende Grundzug der deutschen Europapolitik reflektiert zum Dritten die abgekühlte Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Integration. Während die vom "Eurobarometer" gemessenen Werte in den siebziger und achtziger Jahren durchweg über dem europäischen Durchschnitt lagen, ist die Unterstützung seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre darunter gesunken. So sahen im Mai/Juni 2005 zwar 50 Prozent der Deutschen eher Vorteile in der EU-Mitgliedschaft, aber immerhin 43 Prozent gaben an, dass diese eher Nachteile bringe. Bei konkreten Projekten ist die Skepsis noch deutlicher. Wie schon in den neunziger Jahren stößt auch gegenwärtig die Aufnahme neuer Mitglieder in Deutschland auf überdurchschnittliche Ablehnung. Nur 33 Prozent der Befragten stimmen einer "zusätzlichen Erweiterung" zu, "um neue Mitglieder aufzunehmen". Nur in Frankreich (32) und Österreich (31) finden sich niedrigere Werte.

Trotz der augenscheinlichen Skepsis in der Bevölkerung hat die rot-grüne Bundesregierung den Kurs ihrer Vorgänger fortgesetzt und die Erweiterung der EU mit Nachdruck vorangetrieben. Bei der Verhandlung der Beitrittsbedingungen war die Regierung Schröder/Fischer letztlich bereit, eigene Präferenzen in den parallel stattfindenden Verhandlungen über die Reform der ausgabenintensiven Politiken (Agenda 2000) gegenüber dem übergeordneten Ziel der Erweiterung zurückzustellen. Damit war der deutschen Position, die Erweiterung dürfe nicht zu einer Steigerung des deutschen Nettobeitrags zum EU-Haushalt führen, nur ein teilweiser Erfolg beschieden. Frankreich sowie die südeuropäischen Staaten wollten ebenso wenig auf ihre angestammten Mittel aus der Agrar- bzw. Strukturpolitik verzichten wie Großbritannien auf den Beitragsrabatt. Immerhin gelang eine Begrenzung der Agrarausgaben der Union sowie eine Trendumkehr bei den deutschen Nettobeiträgen.

Die neue Lage

An einem entscheidenden Punkt hat die deutsche Erweiterungspolitik ihre Ziele aber verfehlt. Seit den Anfängen der Erweiterungsdebatte hatten die Bundesregierungen die Position vertreten, die Aufnahme neuer Mitglieder müsse von einer Vertiefung der Integration begleitet werden, um einen Verlust an Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu vermeiden. Die Vertragskonferenzen von Amsterdam und Nizza waren ebenso wie die Agenda 2000 explizit mit der Zielsetzung verbunden worden, die institutionellen, politischen und finanziellen Voraussetzungen für die Erweiterung zu schaffen. Die Ergebnisse waren aber bescheiden. In den Schlüsselfragen lagen die integrationspolitischen Positionen der Regierungen zu weit auseinander, um zu einem Durchbruch zu kommen. So blieb die Reform des institutionellen Gefüges unzureichend, weil sich die systematische Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat nicht durchsetzen ließ. Ebenso blieben die Strukturfragen in wichtigen Politikfeldern (Agrar- und Regionalpolitik) unbearbeitet, um den Konsens während der Vertragsreformen und damit das Projekt der Erweiterung nicht zu gefährden. Nicht zuletzt gelang es nicht, eine überzeugende Antwort auf die Legitimations- und Akzeptanzprobleme des europäischen Projekts zu formulieren. Wesentliche Ursachen der gegenwärtigen Krise liegen mithin in den Versäumnissen der neunziger Jahre.

Die deutsche Europapolitik hat es nicht an Versuchen mangeln lassen, dem Verlust an Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU entgegenzuwirken. Obwohl sie selbst in einigen Politikfeldern (z.B. Asylpolitik) Reserven geltend machte und wenngleich ihre Position angesichts der durchschaubaren Verfolgung nationaler Interessen im Alltagsgeschäft nicht immer überzeugend war, haben sich deutsche Regierungen während der Konferenzen von Amsterdam und Nizza für eine Vertiefung der Union eingesetzt. Das gilt vor allem für den so genannten "Post-Nizza-Prozess", der auf deutsch-italienische Initiative von der Regierungskonferenz in Nizza beschlossen wurde, da diese nur zu allzu enttäuschenden Ergebnissen gekommen war.

Dass dieser Prozess in der Europäischen Verfassung mündete, ist wesentlich auf deutsche Initiative und namentlich auf Außenminister Fischer zurückzuführen. In seiner "Humboldt-Rede" vom Mai 2000 argumentierte er, dass die traditionelle Integrationsmethode in der erweiterten Union an Grenzen stoße. Deshalb sei es an der Zeit, die "Finalität" der Integration zu diskutieren. Er schlug eine "europäische Föderation der Nationalstaaten" vor, die sich in ihren institutionellen Strukturen an einem Zwei-Kammer-Parlamentarismus orientieren sollte. Über die wirtschaftspolitische Integration weit hinausgehend, sollte die Föderation sich insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik zu einem handlungsfähigen Akteur entwickeln. Den damit notwendigerweise verbundenen Willen zum qualitativen Integrationssprung traute er allerdings nur einer Gruppe von Staaten um Deutschland und Frankreich zu. Die Idee eines "Gravitationszentrums" lässt mithin erkennen, dass die deutsche Antwort auf die Reformdefizite der neunziger Jahre in der Flexibilisierung der Integration bestehen sollte.

Das Ergebnis des Verfassungsprozesses entspricht den ambitionierten Zielen nur in Ansätzen. Denn wenngleich der Europäische Konvent und die anschließende Regierungskonferenz in wichtigen institutionellen Fragen (EU-Außenminister, Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, weitgehende Parlamentarisierung) zu bemerkenswerten Fortschritten gekommen waren, blieb in Schlüsselfeldern (Steuern, Soziales, Außenpolitik) die Einstimmigkeit obligatorisch. Die Auseinandersetzung über das Stimmgewicht der Regierungen zwischen Spanien und Polen einerseits sowie Deutschland und Frankreich andererseits während des schließlich gescheiterten Brüsseler Gipfels im Dezember 2003 symbolisierten zudem, dass die Positionen der Regierungen in sehr grundlegenden europapolitischen Fragen weit auseinander liegen. Im Juni 2004 konnte der Vertrag über die Verfassung dann zwar unterzeichnet werden, angesichts der Ablehnung seiner Ratifikation in Frankreich und den Niederlanden kann derzeit aber nicht abgesehen werden, ob die im Ergebnis nützlichen Reformansätze überhaupt in Kraft treten werden.

Pointiert könnte man sagen: Die Bundesregierung hat nach den wenig befriedigenden Reformergebnissen der neunziger Jahre im Verfassungsprozess die Vertiefungsbereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten und ihrer Gesellschaften auf die Probe gestellt - und eine deutliche Antwort bekommen. Nun könnte geargwöhnt werden, dass in einer Union, in der die Mitgliedsstaaten die Spielregeln von Integration und Kooperation gleichberechtigt bestimmen, die Erwartung eines qualitativen Sprungs von vornherein eine "Illusion" war. Doch könnte die deutsche Initiative in historischer Perspektive - bei allen Widersprüchen im Kleinen - als ein letzter Versuch interpretiert werden, die Versäumnisse der neunziger Jahre in einem gemeinsamen Kraftakt auszuräumen und die ungeklärten konzeptionellen Fragen über die Finalität der Integration anzugehen. Soweit wir heute erkennen können, ist dieser Versuch gescheitert.

Perspektivenwechsel

Die deutsche Europapolitik muss deshalb von veränderten Rahmenbedingungen ausgehen. Die Aussicht, in einer auf 25 und mehr Mitgliedsstaaten angewachsenen EU zu kohärenten und gemeinschaftlichen Politikansätzen zu kommen, ist geringer geworden. Den regelmäßigen Beschwörungen eines handlungs- und entscheidungsfähigen Akteurs EU stehen die Heterogenität nationaler Interessenlagen sowie die Vielfalt ideologischer und integrationspolitischer Grundsatzpositionen gegenüber. Am offenkundigsten ist das in jenen Feldern, in denen die Regierungen ihr nationales Veto selbst in der Europäischen Verfassung noch einmal festgezurrt haben, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Aber auch in zentralen Feldern der Sozial- oder der Steuerpolitik, denen für die vielfach deklarierte "gemeinsame Antwort auf die Globalisierung" eine besondere Bedeutung zukommt, wird es bei der Einstimmigkeit bleiben, falls überhaupt eine EU-Zuständigkeit gegeben ist.

Nun wäre es falsch, die neue Lage zu dramatisieren. Nach wie vor handelt es sich bei der EU um die am stärksten institutionalisierte Form von Integration und Kooperation im globalen Maßstab. Zudem war die Union seit ihren Anfängen von widersprüchlichen Interessen und abweichenden Leitbildern über die Perspektiven der europäischen Einigung geprägt. Umso deutlicher stechen demgegenüber die Fortschritte ins Auge, die bei allen Schwierigkeiten erreicht worden sind - vor allem mit (und seit) der Schaffung des Binnenmarktes. Nicht zuletzt ist richtig, dass die Erweiterung ein politisch notwendiger Schritt war, um die Teilung Europas zu überwinden. Dennoch ist zum einen unverkennbar, dass die europäische Integration in den vergangenen 15 Jahren ihren Charakter verändert hat. Denn die Einbußen an Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der EU, die mit der Zunahme von Heterogenität verbunden sind, konnten nur unzureichend durch institutionelle und politische Reformen aufgefangen werden. Zum anderen liegt, damit zusammenhängend, der Schluss nahe, dass die "große Erzählung" der Integration - immer größer, immer enger - einstweilen an ihr Ende gelangt ist.

Die rot-grüne Bundesregierung hat begonnen, aus dieser neuen Lage politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Von einem kohärenten europapolitischen Programm kann jedoch bislang nicht gesprochen werden, wohl auch deshalb, weil die Aufmerksamkeit sich in denvergangenen anderthalb Jahren ganz auf die Verabschiedung und die Ratifikation derEuropäischen Verfassung konzentrieren musste. Geht man über das tagesaktuelle Geschehen hinaus, dann sind gleichwohl erste Konturen des Wandels erkennbar:

Erstens ist die traditionelle Orientierung an einem "immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker" in der Konzeption der rot-grünen Bundesregierung in den Hintergrund geraten, weil eine substanzielle Vertiefung nicht mehr erreichbar erscheint. Am eindeutigsten hat sich in dieser Hinsicht Außenminister Fischer geäußert, dessen Initiative maßgeblich zum Entstehen des Verfassungsprozesses beigetragen hatte. Mit der Europäischen Verfassung sieht Fischer die Frage der Finalität Europas nunmehr als geklärt an: "Der Europäische Konvent hat eine Verfassung erarbeitet, die für unsere Generation und darüber hinaus ein Optimum dessen ist, was man an Integration erreichen kann, die auch dynamisch genug ist, aus sich heraus wachsenden Ansprüchen gerecht zu werden." Einzelne Verbesserungen der vertraglichen und institutionellen Grundlagen sind also nicht ausgeschlossen, in der Substanz scheinen die Grenzen der Integration aber erreicht. Zugespitzt formuliert heißt dies: Die Zielperspektive der Europapolitik hat sich innerhalb von vier Jahren auf das in Regierungsverhandlungen aktuell Durchsetzbare reduziert.

Zweitens - und hier gelingt der Anschluss an die allgemeine Debatte über den Wandel in der deutschen Außenpolitik - verändert sich die Wahrnehmung der deutschen Position innerhalb des Integrationsverbundes. Denn wenn die Perspektiven eines gemeinsamen Projektes verschwimmen, dann nimmt die Verlockung zu, innerhalb und durch die EU eigene nationale Interessen in den Vordergrund zu stellen. Kein Zweifel: Die institutionelle und politische Einbindung in die EU-Strukturen wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Aber der seit den neunziger Jahren - aus oben genannten Gründen - festzustellende Trend zu einer pragmatisch- instrumentell geprägten Europapolitik wird noch verstärkt. Am deutlichsten wird das im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, in denen die Regierung die Positionen Deutschlands als einer "angesehenen Friedensmacht" mit einem neuen Selbstbewusstsein vertritt. Es ist kein Zufall, dass die Bundesregierung ihre Forderung nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu einem Zeitpunkt wieder auf die internationale Agenda gesetzt hat, in dem die Perspektive eines handlungsfähigen sicherheitspolitischen Akteurs EU verblasst ist.

Drittens wird der primäre Integrationszweck neuerdings in geostrategischen Kategorien umschrieben. Ohne Zweifel: Die strategische Dimension hatte immer eine zentrale Bedeutung, etwa in der Blockkonfrontation des Ost-West-Konflikts oder mit Blick auf die Kontrolle Deutschlands. Neu ist jedoch die Rollenzuschreibung der EU als "Ordnungsmagneten", gegenüber der andere Funktionen dezidiert zurückstehen. Die Aufgabe der EU ist es danach, durch gezielte politische Angebote einen Rückfall in autoritäre Strukturen und ruinöse Staatenkonkurrenz an den Rändern der EU zu verhindern. Die EU-Mitgliedschaft bzw. die Beitrittsperspektive wird damit zu einem Instrument präventiver Sicherheitspolitik. In keinem Fall ist das so offensichtlich wie bei der Begründung der rot-grünen Bundesregierung für die EU-Aufnahme der Türkei. Der Modernisierung der Türkei kommt demnach eine strategische Bedeutung für das Verhältnis zwischen Europa und Orient zu, denn eine "europäische Türkei" sei "für den Kampf gegen den internationalen Terror unverzichtbar". Die Ordnungsleistung der EU auf dem europäischen Kontinent erfolgt folglich bereits in globaler Perspektive. Ihre strategische Rolle soll jedoch darüber hinausgehen. In einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft soll die EU einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des internationalen Systems leisten. Dabei geht es zum einen um die Stärkung der UNO und des Völkerrechts, aber zum anderen auch um die Entwicklung militärischer Fähigkeiten, die den globalen Anspruch untermauern, wenn die präferierten zivilen Instrumente nicht ausreichen. In diesem Punkt hat sich einiges bewegt: Während sich die deutschen Regierungen in der Ausgestaltung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zunächst zurückgehalten hatten, hat die rot-grüne Regierung die Profilierung der ESVP wesentlich mit vorangetrieben.

Der hier skizzierte Perspektivenwechsel geht von der Annahme aus, die Finalität der europäischen Integration sei erreicht. Bei Lichte gesehen können aber nicht einmal die keineswegs revolutionären Ergebnisse der Verfassung als gesichert angesehen werden. Vielmehr muss die deutsche Europapolitik nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden von "Nizza als Dauerzustand" ausgehen. Außenminister Fischer hatte vor der jüngsten Krise die Ansicht vertreten, die erweiterte Union werde ohne die institutionellen und politischen Spielregeln der Verfassung "nicht wirklich funktionieren". Diese Einschätzung ist zutreffend, umso wichtiger sind konzeptionelle Beiträge zur Frage, wie die EU aus der gegenwärtigen Krise heraus und zur Handlungsfähigkeit zurückfinden kann. Der untergründig sich vollziehende Perspektivenwechsel und die geostrategische Neuausrichtung bergen in diesem Umfeld die Gefahr einer nur schwer kontrollierbaren Eigendynamik. Denn es wird vernachlässigt, dass zwischen einer angestrebten geostrategischen Rolle der EU und dem Integrationsniveau eine Wechselwirkung besteht. Eine stabilisierende Wirkung nach außen bedarf eines hohen Maßes an innerer Stabilität. Will man nicht die Erosion der EU in Richtung einer Wirtschaftsunion mit gelegentlicher außenpolitischer Konferenzdiplomatie in Kauf nehmen, bedarf es deshalb einer politischen Unterfütterung für die Übernahme internationaler Verantwortung.

Ob sich der Perspektivenwechsel in einer neuen deutschen Europapolitik niederschlagen wird, ist noch nicht ausgemacht. Offenkundig ist aber, dass traditionelle Positionen nicht mehr uneingeschränkt gelten und stattdessen konzeptionelle Suchbewegungen das europapolitische Terrain in Deutschland bestimmen. Damit mag auch zusammenhängen,dass die Bundesregierung zur gegenwärtigen Verfassungskrise bislang wenig Richtungweisendes beizutragen hatte. Ein Regierungswechsel würde voraussichtlich zu anderen Akzenten in der Europapolitik führen. So hat Wolfgang Schäuble, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, beispielsweise betont, er möchte "im Gegensatz zur Bundesregierung (...) an der Weiterentwicklung der EU zu einer starken Politischen Union auch unter den Bedingungen der Globalisierung festhalten". In diesem Kontext ist von einer deutlich skeptischeren Politik gegenüber dem Beitrittswunsch der Türkei auszugehen. Andererseits hat die Kanzlerkandidatin Angela Merkel signalisiert, dass auch ihr das deutsche Hemd näher ist als der europäische Rock. Insofern spricht einiges dafür, dass auch nach einem Regierungswechsel die EU mehr und mehr als eine Arena zur Verfolgung nationaler Interessen wahrgenommen wird, wenn auch mit anderen politischen Schwerpunkten. Über den Wandel der deutschen Außenpolitik wird man - aller Kontinuitätsrhetorik zum Trotz - bei einem Blick auf die Europapolitik viel lernen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945 - 2000, München 2001.

  2. Vgl. Sebastian Harnisch/Hanns W. Maull (Hrsg.), Germany as a Civilian Power? The Foreign Policy of the Berlin Republic, Manchester 2001; Volker Rittberger (Hrsg.), German foreign policy since unification. Theories and case studies, Manchester 2001.

  3. Vgl. beispielsweise mit unterschiedlichen Einschätzungen Thomas Risse, Kontinuität durch Wandel: Eine "neue" deutsche Außenpolitik?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 54 (2004) 11, S. 24 - 31, oder Wilfried von Bredow, Neue Erfahrungen, neue Maßstäbe. Gestalt und Gestaltungskraft deutscher Außenpolitik, in: Internationale Politik, 58 (2003) 9, S. 1 - 11.

  4. Vgl. etwa einerseits Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 2004(2), andererseits Gunther Hellmann, Wider die machtpolitische Resozialisierung der deutschen Außenpolitik. Ein Plädoyer für offensiven Idealismus, in: WeltTrends, 12 (2004) 42, S. 79 - 88.

  5. Vgl. Heinrich Schneider/Mathias Jopp/Uwe Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen - Problemfelder - Optionen, Bonn 2001.

  6. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Die Europapolitik des vereinten Deutschland, in: Politische Bildung, 36 (2003) 3, S. 31.

  7. T. Risse (Anm. 3), S. 26.

  8. Eine besonders prägnante Argumentation bei Gregor Schöllgen, Die Zukunft der deutschen Außenpolitik liegt in Europa, in: APuZ, 54 (2004) 11, S. 9 - 16.

  9. Joschka Fischer, Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens, Köln 2005, S. 196.

  10. Vgl. zum Folgenden H. Schneider u.a. (Anm. 5); Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Opladen 2002.

  11. Eckart Gaddum, Die deutsche Europapolitik in den 80er Jahren. Interessen, Konflikte und Entscheidungen der Regierung Kohl, Paderborn u.a. 1994, S. 363.

  12. Vgl. Charlie Jeffery/William E. Paterson, Germany and European Integration: A Shifting of Tectonic Plates, in: West European Politics, 26 (2003) 4, S. 68 - 70.

  13. So Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung vom 16. Juni 2005 zum Europäischen Rat.

  14. Vgl. Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder, Germany's New European Policy: Weaker, Leaner, Meaner, in: Hanns W. Maull (Hrsg.), German Foreign Policy in the 1990s and Beyond, New York 2005 (i.E.).

  15. Vgl. Martin Große Hüttmann, Wie europafähig istder deutsche Föderalismus?, in: APuZ, 55 (2005) 13 - 14, S. 27 - 32.

  16. Vgl. Karl-Rudolf Korte/Andreas Maurer, Innenpolitische Grundlagen der deutschen Europapolitik: Konturen der Kontinuität und des Wandels, in: H.Schneider u.a. (Anm. 5), S. 195 - 230.

  17. Lediglich in Finnland, Österreich, Zypern, Großbritannien und Schweden sind niedrigere "Vorteile"-Werte gemessen worden, vgl. Europäische Kommission, Eurobarometer 63. Erste Ergebnisse, Brüssel 2005, S. 13.

  18. Vgl. ebd., S. 27.

  19. Vgl. Henning Tewes, Rot-Grün und die Erweiterung der Europäischen Union, in: Hanns W. Maull (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998 - 2003, Baden-Baden 2004, S. 79 - 90.

  20. Vgl. Joschka Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Frankfurt/M. 2000.

  21. Vgl. Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Verfassung in der Analyse, Gütersloh 2005.

  22. So Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompass, in: Internationale Politik, 60 (2005) 1, S. 46 - 53.

  23. Joschka Fischer, Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 6.3. 2004 ("Die Rekonstruktion des Westens").

  24. So die Formel von Bundeskanzler Schröder in seiner Erklärung zur Vertrauensfrage am 1.7. 2005.

  25. So Außenminister Josef Fischer im Interview mit der "Bild"-Zeitung vom 2.12. 2004.

  26. J. Fischer (Anm. 9), S. 179.

  27. Vgl. Johannes Varwick, Flexibilisierung oder Zerfall - Hat die Europäische Union Bestand?, in: ders./Wilhelm Knelangen (Hrsg.), Neues Europa - alte EU? Fragen an den europäischen Integrationsprozess, Opladen 2004, S. 59 - 77.

  28. Wolfgang Schäuble, Die europäische Integration voranbringen, in: FAZ vom 28.1. 2005.

  29. Vgl. Karl Feldmeyer, Die neue Sprache Angela Merkels, in: FAZ vom 22.11. 2004.

Dr. rer. pol., geb. 1971; wiss. Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel, Westring 400, 24098 Kiel.
E-Mail: E-Mail Link: wknelangen@politik.uni-kiel.de